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Die müden Rebellen

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Das Aufbegehren der Studenten in Polen ist im Frühjahr 1968 ohne Rücksicht auf die sonst vielbeschworene „sozialistische Moral" mit allen Mitteln unterdrückt worden, die kommunistisch regierten Staaten zur Verfügung stehen. Die Lehren von Budapest und Prag genügten vollauf, dem Gomulka-Regime den Ernst der Stunde deutlich zu machen. Nicht etwa die Polizei allein, sondern Arbeiter und Betriebsleitungen, Parfeiagitatoren und Offiziere, Presse und Rund- funk wurden aufgeboten, die Studenten in Warschau und Krakau zur Raison zu bringen und an anderen Hochschulen aes Landes Solidaritätskundgebungen im Keim zu ersticken.

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Das Aufbegehren der Studenten in Polen ist im Frühjahr 1968 ohne Rücksicht auf die sonst vielbeschworene „sozialistische Moral" mit allen Mitteln unterdrückt worden, die kommunistisch regierten Staaten zur Verfügung stehen. Die Lehren von Budapest und Prag genügten vollauf, dem Gomulka-Regime den Ernst der Stunde deutlich zu machen. Nicht etwa die Polizei allein, sondern Arbeiter und Betriebsleitungen, Parfeiagitatoren und Offiziere, Presse und Rund- funk wurden aufgeboten, die Studenten in Warschau und Krakau zur Raison zu bringen und an anderen Hochschulen aes Landes Solidaritätskundgebungen im Keim zu ersticken.

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Nur einige wenige Schnappschüsse einer einzigen Studentendemonstration vor den Toren der Warschauer Universität gelangten in die westliche Presse; demgegenüber lieferte die staatliche polnische Nachrichtenagentur zur gleichen Zeit eine Vielzahl von Photos aus, die bestellte Arbeiterdemonstrationen und Jugendaufmärsche in allen Teilen des Landes zeigten, deren Transparente und Losungen allerdings vielsagend genug waren. Sie hießen: „Arbeit, Wissenschaft, Frieden!“ — „Wir wollen Ruhe für Warschau!“ — „Studenten — besinnt euch!“

Bezeichnenderweise wagte es nicht einmal die für ihre Diskussionsfreudigkeit bekannte Warschauer Studentenzeitschrift „I tak dalėj“ („Und so weiter“), die Vorgänge durch Eigenkommentare zu untersuchen. Man brachte die offiziellen Erklärungen, man beschränkte sich auf Inter-

views mit führenden Partei- und Staatsfunktionären, und auf die angekündigte Artikelreihe über die Situation des polnischen Hochschulwesens warten Polens Studenten bis heute vergeblich. Lediglich in einigen Wojawodschaftsorganen erschienen sehr vorsichtig formulierte Stellungnahmen selbstkritischen Charakters, deren Wirkung im Endeffekt schon deshalb verpuffte, weil jede Art der Nutzanwendung „von oben“ unterbunden wurde und bis heute unterbunden wird.

Um so breiteren Raum nehmen heute kaum zufällig in der polnischen Presse und insbesondere in Jugend- und Studentenblättem langatmige Grundsatzartikel und historische Reminiszenzen ein, in denen der Idealismus und die Vaterlandsliebe der polnischen Jugend im Wandel der Geschichte beschworen werden.

Appelle an Vaterlandsliebe und Geschichte

Zweifellos haben diese Charakterzüge das Wesen und die Haltung noch einer jeden Jungen Generation in Polen seit Jahrhunderten entscheidend mitbestimmt. Das Gefühl erlittenen Unrechts und jahrhundertelanger Unterdrückung hatte zwangsläufig einen ausgeprägten Patriotismus und Idealismus, gleichzeitig aber eine zeitweise maßlose Selbstüberschätzung zur Folge. In allen polnischen Aufständen spielte bekanntlich die Jugend, spielten insbesondere Studenten eine hervorragende Rolle.

Es gehört nun allerdings zu den Praktiken der kommunistischen Propaganda, aus der polnischen Vaterlandsliebe und den in Zeiten der ,. jnationalen Unterdrückung., bewiesenen Opferbereitschaft die These ab- zuleiten, als seien diese Gefühle und diese Haltung stets engstens mit Klassenkampf, Fortschrittsglauben und einer angeblichen polnisch-deutschen Erbfeindschaft verbunden gewesen. Seit der Neubegründung der polnischen Staatlichkeit kennzeichnen Bildungshunger und hartnäk- kiges Streben nach Wissen — verbunden mit einem stark ausgeprägten Individualismus und einem bis heute nachweisbaren Hang zur Romantik — das Denken und Fühlen der jungen Polen weit mehr als etwa politische oder gesellschaftskritische Motive.

