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Helvetias Sorgenkinder

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Von einem „katholischen Bil-dungsdeflzit“ wird in der Schweiz nicht erst heute gesprochen. Bereits vor rund vierzig Jahren haben sich einige aufgeschlossene Akademiker im Zürcher „Club Felix“ mit diesem auffallenden Rückstand befaßt. In das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangte aber das Thema erst durch die neueren Publikationen in Deutschland. Mit der landesüblichen Verspätung hat sich nun die „Ctvdtas“, die Monatsschrift des schweizerischen Studentenvereins, des Problems angenommen, indem sie in einer großangelegten Umfrage an 70 Persönlichkeiten die Fakten, die Ursachen und die möglichen Besserungsvorschläge zu eruieren suchte. Das vorliegende Resultat des Unternehmens ist ein reichhaltiges Panorama geistesgeschichtlicher, soziologischer und sozialkritischer Erkenntnisse. Es ist eine Sammlung wertvoller Anregungen, die der Diskussion um den akademischen Nachwuchs in der Schweiz neue Impulse geben könnte, einer Diskussion, die sich bisher im Rahmen statistischer Erhebungen und wohltemperierter Empfehlungen gehalten hat. Eine aufrüttelnd formulierte Analyse von der Qualität der Artikelserie Georg Pichts über die „deutsche Bildungskatastrophe“ fehlte ja in unseren gemäßigten Breitengraden. Die Lücke ist jetzt wenigstens in einer Teilfrage geschlossen, wobei diese Teilfrage nicht bloß partikulare konfessionelle, sondern nationale Bedeutung hat. Die Untervertretung der Katholiken ist im weiteren Zusammenhang eines helvetischen Notstandes zu sehen. Eingehende Erhebungen über den Stand und über den künftigen Bedarf in sämtlichen Sparten des akademischen Nachwuchses haben das Bild eines allseitigen empfindlichen Mangels ergeben. Die unterdurchschnittliche Präsenz der Katholiken fällt da besonders schwer ins Gewicht, auf einzelnen Gebieten, vorab naturwissenschaftlicher und technischer Richtung, ist das katholische Defizit sogar alarmierend. Daß der Rückstand im ganzen nicht jenes Ausmaß angenommen hat, wie es in Deutschland festgestellt wurde, ist zwar erfreulich, doch wäre es verfehlt, sich darüber zu beruhigen. Es ist durchaus möglich, daß sich auch in der Schweiz auf längere Frist gesehen eine ähnliche Verschlimmerung des Anteils der Katholiken an der Zahl der Studierenden abzeichnet, wie sie etwa Karl Erlinghagen für die Bundesrepublik Deutschland diagnostiziert hat.

Der quantitative Rückstand

Der allgemeine Charakter des anvisierten Problems wird noch deutlicher, wenn man auf die vorherrschende soziale Struktur der katholischen Bevölkerung hinweist. Nach übereinstimmender Auffassung der meisten Angefragten finden sich die Katholiken vorab in den bäuerlichländlichen, in den wirtschaftlich weniger gutgestellten mittelständischen und kleinstädtischen Schichten. Was Professor Groner im „Kirchlichen Handbuch“ (Band XXV) schreibt, trifft für die Verhältnisse in der Schweiz weitgehend zu: „Die Katholiken sind überdurchschnittlich auf dem Dorf vertreten und beträchtlich unterdurchschnittlich in der Großstadt. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie auch in den Gemeinden mit 2000 bis 100.000 Einwohnern stärker in den kleineren und relativ schwächer in den größeren Orten vertreten sind ... Dieser Trend allein bedeutet eine beträchtlich niedere Stellung der Katholiken in den beruflichen Sozialpositionen. Auf dem Dorf sind im Durchschnitt sehr viel mehr niedrigere Berufsstellungen vorhanden als In der Stadt.“ Damit ist als Folge verbunden, daß geographisch wie menschlich eine verhältnismäßig weite Distanz zum wissenschaftlichen Leben und zu dessen Repräsentanten in den vorwiegend andersgläubigen städtischen Zentren besteht. Die durchschnittlich großen, mit materiellen Sorgen belasteten Familien bieten nicht gerade ein anregendes Milieu für die Förderung des Studiums. Die Vorurteile gegen alles Gelehrte sind in diesen Kreisen besonders groß, die Auswahl der Begabten ist besonders schlecht. In einem Beitrag von Aemilian Schär wird die erschütternde Zahl gebracht, daß von den Schweizer Hochschulstudenten nur sechs Prozent aus Arbeiterfamilien stammen. Jene soziale Schicht, welche mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung bildet, stellt also kaum mehr als ein Zwanzigstel des akademischen Nachwuchses. Da mindestens eine Teilidentität zwischen dem Rückstand der Arbeiterbevölkerung und dem katholischen Bildungsdefizit besteht, bedeutet demnach die Nachwuchsförderung der Katholiken zugleich die bildungsmäßige Hebung der unteren sozialen Schichten. Das detaillierte statistische Material, das von der „Civitas“ zusammengetragen wurde, vermittelt diesbezüglich wertvolle nähere Angaben. Die — allerdings nicht vollständigen — Untersuchungen an den Hochschulen von 1959/60 belegen, daß der Anteil der studierenden Schweizer Katholiken 34,5 Prozent ausmacht (Männer 35,9 Prozent, Frauen 25,5 Prozent). Der katholische Bevölkerungsantei! beträgt 41,3 Prozent. Das Defizit beläuft sich somit auf etwa 7 Prozent. Bei den einzelnen Berufen schwankt das Manko zwischen 6,3 Prozent (Recht, Wirtschaftswissenschaften, Philosophie I), 11 bis 12 Prozent (Philosophie II und Absolventen der Technischen Hochschulen) und 15 bis 19 Prozent (Chemiker, Physiker, Mathematiker).

