6547782-1947_25_01.jpg
Digital In Arbeit

Frankreichs Mittelstnde gegen den Leviathan

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist schon eine alte Lehre, diese Lehre vom amoralischen Staat. Machiavelli und tfobbes glaubten sie aus der Wirklichkeit abzulesen, und die meisten Politiker handelten nach dieser Lehre, auch ohne sich zu ihr zu bekennen. Lange noch fand sie ein Gegengewicht in den christlichen Vorstellungen und auch ganz bestimmt in der praktischen Notwendigkeit, sich nicht in allen Fällen nach ihr zu richten. Je stärker nun die Machtmittel und der Tätigkeitsbereich des Staates wurden, um so gefährlicher jene Lehre. Der Staat, der sich zum Maß aller Dinge erhebt und gleichzeitig seinen amoralischen Charakter proklamiert, ist der zur ethischen Leitung eines Volkes am wenigsten Berufene. Indem der Staat beansprucht, selbst über die Moral erhaben zu sein, erklärt er seinen Tatbezirk zum Asyl des Bösen und zieht er die ewig gleiche Bosheit der Menschen förmlich an. Es ist meine innige Uberzeugung, daß diese Lehre vom amoralischen Staat wie eine offene Wunde im Körper unserer Kultur wirkt, durch welche der Verderb einströmt. J. H u i z 1 n g a : „Der Mensch und die Kultur“

In den vergangenen Wochen war Frankreich in eine der empfindlichsten Perioden seiner politischen Geschichte unter der vierten Republik getreten. Sie waren bezeichnet durch die immer wieder zutage kommenden sozialen Konflikte und Masseneinstellungen der Arbeit, die ihre Ursache ebenso in unleugbaren Mißständen, hervorgerufen durch fremde Okkupation und Kriegsschäden und die Verarmung der einzelnen wie der Industrie, wie auch in der verstärkten Aktion einer politischen Partei hatten. Solche Streikquellen sind in der französischen Geschichte auch in solcher Größe nichts Neues. Aber diesmal ist eine neue bleibende Erscheinung zu verzeichnen: das Auftreten eines organisierten und zur Verteidigung sich zusammenschließenden Mittelstandes. Oder sollte man vielleicht „Mittelstände“ sagen? Vielleicht ja, denn jene Schichten, die man heute als „les classes moyennes“ bezeichnet, entstammen verschiedenen wirtschaftlichen Epochen. Die älteste Schichte, die auf die vorkapitalistische Wirtschaftspenodc zurückgeht, ist die auf eigener Scholle seßhafte Bauernschaft. Ihre Zahl ist dauernd in Abnahme begriffen, heute kaum auf mehr als drei Millionen der Gesamtbevölkerung Frankreichs zu schätzen. Im allgemeinen recht wohlhabend, vermag sich der Bauer gegen die bedrängenden Fiskalmaßnahmen zu halten. Ihm zunächst stehen die Gewerbetreibenden, deren Bereich heute dank der staatlich gelenkten Wirtschaft sehr eingeengt ist. Frankreich dürfte heute nur mehr 700.000 selbständige Gewerbetreibende zählen. Ihre Stellung ist nicht selten eine un-sichere; so manche dieser Branchen leben nur von Reparaturen industrieller Erzeugnisse. Die freien Berufe, Rechtsanwälte, Ärzte, Notare, Schriftsteller, Künstler, machen insgesamt ungefähr eine halbe Million der Gesamtbevölkerung aus. In nicht wenigen Gruppen dieser geistigen Arbeiter zeigt sich eine wachsende Tendenz zur Verbeamtung. Ihre wirtschaftliche Lage ist heute mehr als delikat. Schwer betroffen von den aufeinanderfolgenden Geldentwertungen und Währungsmaßnahmen, ja sogar am schwersten betroffen ist seit dem Jahre 1914 die breite Schichte der einmal für das wirtschaftliche und politische Bild Frankreichs so bedeutsamen Schichte der sogenannten Kleinrentner, der einfachen Leute, die sich durch Fleiß und Sparsamkeit, wie es einmal war, die Mittel für ein geruhsames Alter gesichert zu haben glaubten. Diese Schichte zählt heute höchstens nur mehr 10 0.0 00 Angehörige und steht vor dem völligen Verschwinden. Wirtschaftlich gesehen, ist ihre Lage zweifellos schlimmer als die der sogenannten Proletarier. Gleich groß ist die Zahl der kleinen Hausbesitzer, die kein anderes Einkommen besitzen als ihre Mieteinnahmen, die aber durch den Mietenstopp bei gleichzeitiger Geldentwertung schwer getroffen sind. Ihre kargen Einnahmen werden von den Instandhaltungsarbeiten voll aufgesogen. Die meisten von ihnen suchen ihren Hausbesitz zu verkaufen, da sie die Lasten'nicht mehr tragen können. Zu halten vermochte sich trotz, aller Monopole und trotz der staatlichen Lenkung der Wirtschaft die Kategorie der Kleinindustriellen und der Kleinkauf leute , („P. M. E.“). In ihren Händen liegen 70 Prozent der Produktion und 90 Prozent der Verteilung. Sie bieten dem bürokratischen Fiskus standhaft die Stirn und sind heute eine der aktivsten Schichten der Mittelstände. Ihnen gehören rund drei Millionen der Bevölkerung an. Zwei Millionen Menschen bilden den Beamtenstand des Staates und der öffentlichen Betriebe, sie sind versichert und genieße im allgemeinen Pensionsrechte. In dem Maße, als ihre Zahl 'ansteigt, verschlechtert sich ihre materielle Lage.

