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Der fünfte Band des Großen Herder

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Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Fünfter Band. Italiker bis Lukrez. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. 1520 Spalten

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Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Fünfter Band. Italiker bis Lukrez. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. 1520 Spalten

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In seinem neuesten Bande erfüllt der Große Herder wiederum aufs hervorragendste die dreifache Aufgabe, die ihm, neben der anderer maßgebender Nachschlagewerke enzyklopädischer Art, besonders gestellt ist: über alles das gedrängt und dennoch erschöpfend zu berichten, was den Katholizismus betrifft; die Zeitverbundenheit eines bewußt und klar den Standort betonenden Lexikons an der Behandlung der mannigfachsten, im Vordergrund des Interesses moderner Menschen beharrenden Themen darzutun und endlich die Auffassung eines von der Weltanschauung des positiven Christentums durchdrungenen Beurteilers überall dort und dann zu bekunden, wo strittige Fragen zur Erörterung gelangen. Das geschieht auf würdige, zurückhaltende, niemals verletzende Weise; Gesinnungsverwandte empfangen dabei Richtlinien und Andersdenkenden wird schätzbarer Aufschluß erteilt.

In allem, was Technik, Physik und Chemie, Biologie betrifft, sind die führenden deutschsprachigen Gesamtnachschlagwerke einander gleichwertig. Unerreicht ist der Große Herder in seinen Abschnitten über Literatur, Kunst, Philosophie und, begreiflicherweise, Theologie, Religionswesen überhaupt. Die biographischen Schlagworte sind bei ihm dann mustergültig, wenn sie, und das geschieht bei überragenden Persönlichkeiten in der Regel, von ausgezeichneten Sachkennern aus erster Hand verfaßt worden sind. Als Beispiele dafür nennen wir aus dem uns zur Anzeige vorliegenden Band: Ernst Jünger, Kafka, Kant (unübertreffliches Muster einer stoffprallen, glänzend formulierten Kurzübersicht), Kepler (sehr verdienstlich, weil es dem nur unzureichend Bewunderten den gebührenden Platz begründet), Kierkegaard, Heinrich v. Kleist, Leibniz, Leo XIII., Leonardo da Vinci (vorbildliche Wesensschau auf ein Universalgenie), Lessing, Ludwig XIV.

Ein Separatlob ziemt dem Artikel Liberalismus — zusammen mit Liberale Parteien zehn Spalten! —, der eine kleine und unbefangene, doch tief eindringende Monographie dieser Weltanschauung in ihrer keineswegs unterbewerteten Dynamik darstellt. Von geschichtlichen und geographischen Schlagworten sind voranzustellen: Karolingische Kunst, Karten, Klima, Korea (vortrefflich), Leipzig, London.

Kern und Herz des fünften Bandes bilden aber die beiden Themen Katholizismus und Jugend-Kind-Lehre(r). Dem einen sind unter anderem gewidmet: die Schlagworte Kardinal, Katechismus, Kirche, Kirchenbau, Kirchenjahr, Kirchenlied, Kirchenmusik, Kirchenpresse, Kirchenrecht, Kirchliche Gerichtsbarkeit, Kloster, Kommunion, Konkordat, Konzil, Kreuz, Kultus, Liturgik und vor allem die kapitalen Darlegungen über Kirche und Staat (vier Spalten), dann die großartige Gesamtschau Katholische Kirche (vierzehn Spalten und drei Bildtafeln). Vom Kind meldet ein gemütvoller Rahmenartikel, dem sich ein zweiter über den Lehrer anreiht; dritter der eine Spezialität des Großen Herder darstellenden Rahmenartikel ist der über das Licht. Wir finden, dazu ergänzend, ausführlichere Darlegungen über die Jugendbewegung, das Jugendbuch, das Jugendstrafrecht, Kinderernährung, Kindergarten, Kinderkrankheiten, wie Keuchhusten und Kinderlähmung, Kinderpflege,- Kindersprache und Kinderzeichnen (samt reizenden Schaffensproben).

Sehr gut sind die meisten Hauptschlagworte aus dem Gebiet der Politik behandelt. Wir heben heraus: Kaisertum, Kapitalismus, Klassenkampf, Kolonie, Kommunismus, Konzentrationslager (gerecht und aufrichtig dessen Scheußlichkeiten anklagend), Krieg (ohne falsche Sentimentalität in diesem oder jenem Unsinne), Lehenswesen Den Geisteswissenschaften gehören noch an: ein paar vorzügliche kunsttheoretische und kunsthistorische Artikel, wie über Kunst im allgemeinen, Kitsch, Klassik und Klassizismus, Kultur, Lateinische Sprache, Lautlehre, lenken, hinüber zu der in diesem Band spärlicher vertretenen Sprach- und Literaturkunde. Philosophie und nichtchristliche Religionen betreffen die Schlagworte Kausalität, Leberl, Leid, Liebe, Judentum, Kon-fuzianismus, Lamaismus.