Geschichtliche Hintergründe

Der geschichtliche Abriß, den Ludwig Räber in seinem Artikel gibt, zeigt die Hintergründe der vorhin erwähnten sozialen Benachteiligung der Katholiken auf: „Die Städte gingen weitgehend zur Reformation über, während die Bergkantone beim alten Glauben blieben. Damit waren die Katholiken ins katholische Getto abgedrängt und waren fortan nicht mehr in der Lage, wirtschaftlich, finanziell und später auch machtpolltlsch mit den reformierten Orten Schritt zu halten. Die reichen Bildungszentren unseres Landes waren somit auf Jahrhunderte hinaus den Katholiken verschlossen; es gab für sie dort keinen Zugang mehr und somit keine Strahlungsmögllchkeit.“ Die politische Niederlage des Sonderbundes besiegelte dann die Getto-Situation der Schweizer Katholiken und ächtete sie in weiten Kreisen auf Jahrzehnte hinaus. Die Folgen sind bis heute abzulesen. Die Aufstiegschancen für den Akademiker haben sich zum größten Teil im außerkatholischen Raum entwickelt. Es ist für den Kathollken ungleich schwerer als für den Protestanten, in bestimmten Positionen des wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens anzukommen. Und selbst dort, wo sich mehr aus Not als aus Tugend eine Öffnung zugunsten der Katholiken abzeichnet, sind Widerstände und Vorbehalte unverkennbar. Die Diagnosen, die hier von der „Civitas“ publiziert werden, wechseln stark, je nach Beruf und Interessen der einzelnen Autoren. Als besonders bedenklich werden die Verhältnisse im wissenschaftlichen Kader der Hochschulen beschrieben, wo der Anteil der Katholiken 15 Prozent kaum übersteigen dürfte. Nach weiteren Aussagen decken sich die Leistungen der Katholiken in Industrie und Wirtschaft, in naturwissenschaftlichen und technischen Berufen bei weitem nicht mit dem zahlenmäßigen Bevölkerungsanteil und mit den polltischen Einflußmöglichkeiten.

Eine stille Emigration

In der wissenschaftlichen Theologie wurde der Beitrag der Schweizer Katholiken in einem ärgerniserregenden Ausmaß vernachlässigt. Die eigenen Institutionen, Organisationen und Gruppierungen, die man in einer Gegenaktion aufgezogen hat, bilden längst keinen genügenden Ersatz mehr für die Möglichkeiten, die sich im sogenannten neutralen Bereich erschließen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist einerseits eine stille Emigration qualifizierter Katholiken festzustellen, anderseits eine einseitige Präsenz in einzelnen Berufen. Die Gewaltmethoden des Radikalismus im 19. Jahrhundert zwangen den Katholizismus, die Talente vorwiegend in der Parteipolitik einzusetzen. Nach Josef Vital Kopp wird deshalb noch heute zu viel geistiges Potential in der Parteipolitik investiert, wobei das Resultat In keinem Verhältnis zur eingesetzten Energie steht. Von andern Teilnehmern der Umfrage wird übereinstimmend die überstarke Konzentration auf den theologischen Nachwuchs Zur Diskussion gestellt. „Studieren“ war lange Zeit identisch mit der Vorbereitung auf den Priesterberuf. Wer sich für einen „weltlichen“ Beruf interessierte, war nicht würdig, vom ansässigen Pfarrherrn unterstützt zu werden. Diese Haltung bewirkte die fast ausschließliche Bevorzugung des Maturitätstyps humanistischer Richtung an den katholischen Mittelschulen.

Vorurteile gegen die Bildung

Sozusagen als Ausfluß der verschiedenen soziologischen, ökonomischen, historischen Elemente ergibt sich dann die allgemein beobachtete reservierte bis ablehnende Einstellung gegenüber Wissenschaft und Bildung. Die Wissenschaft als Beruf und Lebensaufgabe, so wird mehrfach geäußert, nimmt in der Wertskala des Durchschnittskatholiken eine niedrigere Position ein als in anderen Konfessionen. Solche Bewertungsnormen haben — in weiteren Zusammenhängen betrachtet — ihre Wurzeln in der Haltung der Welt- und Sachabgewandtheit der Kirche, im historischen Konflikt zwischen kirchlicher Lehre und autonomer Wissenschaft, in der Bindung an autoritativ festgelegte Prinzipien. Ein merkwürdiges Minderwertigkeitsgefühl in der wissenschaftlichen Arbeit und Diskussion, verbunden mit einem Mangel an geistiger Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit ist die Folge. Das Kreisen im engen Spielraum einer traditionsreichen Begriffswelt und die Abkapselung gegen moderne Wissenschaft und Kultur außerhalb der Kirche führten zu jener Einstellung, die Carl Doka in seinem Aufsatz in den Satz zusammenfaßt: „Wir leiden an mangelnder curiosite intellectuelle.“ Und Rudolf Zihl-mann prägt dafür den treffenden Ausdruck des der Kirche vorgelagerten „katholischen Bindegewebes“, eines schwer definierbaren Konglomerates aus den Randzonen der Kirche, das dem einzelnen als geschlossenes und objektiviertes System entgegentritt mit dem Anspruch, das zu definieren, was katholisch ist und was nicht.

Notwendige Maßnahmen

Die Maßnahmen zur Verbesserung des katholischen Bildungsdeflzits müssen sich also auf zwei wesentliche Punkte konzentrieren:

• Einmal auf die generelle bildungsmäßige Hebung der unteren sozialen Schichten, was dann auch dem hier besonders Stark vertretenen katholischen Volksteil zugute kommen wird.

• Zum andern auf die Korrektur von kulturpolitischen Fehlreaktionen und Fehlentwicklungen bei den Katholiken selbst und bei ihren andersgläubigen Partnern.

Zur Verwirklichung des ersten Postulats werden verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie sie ähnlich auch in andern Ländern formuliert werden: Dezentralisierung der Mittelschulen, Bau von Studentenheimen, Förderung des Maturitäts-typus technischer Richtung auch an katholischen Schulen, Intensivierung der akademischen Berufsberatung, Aufklärung der Eltern, Ausbau des Stipendienwesens, Information der Geistlichkeit über ihre Verantwortung in einer alle Berufe umfassenden Nachwuchsförderung. Wichtiger noch als die klugen Anregungen für Sofortmaßnahmen ist die Haltung, die in der Mehrheit der Vorschläge zum Ausdruck kommt und die ein Zeichen dafür ist, daß man bereit ist, die nötige geistige und kulturpolitische Wandlung zu vollziehen. Man hat offenbar eingesehen, daß die Zelt der diversen katholischen Sonderunternehmungen vorbei ist, daß die einzige Chance in der loyalen Zusammenarbeit mit den andern liegt, wobei man voraussetzen muß, daß auch die Partner den Katholiken Loyalität und eine offene tolerante Haltung entgegenbringen. Das Ziel muß sein, dem qualifizierten Katholiken die gleichen Chancen zu eröffnen wie dem qualifizierten Andersgläubigen. Nicht „katholische“ Bildungsförderung und Bildunospolitik, dos hei/Jt, nicht An-strengungen auf einem speziellen Geleise, sind daher heute notwendig, sondern Bildungsförderung und Bildungspolitik der Katholiken, gemeint als Beitrag der Katholiken an eine nationale Aufgabe im Kontakt mit den andern.

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