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Der „Industriekaplan — ein idealistischer Traum?

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Ist es das Beispiel, das Frankreich durch jene Priester gibt, die zu Arbeitern werden, um unter Arbeitern ein priesterlidies Missionswerk zu vollziehen, oder sind es die ähnlichen sozialen Umstände und die drängende seelische Not arbeitender Mensdien, die in den Vereinigten Staaten aus sich heraus die Idee des „Industriekaplans“ geboren haben? In vielen amerikanischen Blättern ist der Plan besprochen worden, zustimmend, skeptisch zweifelnd, nicht, immer riditig verstanden. Selbstverständlich sind die äußeren Gegebenheiten hier, wenn auch in tiefster Wesenheit verwandt und in gleicher Weise entsprungen der Natur des modernen In-dustrialismus, gegenüber jenen in Frankreich versdiieden. Man ziehe in Rücksicht, daß dort die Bevölkerung der Nation und dem konfessionellen Herkommen nach ein einheitliches Bild weist, während in Nordamerika zu der häufigen nationalen Verschiedenheit auch noch die Buntheit der Bekenntnisse tritt und aus der Belegschaft eines Industriebetriebes, psychologisch gesehen, ein Konglomerat verschiedenster Individualitäten mrdvt.

Als ich von der „Furche“ den Auftrag erhielt, dem merikanisdien Konzept des Industriekaplans nachzugehen, machte ich mich zunächst mit dem Inhalt einiger einschlägiger Publikationen vertraut, so auch mit den Schriften Elton Mayos, des Professors für Industrial Research an der Harvard - Universität in Boston. Sollte Mayos Buch „The Social Problems of an Industrial Civilization“ noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sein, so wäre die Übertragung dieser ausgezeichneten Arbeit ein verdienstvolles Werk. Dann aber lag mir daran, mit dem. ersten Verfechter der Idee des „Industriekaplans“, dem gewesenen Kaplan der amerikanischen Flotte, Reverend Francis B. Sayre, persönlich ins Gespräch zu kommen. Da saß ich denn eines Tages dem freundlichen Manne, der an der St.-Pauls-Kirdie in Cleveland wirkt, gegenüber und verspürte aus dem Gedankenaustausch die wohltuende Atmosphäre der Reife und Ruhe, die von seiner Persönlichkeit ausgeht. Reverend Sayre ist der Enkelsahn eines anderen großen amerikanisdien Idealisten, des Präsidenten Woodrow Wilson. Sein Vater war High Commissioner of the United States auf den Philippinen und nach dem Kriege politischer Ratgeber des Direktors der UNNRA, die sich um die Wohlfahrt der europäischen Menschen so sehr verdient gemacht hat. Reverend Sayre hat sehr viel „Irdisches“ an sich, wenn ich seine Art zu sprechen so nennen darf, und man hat sofort das Gefühl, daß er es versteht, rasch m seinem Gegenüber Fühlung zu gewinnen.

Um die Situation, mit der die Seelsorge in Amerika zu rechnen hat, ganz zu verstehen, muß man sich erinnern, daß es an den amerikanischen öffentlichen Schulen keiarsn Religionsunterricht gibt. Eltern, .welche ihre Kinder im Worte Gottes unterrichtet wissen wollen, müssen sie zur Sonn-t,agsschule bringen Diese Sonntagsschule wird in den Kirchen und Synagogen abgehalten. Viele Eltern bringen ihr Kind zu jener Sonntagsschule, die von der „Kongregation“, ihrer Pfarrgemeinde, veranstaltet wird, deren zahlendes Mitglied sie sind. Andere Eltern tun es nicht. Es gibt keine offizielle Statistik, die Aufschluß gäbe, wie viele Kinder zur Sonntagsschule gehen. Systematischer sorgen für die religiöse Erziehung die Privatschulen; die amerikanischen Katholiken haben mit beispielloser Opferwiiligkeit sich ein über den ganzen Staat gebreitetes Netz vorzüglicher Privatschulen aller Grade geschaffen. Dank der Eigenleistung der verschiedenen religiösen Gemeinschaften für ihr Schulwesen üben Religion und Kirche einen gewichtigen Einfluß im öffentlidien Leben des Landes aus. Ich bin hier noch keinem Atheisten begegnet, der sich als solcher offen bekannt hätte. Ich habe auch noch keine Zeitsdirift oder andere Druckschrift zu Gesicht bekommen, noch hat mir jemand den Titel einer soldien nennen können, die den Atheismus propagiert, obwohl dies im Sinne der demokratischen Grundsätze nicht verboten wäre. In. der. langen Vereinsliste einer großen Arbeiterstadt habe ich vergeblich nach Namen: und Adresse eines Freidenkervereines gesucht. Es scheint keine organisierte Antireligionsbewegung in diesem Lande zu geben. Aber es scheint eine große, wenn auch unorganisierte Gesellschaft der Interesselosen, der Apathiker, der Indifferenten zu geben, die keine Kirche bisher noch wadizurüttdln vermochte, und deren Zahl ist nicht klein. Die Anzahl der Gotteshäuser betrug im Jahre 1945 im ganzen Lande 254.000. Ich weiß nicht,' ob in dieser Ziffer auch die Unzahl von Geschäftslokalen inbegriffen ist, die überall von gewissen Sekten zu ihren Veranstaltungen gemietet sind. Von der Gesamtbevölkerung von rund 140 Millionen sind 60 Millionen Mitglieder irgendeiner Kirchen-gemeinde. Hievon entfallen auf die katholische Kirche 24,4 Millionen, auf die jüdischen Gemeinden 4,7 Millionen und der Rest von rund 31 Millionen auf die vielen protestantischen Gruppen. Rund 80 Millionen gehören aber keiner

