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Der geistige Raum des neuen Deutschland

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Verlagerung, Räumung, vor allem aber Zerstörung der meisten Kulturstätten Deutschlands, die bedingungslose Kapitulation mit dem aus ihr folgenden Verbot jeder öffentlichen Betätigung, die erst nach einem in verschiedenen Teilen Deutschlands sehr verschieden gehandhabten Lizenzverfahren wieder beginnen konnte, die Zoneneinteilung endlich und die schrittweise und wiederum nach verschiedenen Gesichtspunkten sich vollziehende Staatsbildung in neuen Ländern haben den geschichtlich gewordenen und vom Nationalsozialismus dann unhistorisch reglementierten deutschen Kultürraum von Grund auf umgestaltet. Entscheidend für das geistige Gesicht Deutschlands im Jahre zwischen Paulskirchen- und Goethe-Jubiläum (die beide auf Frankfurt weisen) sind vor allem die Grenze zwischen den Ost- und den Westzonen und der Ausfall Berlins, das durch seine Einschließung und Isolierung für den Westen nicht mehr formgebend und stilbildend wirkt. Damit wird ein Prozeß unterbrochen, der geistesgeschichtlich seit der Romantik und dem preußischen Klassizismus, also seit Humboldt, Schadow und Fichte, der politisch seit 1866 mit der gleichbleibenden Tendenz auf die Metropole Berlin verlief und von Hitler wie schon von der Weimarer Republik noch forciert worden war.

So tritt in dem neuen Deutschland wieder wie vor vielen Jahrhunderten im alten und in jenem engeren „Reich”, das sich nach dem Dreißigjährigen Krieg im Sinne Schönborn- scher und Wittelsbachscher Politik im Westen gebildet hatte, die Rhein-Donau- Achse stärker hervor. Das gibt auch dem deutschen Katholizismus ein viel stärkeres Gewicht, als er es je seit dem Untergang der geistlichen Fürstentümer hatte, obwohl unter den zehn bis zwölf Millionen aus dem Osten und Südosten zugewanderter „Heimatvertriebenen” (wie sie sich jetzt nennen) eine sehr große Zahl von Protestanten ist. Die gewaltigen Kundgebungen des rheinischen Katholizismus im Sommer 1948, die in den drei historischen Fürstenstädten Köln, Mainz und Trier stattfanden, machten diesen Vorgang für ganz Europa sichtbar. Die Rolle, welche heute die Metropolitane und Bischöfe Deutschlands im geistigen und politischen Leben spielen, ist höchst beachtlich. Ob es sich um Kardinal Frings handelt, der vor allem als Sprecher einer deutsch-französischen, westeuropäischen Zusammenarbeit auftritt, um die ehrwürdige Gestalt Kardinal Faulhabers, um Bischof Berninck von Osnabrück oder den neuen Erzbischof von Freiburg, ob es um die in zwiefachem Sinne „jungen” Oberhirten von Eichstätt und Würzburg, ob es um Wort und Tat und Beispiel der Kirchenfürsten auf sozialem- oder kulturpolitischem Gebiet geht, sie sind heute um so mehr maßgebend, als die politische Vertretung des Katholizismus durch die nach wie vor umstrittene Sammelpartei CDU-CSU nicht zum besten bestellt ist.

Der Wegfall von Berlin, Leipzig und Jena hat auch den Universitäten, Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften im deutschen Westen eine führende Rolle zugespielt. Göttingen bleibt seinem alten Ruf als Pflanzstätte der Naturwissenschaften, vor allem der Mathematik und der Physik, treu; es hat durch die Max-Planck-Gesellschaft ein zusätzliches Gewicht erhalten. Frankfurt mit Freiem Hochstift, Goethe-Preis, Pauls- kirche und Goethe-Haus, mit den Gastvorlesungen amerikanischer Professoren, setzt sich im neuen Großhessen wie im ganzen Bunde durch, Marburg hält sich durch seine Sommerkurse und als Sitz der „Hessischen Bibliothek” (au? den nach Westen geretteten Beständen der Preußischen Staatsbibliothek gebildet und mit etwa 1,5 Millionen Bänden die jetzt größte deutsche Bibliothek) über den kleinen Wirkungskreis der Landesuniversität hinaus im Wettkampf der Geister. Mainz hat durch französische Initiative eine neue, die nach Collagemuster aufgebaute, vorbildliche Johann-Gutenberg-Universität erhalten. Heidelberg hat seinen Tenor durch den nun nach der Schweiz verzogenen Jaspers bekommen, aber manches von dem alten Ruf eingebüßt, während Tübingen als Mittelpunkt des süddeutschen Protestantismus, als Sitz wesentlicher Einrichtungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts und als Brücke zu französischem Geistesleben neue Bedeutung erhalten hat. München, zur Zeit die größte deutsche Universität, litt zunächst an Massenzustrom und zugleich an Überalterung des Lehrkörpers, läßt aber neuerdings mit Franz Schnabel, Wenzl, Stepan, Dempf seine Stimme wieder stärker vernehmen. Während Würzburg darunter leidet, daß Stadt, Hochschule und Bibliothek arg getroffen wurden, danken kleine Hochschulen, wie Erlangen und Bamberg, der Bewahrung ihrer Bibliotheken und Gebäude die größere Bedeutung, die ihnen heute zukommt. An allen deutschen Hochschulen wird meist unter schwierigsten Verhältnissen für Studenten und Lehrer fieberhaft gearbeitet. Vielfach aber klagt man, daß die Studenten einseitig auf Fachinteressen festgelegt und ohne universale Interessen seien. Die Studentenzeitschriften, Diskussionen, Studentenbühnen und ähnliche beweisen, daß man keineswegs alle Akademiker über einen Kamm scheren darf. Wie weit der Nationalsozialismus in diesen Reihen und in den Köpfen der ehemaligen Frontsoldaten und Hitlerjungen noch seinen Platz hat, ist schwer zu sagen. Die neuen Verhältnisse haben Tarnung, Verstellung und ideologisches Falschspiel oft allzusehr begünstigt.

Eine große Rolle spielen im neuen Deutschland, sowohl ihrer Zahl nach als durch Buntheit und Intensität ihrer Arbeit die Volkshochschulen (in Bayern allein gibt es ihrer an 60). Sie haben auch in kleineren Städten oft ein eigenes geistiges Profil, das meist durch einen oder den anderen Dozenten, manchmal durch ein Kollektiv von Mitarbeitern bestimmt wird. Es überwiegen nicht wie ehedem die praktischen Kurse in Englisch, Kurzschrift und Buchhaltung, sondern Massenzustrom haben und Einnahmen bringen fast überall Vorträge und Seminare über Rilke, Goethe, Kierkegaard, den Existentialismus, die christliche Philosophie, den „Faust”, die Atomphysik, Geschichte und Geschichtsphilosophie. Niveau und Leidenschaft der Hörer sind oft beachtlich, der Anteil der Jugend erfreulich groß.

Fast alle Volkshochschulen melden, daß sich für Politik, Staatsbürgerkunde, Sozialismus niemand interessiere. Die gleiche Erfahrung hat der Buchhandel gemacht. Bei der Erteilung von Buch- und Verlagslizenzen wurden Verleger und Schriften bevorzugt, die sich mit der demokratischen Umerziehung befaßten oder ihr dienen sollten. So wurde in der RM-Zeit der Markt mit Millionen Exemplaren solcher Traktätchen und Broschüren überfüllt. Die Leute kauften sie, um Altpapier zu haben, das man damals zum Einkauf aller möglichen Waren benötigte. Keine fünf Prozent dieser’ ganzen Produktion von drei Jahren wurden gekauft, um gelesen zu werden. Wirklich gelesen wurden wohl kaum zwei Prozent. Nun gibt es wieder schöne Literatur, Geschichte, Biographien, Kunstbücher. Man kauft trotz hohen Preisen, und der Markt leidet neuerdings schon wieder an Verknappung der Ware Buch. Da auch das Verlagswesen im Neuaufbau ist, läßt sich nur schwer System in Planung und Produktion bringen. Die Verlage suchen und experimentieren. Es gibt ,ehr viele, und zwar durchaus seriöse katholische Verlage. Das alte Schlagwort: „catho- lica non leguntur” läßt sich heute nicht mehr behaupten. Bemerkenswert, daß als erstes Lexikon der Große Herder erscheinen wird. Auch die alten Verlagsvororte haben ausgespielt, die Verlage sitzen oft in kleinen, wenig bekannten Städten.

Die neue deutsche Presse hat infolge des Lizenzensystems, das fast immer zwei Lizenzträger verschiedener politischer Richtung aneinanderkoppelte (was nötig und richtig war) und oft zeitungsfremde Leute wählte (was nicht immer günstig war), kein sehr ausgeprägtes Gesicht. Nur wenige Blätter wirken stilbildend. Meist sind es Wochenblätter, wie der „Rheinische Merkur”, „Echo der Woche”. Ein Experiment ist J. W. Naumanns „Tagespost” (Augsburg), die erste weltanschaulich gebundene, aber nicht parteipolitische Zeitung. Sie will katholisch in einem sehr universalen Sinn sein. Ihr größter Erfolg bisher: die Konkurrenzblätter sind alle sehr duldsam gegen den Katholizismus geworden.

Haben die Zeitungen kein Gesicht, so treten doch einzelne Publizisten stark hervor. Walter von Cube, der Chefredakteur von Radio München, Winfried Martini, Dolf Sternberger, E. W. Süskind, Buttersack, Kramer, überwiegend Männer der demokratisch-konservativen Rechten, haben sich durchgesetzt. Kerne der Meinungs-, noch nicht der Willensbildung sind die Zeitschriften, deren es viele und einige von Format gibt. Auch hier führt die Rechte, während die Linke, soweit sie nicht SEDgebunden ist wie in Berlin bei den meisten Zeitschriften, kaum etwas von stärkerer Leuchtkraft aufzuweisen hat. Geistig am klarsten und scharf umrissen in Haltung und Programm ist die Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit”. Den größten Radius haben die „Frankfurter Hefte” (Eugen Kogon und Walter Dircks). In der Richtung der alten „Frankfurter Zeitung” sucht die „Gegenwart” (Freiburg) zu wirken, liberal in einem guten, alten Sinn, vom Geiste Alfred Webers und Jaspers bestimmt, die „Wandlung”. Katholisch-konservativ, neuerdings stärker der Aktualität verbunden, das „Neue Abendland”, seiner Tradition getreu folgend „Hochland”. Zwischen Frankfurt und München liegen auch auf diesem Gebiet die Schwerpunkte.

Der deutsche Föderalismus hat sich politisch nicht durchsetzen können. Geistig dominiert er jedoch und wird wohl das Feld behaupten, wenn es den Zentralisten nicht gelingt, durch ihre an Phrasen und Schlagworte gebundene Politik dem Totalitätsbestreben des Ostens den Weg nach Westdeutschland zu bahnen.

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