Sosehr die Humaniora, außer der zu stiefmütterlich bedachten Geschichte, und die Angelegenheiten des Glaubens, der Weltanschauung im Großen Herder sorgsamste Beachtung finden, dem LImfang nach überwiegen dennoch, Zeichen der Zeit, die Naturwissenschaften und die Technik. Fachmann und gebildeter Laie werden ihre helle Freude an der leicht faßlichen und ansprechenden Form haben, in der ihnen die neuesten Ergebnisse der auf diesen Sektoren sehr rasch fortschreitenden Wissenschaft vorgetragen werden. Hier wirkt das reiche Illustrationsmaterial besonders nachhaltig und vorteilhaft, um d*n Text zu erläutern und um ihn zu ergänzen. Schreiten wir zu eiligstem Ueberblick über die bedeutsamsten Artikel aus dem Bannkreis der Naturwissenschaften! Es seien genannt: Kälte, Kernphysik (gegliedert in mehrere Einzelartikel), .Kosmische Strahlung, Kraft, Ladung, Licht mit einigen Sonderschlagworten, Linse, Luft, Kali, Kalk, Kieselsäuren, Kobalt, Kohle, Koks, Kolloid, Kupfer, Lack, Kristall (sechs Spalten, ausgezeichnet), Kabel, Kautschuk, Klebemittel. Kraftfahrzeug, Kraftwagen (mit guter Bildbeigabe), Kraftwerk, Kunststoffe, Lokomotive (sechs Spalten). Luftschiff. In den Bereich der Zooloeie geleiten Käfer, Kamel, Kaninchen, Krebs und Kriechtiere; der Katzenfreund wird bedauern, daß seine Lieblinge, zumal im Vergleich zum Hund im vorhergehenden Band, ein wenig zu kurz behandelt worden sind. An der Grenze zwischen Botanik und Wirtschaftskunde begegnen uns Kaffee, Kakao, Kartoffel, Kulturpflanzen. Diese Schlagworte, wie manche zoologische, weisen hinüber zur Landwirtschaft, der eine prägnante Schilderung von vier Spalten gilt. Dankenswert, von nicht nur theoretischer und wissensbringender, sondern oft von unmittelbar praktischer Bedeutung sind die medizinischen Artikel, etwa — abgesehen von schon vorher erwähnten über allerlei Kinderkrankheiten — über Knochenbruch, Kropf, Leukämie und vordringlich über Krebs. Einer der wenigen naturwissenschaftlichen Artikel, der uns nicht befriedigt, ist der über Kybernetik.

Damit wären wir bei jenem unvermeidlichen Teil einer jeden gewissenhaften Rezension, der auch am bestgeratenen Druckwerk dessen kleine Schwächen aufzeigen muß. Die unserer Ansicht nach bedauerlichste ist weniger dem Lexikon als einer Zeit anzulasten, deren Bedürfnisse es beachten soll, dem Zurückdrängen des Historischen. Angesichts der Raumnot, die bei einem auf neun Bände beschränkten Lexikon besteht, haben eben die geschichtlichen Partien die Kosten des Üeberwiegens technischnaturwissenschaftlicher Stoffe zu tragen; denn für das Theologische, Philosophische, Literarische und Künstlerische hat der Große Herder unbeugsam den geziemenden Platz vorbehalten. Folge des eben beklagten Prinzips ist dann, daß zunächst in der Nomenklatur viele hervorragende Persönlichkeiten fehlen, die man, nicht einmal dann immer zu Recht, als für den heutigen Deutschen minder wichtig ansehen zu dürfen glaubt. Als Lücken, die speziell schmerzlich empfunden werden, greife ich heraus: die Ministerpräsidenten Oesterreichs, Ernst von Koer-ber, und Ungarns, Graf Khuen-Hederväry, den gemeinsamen Außenminister Grafen Kälnoky, den langjährigen Statthalter von Niederösterreich und zeitweiligen Ministerpräsidenten Grafen Kielmaijsegg, die k. u. k. Kriegsminister FM Krobatin und FZM Kuhn, die ungarischen führenden Politiker Ferenc Kossuth (Sohn des, nebenbei auch ungenügend gewürdigten, Lajos Kossuth) und Klapka, den Urheber der Bauernbefreiung in Oesterreich, Hans Kudlich (eben hat ihm Bundespräsident Heuß eine feine Studie geweiht), den neben Masaryk bedeutendsten tschechischen Politiker Kramäf, den jugoslawischen Ministerpräsidenten und Slowenenführer KoroSec, die drei bemerkenswertesten polnischen politischen Denker des 18. und 19. lahr-hunderts, P. Konarski, Kollataj und Lelewel, den Jesuitengeneral Ledöchowski, den nach Richelieu und Mazarin hervorragendsten französischen Staatsmann des 17. Jahrhunderts, Lionne, dessen Landsleute L'Hospital und Le Tellier, den russischen Außenminister Grafen Lam(b)sdorff. Bei diesen allen kann das unbedingte Recht auf Anwesenheit kaum bezweifelt werden.