Kirchengemeinde an. Es wird angenommen, daß sie keine Kirche besuchen und wahrscheinlich auch nicht ihre Kinder in einen Religionsunterricht senden. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie Religionsgegner sind. Sie gehören nur' zur leider großen Masse der Indifferenten. Reverend Sayre nimmt an, daß sich diese große Masse stark aus den Kreisen der Arbeiterschaft rekrutiert und er ist entschlossen — gleichsam als Missionar — in dieses Gebiet vo»udringen. Er bezeichnet die Tatsache der Existenz dieser großen Zahl Uninteressierter als einen „Mißerfolg“ der Kirchen in ihrem Bestreben, die ameri-kanisdie Jugend über die Wahrheiten des Christentums zu unterrichten. Er erzählte mir, daß er sich, als er noch Kaplan in der amerikanischen Flotte war, die Frage gestellt hat, wie groß der Prozentsatz innerhalb seiner Mannschaft ist, der irgendeine Kenntnis von den Grundlagen der christlichen Lehre hat, wie viele über den Sinn des Gebetes oder eines öffentlichen Gottesdienstes Bescheid wissen. „Ich unternahm eine gründlidie Befragung der gesamten Schiffsmannschaften und ihr Ergebnis bestätigte nur meine Befürchtung, daß unsere Kirdien in ihrem Bestreben, die einfachsten Grundlagen unseres Glaubens dieser Generation zu vermitteln, nahezu völlig versagt haben. Obwohl 90 Prozent der Mannschaft einmal irgendeiner Art organisierter christlicher Erziehung unterzogen worden waren, hatten sie nur 10 Prozent wirklich in sich aufgenommen. Und wo das Wissen gering war“, so fuhr der Reverend fort, „da war seine praktische Auswirkung noch geringer. Seihst wenn ein junger Mensch eine gewisse Idee von der Bedeutung seiner Religion hat, so gibt er ihr dennoch wenig Gelegenheiten, an seinem täglichen Leben teilzunehmen. Dringt die diristliche Religion nicht mehr in die Gehirne und in das Leben der großen Majorität unserer Nation ein? Zweifellos haben sidi große Teile der arbeitenden Bevölkerung vom Einfluß der Kirche und der diristlichen Lehre völlig getrennt. Eine Ursadle ist,“ daß die Kirdie, wie sie gegenwärtig organisiert ist, nur geringe Möglichkeiten hat, die praktisdien Probleme, denen der Gesdiäftsmann und der Arbeiter gegenüberstehen, aus erster Hand, nämlich am Arbeitsplatz selbst, kennenzulernen. Es ist notwendig, daß sich die Kirche nicht nur den Sitten, Ideen und dem Inhalt der Freizeit des Menschen anpaßt, sondern auch Kenntnis nimmt von den Problemen, die im Kämpf um» das tägliche Brot entstehen. Zur Verwirklichung dessen muß die Kirche ein gründlicheres Verständnis für die gegenwärtigen industriellen Probleme in der Weise erwerben, daß sie sich zu jener Stelle begibt, wo diese Probleme entstehen. W i r können es uns nicht erlauben, zu warten, bis sich die Massen vor unseren Kirchentüren drängen; wir müssen zu ihnen gehen — als moderne Missionare!“

Hier begegnen sich deutlich Motive und Schlußfolgerungen des- Amerikaners mit jenen der tapferen Pioniere der „Mission de France“. Aber wie paßt sich der amerikanische Plan den besonderen Voraussetzungen amerikanisdier Tatsachen, Sitten und Ansdiauungcn an? Das Thema dürfte audi außerhalb der Vereinigten Staaten Interesse haben, denn auch seine Probleme sind überall Ichrrcidi. Der Verfasser wird in einer zweiten Arbeit diesen Fragen zu ent-spredicn sudien.

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