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Sauerteig oder Sekte?

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Die indischen Christen begingen im vergangenen Jahr den 1900. Todestag des Apostels Thomas, der nach der Überlieferung im Jahre 72 nach Christus in Indien den Märtyrertod erlitten hat. Aus diesem Anlaß versucht der Jesuitenpater Samuel Rayan, Theologieprofessor und Studentenseelsorger in Kerala, eine Bilanz der 1900jährigen Geschichte der Kirche Indiens zu ziehen.

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Die indischen Christen begingen im vergangenen Jahr den 1900. Todestag des Apostels Thomas, der nach der Überlieferung im Jahre 72 nach Christus in Indien den Märtyrertod erlitten hat. Aus diesem Anlaß versucht der Jesuitenpater Samuel Rayan, Theologieprofessor und Studentenseelsorger in Kerala, eine Bilanz der 1900jährigen Geschichte der Kirche Indiens zu ziehen.

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Die indische Kirche zählt rund 7 Milionen Katholiken in mehr als 70 Bistümern. Sie hat zahlreiche Bildungsanstalten, von der Volksschule bis zum Universitätskolleg. Sie unterhält große und erstklassige Krankenhäuser, eine medizinische Hochschule und zahlreiche kleine Krankenbehandlungsstellen, die sich über das ganze Land verteilen. Diese Dienste im Erziehungs- und Gesundheitswesen gehören zu den besten in Indien. Dies wird allgemein anerkannt, auch von der Regierung. Ihr Einfluß erstreckt sich nicht nur auf den sozialen Bereich. Sie vermitteln auch noch kirchliche Dienste im karitativen Bereich und ein immer stärker werdendes Engagement im Dienst der nationalen Entwicklung. Weiter stehen auf der Aktivseite der indischen Kirche 14 Theologenkonvikte und Priesterseminare. Kirchliche Berufe sind zahlreich. Die Priester und Priesterkandidaten kommen aus Chontanagpur, Goa, Mangalore, Tamilnadu und besonders aus Kerala. Die Missionen sind überall aktiv, vor allem im Nordindien, wo nur wenige Katholiken leben. Es gibt immer wieder Konversionen zum Christentum. Sie sind allerdings nicht mehr so zahlreich und erregen nicht mehr solches Aufsehen wie im vergangenen Jahrhundert in Chontanagpur. Die Kirche ist eine anerkannte Realität in Indien mit mehr Engagement, Institutionen und Einfluß als die verhältnismäßig kleine Zahl ihrer Glieder vermuten ließe. Besonders hervorzuheben ist der subtile Einfluß Christi und seiner Ideen, die unmerklich die Atmosphäre des Lebens in Indien durchdrungen haben.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wenn man sich damit begnügen würde, gäbe man ein zu rosiges und damit falsches Bild. So ist der eben erwähnte Einfluß Christi hauptsächlich auf die Verbreitung westlicher Ideen durch eine westlich geprägte Erziehung und auf die weite Verbreitung des Evangeliums in den Volkssprachen durch die protestantischen Missionen zurückzuführen. Das Bibelapostolat der katholischen Kirche ist heute noch sporadisch und schwach. Ähnlich steht es mit dem Interesse der Kirche an christlicher Literatur. Die

Bedeutung von Ideen, die das Evangelium für das intellektuelle Leben des Menschen fruchtbar machen, muß die katholische Kirche in Indien erst begreifen lernen. Ihr überwiegendes Interesse galt bisher der konventionellen Frömmigkeit und den klassischen Institutionen. Das ist einer der Gründe, warum aus der indischen Kirche bisher kein nennenswerter Beitrag zur christlichen Theologie gekommen ist, obwohl man eigentlich bei der eindrucksvollen theologischen Gedankenarbeit Hindu-Indiens etwas anderes erwarten müßte.

Eine andere Tatsache ist das Unvermögen der Kirche, eine spürbare Kraft im Strom des nationalen Lebens zu werden. Irgendwie ist sie eine Randerscheinung geblieben. Die Katholiken machen nur eineinhalb Prozent der Bevölkerung aus, trotz der 100jährigen Präsenz der Kirche in Indien, trotz der vielen

Institutionen und der langen theologischen Ausbildung der Priester und Missionare. Die Kirche war nicht in der Lage, die gebildeten, wirtschaftlich und gesellschaftlich unabhängigeren Volkschichten anzuziehen, nicht einmal diejenigen, die aufrichtig nach der Wahrheit suchten. Es gibt noch keine -stichhaltige Analyse der Gründe für diesen Zustand. Man hat oft hingewiesen auf die starke Bindung des einzelnen durch Kaste und religiöse Gemeinschaft; auf die Verflechtung der christlichen Religion mit dem europäischen Kolonialismus; auf die Spaltung in der Kirche und zwischen den Kirchen; auf den ausländischen Charakter der Theologie, der Liturgie, der Riten und kirchlichen Strukturen und schließlich auf die Tiefe und den umfassenden Charakter der religiösen Erfahrung der Hindus.

Es gibt militante und politisch organisierte Gruppen, die in der christlichen Kirche einen Feind nationaler Traditionen und eine Gefahr für die nationale Einheit sehen. Sie haben erlebt, wie der Islam zur Teilung Indiens geführt hat, und stehen deshalb der Ausbreitung einer anderen semitischen Religion mißtrauisch gegen-

über. Ein weiterer Kreis von Indern hat noch gut im Gedächtnis, daß die Christen in der Kolonialzeit eine sehr privilegierte Gruppe waren, daß sie sich eng an ausländische Mächte anlehnten und wie schwer sie sich mit der Unabhängigkeitsbewegung taten. Ein unterschwelliges Ressentiment kommt auch daher, daß in vielen Gebieten die Mehrheit der Inder hinsichtlich Erziehung und medizinischer Versorgung von einer verschwindend kleinen christlichen Minderheit abhängt, weil diese Minderheit unerschöpfliche finanzielle und personelle Mittel aus dem Ausland zur Verfügung hat. Alles Faktoren, die der Kirche die Massen in dem Ausmaß entfremden, in dem der Sozialismus an Boden gewinnt.

Die Kirche hat zwar grundsätzlich die Würde und die Rechte des Menschen verkündet, sie hat eine moderne Erziehung ins Land gebracht und dadurch in der Jugend den kritisch forschenden Sinn ge- . weckt, aber sie ist alarmiert und unvorbereitet, wenn dieser kritische Sinn sich auf überlieferte religiöse Forderungen, Formulierungen,

Praktiken und Strukturen richtet. Es wird immer klarer, daß die Zukunft der Kirche in Indien fast ganz auf dem Gebiet des Dialogs liegt. Hierbei sind nicht in erster Linie organisierte Gespräche zwischen Menschen verschiedenen Glaubens gemeint, sondern ein neuer Lebensstil, der die ganze Kirche und alle ihre Glieder angeht.

Die Kirche muß aufhören, wie eine Kaste oder Sekte neben dem Strom des indischen Lebens zu existieren. Sie muß in diesen Strom eintauchen. Sie muß die Zusammenarbeit mit den Menschen aller Religionen und Weltanschauungen suchen. Sie muß sich befreien von so manchem engen und isolierten Programm und in gemeinsamen Unternehmungen und Organisationen mit dem Staat und anderen gesellschaftlichen Gruppen für die Entwicklung des Landes und die volle Befreiung des Menschen wirken. Nur so ist es möglich, eine neue Ordnung zu erreichen, die der Würde des Menschen entspricht und auf das Reich Gottes hinweist.

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