Doch auf einen zweiten Einwand kann ich nicht verzichten. Er betrifft, immer wieder sei das bedauert, die unzulängliche Beachtung ausländischer kapitaler Werke neben, mitunter recht überflüssigen, deutschen. Welchen Sinn hat es zum Beispiel bei KoSciuszko, über den eine Fülle wertvoller polnischer Bücher existieren, voran die von Korzon, Koneczny, Skalkowski, auf das veraltete, unbeträchtliche Buch von Arnold hinzuweisen, und nur auf dieses? Oder warum vermissen wir beim Krimkrieg das wesentliche Werk des Russen Tarle? Warum ist bei Kopernikus die gesamte reiche polnische Literatur übergangen, während deutsche Aufsätze figurieren? Warum fehlt bei Krasicki das wichtigste Werk, das französische von Cazin, und bei Krasinski die beste Darstellung, von Kleiner? Ich habe da nur aufs Geratewohl ein paar Exempel aus mir vertrautesten Gebieten herausgegriffen. Weit störender ist derlei Vernachlässigung, die bei den deutschen Lesern den falschen Eindruck hervorrufen kann, es gäbe gar nichts anderes als deutsche Autoren, weit störender also wirkt der Mangel ausländischer Literatur bei sonst ausgezeichneten Artikeln über Kolumbus, Kriegsliteratur und Kapitalismus. Am Text haben wir nur selten etwas Belangreiches zu tadeln. So scheint mir die Darstellung Karthagos, auch bei Berücksichtigung der Raumnot, ungenügend. Bei Kanada hätte die Geschichte nicht auf ein unnützes Skelett reduziert werden sollen und im ganz unzureichenden Extrakt über die Literatur vermissen wir ausgerechnet den bedeutendsten Autor, Mazo La Roche. Es würde natürlich zu weit führen, wollten wir auf die Einzelheiten der Biographien eingehen und dort alle uns begegnenden kleinen Irrtümer oder wesentlichen Lücken aufzählen. Daß Kaunitz mit acht Zeilen nicht zu seinem Recht kommen kann, ist ebenso klar wie daß Erzherzog Karl bei derlei Engpaß kaum in seiner ganzen Bedeutung hervortreten durfte; mußte er aber auf diesem schmalen Raum noch einer ungerechten Kritik unterliegen? Ottokar Lorenz war doch vor allem als Bahnbrecher der Genealogie von Wichtigkeit, davon ist in der ihm zugebilligten Notiz nichts zu sehen. Von Bela Kun wäre zu erwähnen, daß er in Ungnade fiel und spurlos verschwand. Lloyd George hat vor seinem Tod den Earl-Titel erhalten. Bei Katharina II. wäre mindestens in einem Satz ihr auch für die Politik belangreiches, sehr entwickeltes und variables Liebesleben zu erwähnen gewesen . ..

Haben wir abschließend zu beteuern, daß die kleinen Einzelvorbehalte an unserem bewundernden Gesamturteil, auch über diesen neuesten Band des Großen Herder, nichts ändern? Kein Menschenwerk ist vollkommen und es gereicht diesem zeitverbundenen und dennoch der ewigen Werte stets ein-gedenken Lexikon zur Ehre, daß ihm so wenig zur absoluten Vollkommenheit mangelt. Es kommt dem [dealziel der ihm gesteckten Aufgabe so nahe, daß man ruhig behaupten kann, es habe sie erfüllt.

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