Im Wirtschaftsalter des Monopolkapitalismus entstand die Kategorie der industriellen Angestellten und Techniker. Vor dem Krieg bildetten sie 35 Prozent der Lohnempfänger, heute stellen sie 40 Prozent. Die Schichte der leitenden Techniker und Direktoren kann zahlenmäßig mangels statisti-, scher Berechnungen nicht angegeben werden. Sie nehmen eine Mittelstellung zwischen Arbeitgebern und Lohnempfängern ein, “und ihre Schichte würde in der Herrschaft des Staatskapitalismus darstellen, was Burn-ham als „Ära der Organisatoren“ schildert.

Dieses bunte Konglomerat verschiedener Herkunft und wirtschaftlicher Begründung scheint nun unter dem Drucke der Politik und der immer höher wachsenden drohenden Staatsallmacht zu einer Einheit sich zusammenzuschließen. Der Anstoß dazu mußte von einer Zeitung ausgehen, und es ist nicht das erstemal in der Sozialgeschichte, daß bedeutende Umformungen der Gesellschaft ihren Anfang in den Räumen einer von einem bedeutenden Kopfe geleiteten Redaktion nehmen. Ohne zu ermüden, hat die große französische Tageszeitung „Le Figaro“ den Feldzug für die Einigkeit, die Zusammenfassung des Mittelstandes, zur Verteidigung gegen seine Überwältigung geführt. Immer wieder wies dieses Blatt, das sich seit langem in den konservativen Schichten eines großen Ansehens erfreut, darauf hin, daß heute im Zeitalter der großen Arbeiterkonföderationen und der einheitlichen Standesorganisation der Landwirtschaft nur eine entsprechende umfassende Organisation des Mittelstandes dessen Interessen wirkam zu vertreten vermöge. Aus dieser Initiative entsprang vor einigen Monaten die Spitzenorganisation „Comit£ national de Liaison et d'Action des Classes moyennes“. In dieser Organisation wurden besondere Studiengruppen für die Probleme der „Cadres“ der Klein- und Mittelunternehmer, der Gewerbetreibenden, der freien Berufe, der Kleinrentner usw. geschaffen. Losung für alle ist: Wir wollen freie Franzosen in einem freien Frankreich sein! Iiji Namen dieser Freiheit soll der Kampf aufgenommen werden gegen den überall sich breitmachenden Et a t i smus, den anonymen Staat, der alle Wirtschaftsführung an sich reißen möchte. Doch soll die Bewegung, wie ihre Wortführer erklären, nicht auf die politische Ebene übergreifen, jedoch auch um jene Werte sich annehmen, die über den materiellen Interessen stehen. Diese neue Zusammenballung bedeutender Volksmassen — und vielleicht täuscht nicht die Annahme, daß sie eine wirkliche Macht wird — will kämpfen gegen jenen modernen Trieb, demzufolge der Staat immer schwerer auf dem einzelnen zu lasten beginnt, sein Los regelt und ihm schließlich 'die Freiheit der Wahl nimmt und jedem seinen Beruf, seine Stellung, seinen Verdienst, wenn nicht auch die Weltanschauung vorschreiben will. Diese Mittelschichten erklären sich gegen den totalitären Staat, sie sind solidarisch . in der Freiheit. Als „Feind Nr. 1“ gilt die staatliche Wirtschaftslenkung, die ihre Nutzlosigkeit und Unfähigkeit schon mehr als genug in diesem Lande erwiesen hat. Immer wieder werden ihr drei vornehmliche Vorwürfe gemacht: durch seine kleinlichen Regelungen hindert der Staat die Initiative des einzelnen. Sein Überbürokratismus, der aus seiner Anhäufung von angemaßten Aufgaben erwächst, ruft eine doppelte Last hervor, eine Über-^esteuerung und überdimensionierte Sozialaufgaben. Die Folge ist, daß sich die Steuerträger der Besteuerung zu entziehen trachten und die Steuermoral verdirbt. Der Plan der „sozialen Sicherheit“, der jeden Staatsbürger in irgendwelche Kassen einschachtelt, macht aus den einzelnen eine achtstellige Kartothekzahl im blinden Dienste des Bürokratismus.

Das ist die mit Temperament vorgetragene Anklage.

Die neukonstituierten Mittelstände werden von beiden Seiten politisch umworben. Es war nicht uninteressant, zu beobachten, wie die kommunistische Presse von einer Stunde zur anderen das Steuer herumwarf und die Kampagne der PME gegen die staatliche Wirtschaftslenkung aus besten Kräften unterstützte. Von der Rechten wird wiederum versucht, den neuen Block gegen den Marxismus auszunützen. Bisher haben es die Leiter des Comite National verstanden, ihre Scharen aus parteipolitischen Scharmützeln herauszuhalten. Mit großem Geschick übernehmen sie die Methoden der Arbeiterorganisationen. Bewegte Massenkundgebungen fanden statt, wie jene der PME am klassischen Schauplatz der Arbeiterversammlungen im Vel d'Hiv, bei denen die Redner mit Chören begrüßt und ihre eindeutigen, kräftigen Kundgebungen bejubelt wurden. Dann kam es zu Streikbeschlüssen, die von der Schließung der Geschäfte bis. zur Arbeitsniederlegung in den freien Berufen führten; sogar die Sabotage war wiederzufinden, sei es in der Nicht-befolgung von Vorschriften — man drohte dem Wirtschaftsminister Philip mit einem Massensteuerstreik —, sei es in der wörtlichen Durchführung amtlicher Vorschriften. Vor einigen Wochen taten dies' die französischen Zollbeamten mit der genauen Einhaltung veralteter Zollvorschriften zum Gaudium der auswärtigen Presse und zum Ärger der Reisenden und der Zollverwaltung.

Da sich die Gewerkschaften, die Organisation der Landwirtschaft und ,die neue der Mittelstände, einig sind in der Ablehnung unnötiger wirtschaftlicher Beschränkungen und der staatlichen Allmacht, so könnte man sich daraus eine erfolgreiche Einwirkung auf den öffentlichen Kurs versprechen. Wo 'die Mittelstände eine abweichende Haltung einnehmen, betrifft es nur die Fragen der wirtschaftlichen Staatsomnipotehz und Generaleinmischung, die sie bekämpfen. Schon einmal waren die Mittelstände nahe an den Abgrund geraten, als sie alle ihre finanziellen Reserven dem Staate zur Verfügung zu stellen hatten. Heute ist vorauszusehen, daß die neuen Ersparnisse, der Ertrag künftiger Arbeit, nicht mehr in Renten angelegt werden, sondern in Anleihen an die Privatwirtschaft. Die wirtschaftlichen Wirkungen einer solchen Tatsache würden ebenso revolutionär sein wie jene einer „direkten Aktion“.

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der göttlichen Politik, daß sich Gott zwar oft würdigt, die einzelnen Menschen mit eigener Hand zu züchtigen, den Strafvollzug jedoch für jene Völker, die Überhaupt noch einer Züchtigung wert sind, fast immer entweder Tyrannen oder andern Völkern überträgt, die noch schlimmer sind als die zu bestrafenden. — All diese Geißeln Gottes sind Zuchtruten der göttlichen Gerechtigkeit und Beweise der göttlichen Weltregierung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung