6592835-1952_37_18.jpg
Digital In Arbeit

Newman und 1952

Werbung
Werbung
Werbung

Vor hundert Jahren, in der zweiten Juliwoche des Jahres 1852, hielt John Henry Newman vor der Synode der neuerrichteten englischen Hierarchie seine berühmte Predigt, die unter dem Titel „Der zweite Frühling" einen Meilenstein in der Geschichte des englischen Katholizismus darstellt. Die katholische Kirche in England war zu neuem Leben erwacht. Die Tage der Verfolgung waren vorüber, die Hierarchie war neuerstanden; berühmte Konvertiten hatten den Weg zur Kirche gefunden. Das Ende der englischen Reformation schien in Sicht. Nach hundert Jahren des Winters, in denen die Kirche ihre Bischöfe und Freiheit verloren hatte, in denen dje verbliebene kleine Schar der Gläubigen nur im geheimen und in Furcht die Messe feiern konnten, „abgeschnitten von der umliegenden Welt" — nach diesen hundert Jahren war die Kirche, von der einst die Christianisierung Nordeuropas ausgegangen war, und die in England mit ihren großen Heiligen und Märtyrern ein herrliches katholisches Erbgut hinterlassen hatte, in ihren zweiten Frühling eingetreten.

Newman hatte selbst die Lage der englischen Katholiken von außen mitangesehen. Zutiefst empfand er die Kluft zwischen seiner eigenen Zeit in Oxford, als er die wenigen Oxforder Bürger in die unscheinbare, kleine Klementiner- Kapelle zur Messe gehen sah (Mitgliedern der Universität war der Eintritt verboten) und jener Vergangenheit, in der die einst mächtige Kirche Gründerin dieser selben Universität gewesen war. Und wie anders ist das Bild heute, da dieser zweite Frühling in voller Schönheit sich entfaltet hat. Oscott, der Schauplatz der ersten Synode der neuen Hierarchie, damals ein Knabenintemat mit einigen wenigen Priestern, ist heute ein großes Priesterseminar. In seinem geliebten Oxford würde Newman sechshundert oder siebenhundert katholische Studenten sehen. Die Zahl der Katholiken in England ist von etwa 600.000 zu Newmans Zeiten auf fast vier Millionen angewachsen. Und die damals verachtete kleine Schar ist heute eine der drei großen Religionsgemeinschaften Englands geworden und steht in vorderster Reihe in der Verteidigung christlicher Prinzi

pien, des Familienlebens, der Ehe und Erziehung. Als Staatsbürger genießen die englischen Katholiken, gestern noch als Landesverräter und Fünfte Kolonne der päpstlichen Macht angesehen, heute vollste Gleichberechtigung mit ihren andersgläubigen Landsleuten. Zwei Ämter allein bleiben ihnen durch die Verfassung unzugänglich: Da oberster Statthalter der anglikanischen Kirche der König ist, bleibt die Königskrone einem Katholiken versagt, so auch das Amt des Lordkanzlers, des „Bewahrers des königlichen Gewissens“. Der Throneid, den Königin Elisabeth II. im nächsten Jahre ablegen wird, enthält nicht mehr die seit 1688 gebräuchliche Formel, nach der jeder Herrscher Transsubstan- tiation, Marienverehrung und Meßopfer abzuschwören verpflichtet war.

Die mächtige Entfaltung des englischen Katholizismus, besonders in den letzten 50 Jahren, hat dazu beigetragen, die in England tief verwurzelten Vorurteile gegen die Kirche zu mindern. Noch in den Vorkriegsjahren wäre es etwa unvorstellbar gewesen, daß große Sonntagszeitungen wie der „Sunday Graphic" und der „Sunday Dispatch" mit Sonderausgaben herauskommen konnten, wie dies kürzlich anläßlich des großen Rosenkranzkreuzzuges geschah. Die Anzahl der jährlichen Konversionen ist groß, besonders jener, die aus der Indifferenz und dem Neuheidentum kommen. Das Werk Graham Greenes und Evelyn Waughs hat hier wegbereitend gewirkt.