Mangelnde Klassenkampfmoral

Ein längerer, unmittelbar nach den Studentenunruhen 1968 in der Danziger Tageszeitung „Glos Wybrzeza“ veröffentlichter Artikel macht das —• trotz seiner gegen die Studentenschaft gerichteten Grundtendenz — sehr deutlich. Wir lesen da u. a.:

„ Die Tatsache, daß es unsere Studenten während der letzten Wochen nicht vermochten, die allgemeinen, schönklingenden Studien- und Erziehungsparolen in entsprechender Weise zu interpretieren und) zu analysieren, zeigt die Versäumnisse in unserem Erziehungswesen und in gewissem Ausmaß auch in der Wissenschaft ebenso wie die Fehler bei der Propagierung der marxistischen Ethik klar genug auf. Es ist in den Vorlesungen und Publikationen unserer Professoren und Sachverständigen viel die Rede vom Klassenkampfcharakter unserer Moral. Dies betrifft jedoch in erster Linie die Geschichte: man spricht und

schreibt über das Klassenkampfmoment in der Bevölkerungsmoral der feudalistischen und kapitalistischen Periode. Die Studenten nehmen die historischen Tatsachen zur Kenntnis, ohne jedoch ihr Wissen und entsprechende Folgerungen auf die Analyse der heute verpflichtenden Normen und Werte zu übertragen.“

Sehr bezeichnend im gleichen Zusammenhang ist auch eine Rundfunksendung von Radio Warschau, deren Autor Ignacy Krasicki am 22. Juli 1968 ausführte:

„Die Erfahrungen der vergangenen Jahre und insbesondere der letzten Monate lehren uns, daß zwischen den

Erziehungsproblemen im einzelnen und der Bewußtseinsbildung . und Haltung unseres ganzen Volkes eine enge Verbindung besteht. Es kann in unserem jungen Polen — jung im Hinblick auf die Tatsache, daß nahezu jeder zweite Mensch noch keine zwanzig Jahre zählt — nur von einer Erziehungsarbeit im Hinblick auf die gesamte Nation gesprochen werden In diesem Zusammenhang haben wir bei all unseren Bemühungen unsere Aufgabe nach zwei Richtungen hin zu sehen: einerseits muß den Jungen konsequent und ständig begreiflich gemacht werden, daß die °erspektive des Reichten Lebens' ungut und unwirklich ist Unsere Tugend strebt nach etwas, was sie gar nicht kennt. Hieraus erwächst inderseits die Verpflichtung der politischen Bewußtseinsbildung: unsere Gegenwart muß mit historischen Fatsachen1 konfrontiert, und es müs-

sen aus ihnen die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.“

Dieses Bemühen und diese „Erkenntnis“ sind gegenwärtig das A und O der pädagogischen Arbeit und Ausrichtung im ganzen Lande.

Die Organisation des Hochschulwesens

Es gibt heute in Polen 70 und in den polnisch verwalteten Provinzen insgesamt 76 Hochschulen und Universitäten, von denen 40 einem besonderen Ministerium für Hochschulwesen und die restlichen anderen Ministerien sowie Partei- und Regierungsstellen direkt unterstellt sind. Maßgeblichen Einfluß auf alle Universitäten und Hochschulen

nim,mt die Abteilung für Kultur und Wissenschaften beim Zentralkomitee der „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“.

Das Verhältnis zwischen Partei und Hochschulen wird durch einen lapidaren Beschluß der IV. Zentraltagung der „Arbeiterpartei“ gekenn-

zeichnet. Er lautet: „Wichtigste Funktion der Hochschulen und Universitäten aller Typen ist die Erziehung der Jugend im Geiste des Sozialismus.“ In diesem Sinne wurden während der letzten Jahre auch die im Zeichen des „politischen Tauwet- Ws“:yör nunmehr zwölf Jahran eingestellten ideologischen Pflichtvorlesungen im Bereiche der 'Philosophie, der Soziologie, der Ethik und Wirtschaftekunde für alle Studenten wie-

der eingeführt. Und nicht zuletzt an dieser Tatsache entzündete sich das Aufbegehren der Warschauer Studentenschaft im März 1968.

50 Hochschüler auf 1000 Einwohner

Während im Jahre 1930 auf je tausend Einwohner Polens noch kaum ein Student entfiel, kamen 1950 — also zwanzig Jahre später — bereits fünf Studenten auf je 1000 Einwohner. Heute zählt man in Polen annähernd eine Viertelmillion Studenten — das sind fast 50 je 1000 Einwohner! (Die Vergleichsziffern für die Bundesrepublik Deutschland lauten 25, für Frankreich 34 je 1000.)

Bemerkenswert ist der hohe Anteil von Studierenden an den tech-

nischen Fakultäten (43 von Hundert). Die Zahl der Professoren, Dozenten und Assistenten an polnischen Hochschulen beträgt gegenwärtig 21.140. Wie in allen Ländern des sowjetischen Machtbereichs ist auch in Polen das Studium an sich kostenlos. Darüber hinaus erhält ungefähr jeder dritte Student für seinen Lebensunterhalt ein staatliches Stipendium.

Etwa 63.000 Hochschüler — also jeder vierte — wohnen in Studentenheimen; ungeachtet dessen sind hier wie anderswo die Unterbrin- gungsverhältnisse alles andere als günstig. In den meisten Studentenheimen entfallen knapp 4 Quadratmeter je Person. Angesichts der hohen Mieten, die in den Universitätsstädten für Zimmer in Untermiete

gefordert werden, kann sich, nur eine sehr geringe Zahl von Studierenden einen eigenen Raum leisten. Die meisten wohnen in zum Teil sehr behelfsmäßig eingerichteten Ge- meinschafteunterkünften.

Immer weniger Arbeiter- und Bauernstudenten

Im Gegensatz zum ersten Nachkriegsjahrzehnt kommt heute nur noch jeder zweite Student in Polen aus einer Arbeiter- oder Bauernfamilie. Die Sorge der Parteikreise, in denen seit Jahren immer häufiger die Frage diskutiert wird, worauf es wohl zurückzuführen sei, daß Söhne und Töchter der Intelligenzschicht und der Beamtenschaft die Arbeiterund Bauernjugend in zunehmendem

Maße „von den Universitäten verdrängen“, ist somit verständlich.

Auf der Suche nach den Ursachen dieser im Sinne des Regimes natürlich höchst unerwünschten Zusammensetzung der Hochschuljugend gelangte man in Warschau inzwischen zu dem Ergebnis, daß bereite in den obersten Klassen der zum Abitur führenden Mittelschulen ein fallender Anteil von Arbeiter- und Bauernkindern zu beobachten sei. Zugleich verzeichnete die „Trybuna Ludu“ im Vorjahr „ein immer geringeres Interesse bei den Schülern der letzten Klassen für ein Hochschulstudium“.

Dementsprechend ist beschlossen worden, die Methoden der Aufnahmeprüfungen zu ändern. Neuerdings haben auch Oberschullehrer in

den Hochschulprüfungskommissionen Sitz und Stimme. Auch das Stipendiensystem wurde geändert, um — wie in der polnischen Presse zu lesen ist — „den kurzsichtigen Wünschen vieler Eltern entgegenzuwirken, ihre Kinder so schnell wie möglich materiell unabhängig zu machen“. '

WähfieödH “dineršSts Päitei-' •' 'ühd Regierungsstellen über die nach ihrer Meinung „untragbare“ Zusammensetzung des akademischen Nachwuchses beziehungsweise über „Studentenmangel an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten“ erbittert Klage führen, gelangen nach Meinung vieler Professoren nach wie vor weit mehr Jugendliche zum Studium, als bei Lage der Dinge zugelassen werden sollten.

Einseitiger Wissensstand

Der entscheidende Grund für die Ansicht 'dieser Hochschullehrer ist in dem vielfach sehr niedrigen oder einseitigen Wissensniveau der Abiturienten zu erblicken. Die angeblich zu liberale Zulassungsweise zum Studium hat nach Ansicht dieser Dozenten zur Folge, daß gleich in den ersten Semestern viele Hochschüler wegen mangelnder Eignung die Universitäten verlassen müssen, was bei den Betroffenen natürlich zu Einbußen materieller Art angesichts der „verlorenen Jahre“ führt.

Ein Ärgernis besonderer Art ist in den Augen der Partei und der Stu-

dentenorganisation das geringe Interesse für diesen in enger Anlehnung an die „Arbeiterpartei“ wirkenden Einheitsverband, der sich trotz weitgehender staatlicher Förderung nur schwach entwickelt.

Daß dieser Auffassung auf selten der Studenten ganz andere Meinungen gegenüberstehen, weil sie nämlich davon überzeugt sind, daß all die Schwierigkeiten längst nicht mehr mit Maßnahmen verwaltungstechnischer Art und schon gar nicht mit politischen Sprüchen gelöst werden können, steht auf einem besonderen Blatt.

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