Der Exodus aus der Enge des Ghettodaseins, zu dem die englischen Katholiken seit der Reformationszeit gezwungen waren, und das sie gänzlich vom Leben der übrigen Nation abschnitt, macht sich auf vielen Gebieten bemerkbar, nicht zuletzt in der Haltung nichtkatholischen Christen gegenüber. Die Polemik ist aus der Presse beider Seiten verschwunden. Als kürzlich ein Buch des bekannten Richters und Konvertiten Sir Henry Slesser mit dem Titel „The Anglican Dilemma" herauskam, das zu beweisen sucht, daß die anglikanische Kirche nicht die Kirche der Vorreformationszeit, sondern gänzlich ein Staatsprodukt des 16. Jahrhunderts ist; daß ihre Liturgie und Glaubensartikel ausgesprochen protestantisch sind und daß auf Grund der Abwesenheit jeglicher Lehr- oder unabhängigen spirituellen Autorität sie nicht in der Lage war und ist, eine von ihren Mitgliedern oder gar ihren Bischöfen angenommene Lehre zu bekennen, fanden diese Thesen eine überraschend kühle Aufnahme. Der Rezensent der katholischen kulturpolitischen Wochenschrift „Tablet“ schrieb, daß es unter den jetzigen Umständen kaum wert sei, eine derartige Polemik neu aufzutischen, und daß er einem direkten Angriff auf eine andere christliche Gemeinschaft eine positive Darstellung des katholischen Glaubens vorziehen würde. „Die Menschen sind der Religion, in der sie Gott zu dienen und lieben gelernt haben, mit zahlreichen Banden der Zuneigung, der Treue und Dankbarkeit verbunden, und Angriffe auf sie sind eher dazu angetan, abzustoßen als zu überzeugen. Obwohl die korporative Wiedervereinigung in der heutigen Zeit, in der die Christen vor der mächtigen Bedrohung des Säkularis- mus stehen, eine Fata Morgana ist, obwohl sie keineswegs Überzeugungen einem Opportunismus opfern können, so können sie doch Seite an Seite gegen den gemeinsamen Feind kämpfen. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, daß viele Konvertiten ihrer Erziehung in der Liturgie des anglikanischen Gottesdienstes das Verständnis der katholischen Liturgie verdanken."

In den Vorkriegsjahren noch wäre eine solche Stellungnahme kaum denkbar gewesen. Gewiß ist diese Haltung auch heute keine allgemeine. Die Gewohnheiten und Vorurteile der Jahrhunderte lassen sich auf beiden Seiten nur schwer und allmählich beseitigen. In Fragen des gemeinsamen christlichen Gesprächs ist die Haltung der englischen Hierarchie vorsichtig und konservativ, und ein Schritt, wie er kürzlich von den deutschen Bischöfen unternommen wurde, um beim Heiligen Vater anzusuchen, daß die Ehe des ehemaligen protestantischen Pastors Goethe nach seiner Priesterweihe aufrechterhalten bleibe, wäre hier in England undenkbar. Ein zwingender Grund hiefür ist zweifellos, daß die gegenseitigen Begrenzungen von Anglikanismus und Katholizismus nicht so klar zum Ausdruck kommen wie dies zwischen Lutheranern und Katholiken der Fall ist. Die beiderseitige Annäherung wächst jedoch, wenn dies auch von offizieller Seite unmöglich ist, aus zahllosen persönlichen Beziehungen und einem wachsenden Interesse, die Ansichten der anderen zu verstehen, ohne dabei die eigenen zu kompromittieren. In diesem Zusammenhang darf auf das Augustheft der englischen „Clergy Review“ verwiesen werden, das in zwei wertvollen Beiträgen die Stellung nichtkatholischer Christen im kanonischen Recht behandelt. Dom Theodore Richardson O. S. B. kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß „im allgemeinen getaufte Nichtkatholiken .acatholici', aber nicht, was Delikte und Kirchenstrafen anbelangt, haeretici, schismatic! oder excommunicati sind", da Exkommunikation die Hartnäckigkeit (per- tinaciter) in der kanonischen Definition der Häresie voraussetzt und in der großen Mehrheit aller Fälle eine „igno- rantia invincibilis“ oder sogar „ignoran- tia crassa“ der kirchlichen Autorität besteht. Kanonikus E. J. Mahoney widersetzt sich einer derartigen Auslegung des Begriffes pertinaciter, teilt aber die Meinung des Benediktinerpaters, daß öffentliche Bezeichnungen von Nichtkatholiken als „Häretiker" und „Exkommunizierten" verfehlt seien.

Ein ernstes Problem nach der Ansicht, die sich das nichtkatholische England von der Kirche in den vergangenen hundert Jahren gebildet hat, ist die Abwesenheit bodenständiger Traditionen. Die Bildung der neuen Hierarchie im Jahre 1850 erfolgte aus dem Nichts. Das mächtige Anwachsen der katholischen Gemeinde in den folgenden Jahrzehnten war in erster Linie der irischen Einwanderung zuzuschreiben,• irische Nonnen und Priester waren führend in der Bildung des heutigen Katholizismus. Newman selbst wurde von einem italienischen Priester in die Kirche aufgenommen. Das besondere englische Glaubensleben einer Juliana von Norwich, eines Thomas Morus, eines Newman fanden

nur wenige Ansatzpunkte. Die Schönheiten der alten englischen Frömmigkeit waren in die anglikanische Liturgie und die Cranmersche Bibelübersetzung übergegangen, und der Vorwurf der „ausländischen“ Kirche ist noch manchmal zu hören. Die Notwendigkeit, eine Brücke zįrr Vergangenheit zu bauen, mußte vor den viel dringenderen Problemen der neuen Hierarchie, dem Bau neuer Kirchen und Schulen, zurückstehen. Noch heute sind die meisten Pfarrer mit derartigen administrativen Pflichten belastet — sie sind überdies gänzlich für ihren Lebensunterhalt auf die finanzielle Unterstützung ihrer Gemeinde angewiesen —, daß die seelsorgerische Tätigkeit nur zu oft darunter leiden muß. Die religiösen Orden und Gemeinschaften sind in Ausbildung und Lebensweise fortschrittlichen Söelsorgemethoden zugänglicher.

In der verhältnismäßig kurzen Zeit ihres großen Wachstums ist es der katholischen Kirche in England noch nicht gelungen, die ihr angehörenden verschiedenen sozialen Schichten zu einer wahrhaft kultur- und glaubensgebundenen Gemeinschaft zu formen. Die aus den führenden katholischen Internaten, wie

Downside und Ampleforth, kommenden jungen Leute, von denen viele später Stellungen im öffentlichen Leben einnehmen, zeigen in ihrer konservativen Haltung wenig Verständnis für die politischen und sozialen Probleme der breiten Masse ihrer Glaubensbrüder. Diese Kluft wirkt sich auch im politischen Leben aus, in der Tatsache, daß die überwiegende Mehrzahl der englischen Katholiken Labourwähler sind, während die katholische Führung sich in den Händen der gebildeten und konservativen Minorität befindet. Das Gute daran ist, daß sich der Einfluß der Kirche nach allen Seiten erstrecken kann und nicht auf ein strikt katholisches Lager beschränkt bleibt. Aber die Klage wird nicht selten laut, daß die Idee der Gemeinschaft, die im heiligen Meßopfer ihr höchstes Symbol besitzt und bei Katholiken in vielen anderen Ländern als erste Notwendigkeit der Zeit angesehen wird, noch tiefer verankert werden soll. Der zweite Frühling der Kirche in England ist in voller Blüte, und sie wartet auf einen neuen Newman, der sie in den Sommer führen könnte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung