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Nach Giereks erstem Halbjahr

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Man ist versucht, sich die Augen zu reiben. Der Grenzer da vor unserem Autokühler sieht aus wie die leibhaftig auferStan- dene Deutsche Wehrmacht, vom Scheitel bis zur Sohle, von der Tellerkappe bis zu den derben Schuhen. Er trägt seinen bombastischen Sarrasani1, doch der ist das einzige, was an ihm glänzt. Denn er selbst blickt finster. Und finster wird’s auch bald uns vor den Augen, finster vor Wut. Man fragt sich: müssen sozialistische Staaten immer von martialisch aufgeblasenen, aus Prinzip unfreundlichen, diesfalls durch ihren ungute Erinnerungen weckenden Kommißton das alles noch unterstreichenden Wächtern bewacht werden?

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Man ist versucht, sich die Augen zu reiben. Der Grenzer da vor unserem Autokühler sieht aus wie die leibhaftig auferStan- dene Deutsche Wehrmacht, vom Scheitel bis zur Sohle, von der Tellerkappe bis zu den derben Schuhen. Er trägt seinen bombastischen Sarrasani1, doch der ist das einzige, was an ihm glänzt. Denn er selbst blickt finster. Und finster wird’s auch bald uns vor den Augen, finster vor Wut. Man fragt sich: müssen sozialistische Staaten immer von martialisch aufgeblasenen, aus Prinzip unfreundlichen, diesfalls durch ihren ungute Erinnerungen weckenden Kommißton das alles noch unterstreichenden Wächtern bewacht werden?

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Die Polen jenseits der Oder sind anders. Einen Schimmer nonchalanter. Ein wenig lässiger wenigstens in der Gebärde. Eleganter auch. Doch auch hier das Modell einer Grenze, wie es dem Europäer nur in Angstträumen erscheint. Wovor fürchtet sich der Sozialismus, frage ich mich, wenn er doch so sehr davon überzeugt ist, allen anderen Lehren, Ideologien, ja Wissenschaften überlegen zu sein? Oder sind das nur die Auswüchse eines unheimlichen Bürokratismus, in welchem sich jeder davor schützen muß, am Ende für irgend etwas verantwortlich gewesen zu sein?

„Scheint’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode …“

Wir sind jetzt 125 Kilometer weit ins Land gefahren.

Ein weites Land! Mit vielen kleineren und größeren Äckern, eher armseligen Dörfern, Weilern, Häusern und Hütten. Pferde ziehen Pflüge. Weiber setzen Kartoffeln. Kinder verrichten Feldarbeiten. Und überall Hühner, Enten, Gänse — ganz Polen ist wie eine einzige Geflügelfarm.

Seit die Kolchosexperimente gründlich mißlungen sind und wieder über 85 Prozent des Bodens sich in privatem, bäuerlichem Besitz befinden, hat das weite flache Land jenen öden, menschenlosen Eindruck verloren, den es zuvor in der exakt durchkolchosierten DDR noch auf den Beschauer machte.

Doch Polens Bauern werkeln größtenteils höchst rückständig. Mit Pferdepflug und Eggen wie vor beinahe tausend Jahren. Die Produkte sind dementsprechend. Bei uns würde man sagen, „unverkäufliche Qualität“. Unverkäuflich, weil für ihre Beschaffenheit viel zu teuer.

Man erfährt: natürlich bemühe sich die Regierung (und auch die Partei), den Bauern moderne Hilfsmittel zu verschaffen, so gut sie das eben kann. Motorpflüge, Traktoren, Ernte- und Saatgeräte. Um diese Hilfen rationell auszunützen, bedürfte es jedoch genossenschaftlicher oder ähnlich gemeinschaftlicher Nutzung. Allein, Polens Bauern sind mißtrauisch und stockkonservativ. Hinter allem vermuten sie den harten Griff des Staates, wittern sie förmlich eine neue Bedrohung ihrer zwar mühseligen, aber doch relativ freien Existenz.

So werkeln sie lieber nach Urväterweise. Und nach dieser versorgen sie auch Polen. Nicht bloß gelegentliche Schlangen vor allerlei Geschäften — und nicht nur vor solchen, wo es Agrarprodukte gibt! — deuten an, wie!

Polen ist das einzige kommunistische Land, welches keine gemeinsame Grenze mit einem Land hat, das nicht dem Ostblock angehört.

Die anderen sozialistischen Länder, die Rußland nach dem europäischen Westen hin vorgelagert sind, haben — oder hätten — eine „Aus- lagen-Funktion“, welcher Art auch immer. Das ist dem Geschick, Ein- fallsreichstum und der Laune dei Arrangeure überlassen. Und sie sehen sich ihrerseits einer westlichen Auslagenfront gegenüber.

Vielleicht mag gerade diese Situation dazu beigetragen haben, daß die Polen, schon immer in ihrer Geschichte fanatische Patrioten, womöglich noch patriotischer geworden sind. Jedem Polen geht Polen über alles, ob er nun Kommunist oder nicht, Katholik oder nicht, zufrieden oder nicht ist.

Das zeigt sich an hohen sozialistischen Feiertagen, wie etwa dem 1. Mai, besonders deutlich: auf zehn überall ausgestreckte Fahnen und Fähnchen kommen nur zwei rote, aber acht rot-weiße. Transparente mit den üblichen sozialistischen Parolen sind kaum zu finden. Dafür prangen überall Staats-, Provinz- und Stadtwappen, polnische Insi- nien aller Art und jeder Zahl.

Der stockpolnische Patriotismus zeigt sich aber noch ganz anders, monströser und von bewundernswerter, fast mystischer Überhöhung. Mehr als das halbe Land, über welches der große Krieg einmal hin und dann wieder herrollte, war zerstampft und zertreten. Die Städte sind oft zu mehr als 80 Prozent zerstört, Warschau, was kaum noch vorstellbar ist, sogar noch mehr. Mit den Häusern, Fabriken, Bahnhöfen, Verkehrseinrichtungen sanken auch die Paläste, die Schlösser, die Theater, die Universitäten, die Denkmäler, die Kirchen und die Klöster dahin. Der überreiche Schatz, den sich Polen in seiner Geschichte angesammelt hatte: an Gotik, Renaissance, Barock, Empire, Biedermeier und Jugendstil war wie weggewischt, wie weggeschmolzen.

Nun haben sie wohl die Hälfte davon wieder aufgebaut. Eigentlich müßte man sagen: nachgebaut. Nach alten Stichen, Plänen, Photographien, so originalgetreu wie nur irgend möglich; einzelne Komplexe, Straßenzüge, Plätze, ganze Viertel und vor allem auch die historischen Denkmäler, die Kirchen und Klöster. Das verschlingt Millionen und Milliarden.

Für die Polen, die sonst über allerlei zu klagen hätten und auch klagen, steht außer Zweifel, daß diese Unternehmung sinnvoll ist. Sie bestätigt ihnen ihre Geschichte. Ihre europäische, christliche, abendländische Geschichte.

Ein Abgeordneter des polnischen Parlaments (Sejm) skizzierte das so: „Die Deutschen haben oft im Verlaufe ihrer Geschichte wie gebannt nach dem Osten geblickt. Besonders die ostelbischen Deutschen. Auch Hitler blickte gebannt nach Osten. Wir Polen schauen, seit es uns gibt, unentwegt nach Westen. Wer vom Osten kam, fand in Warschau stets den Vorgeschmack auf Paris, wer vom Westen kam, fand ln Warschau stets die europäische Schwelle zum Osten. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Polen gehört zu Europa, mit ihm wird es steigen, mit ihm wäre es verloren.“

Polen, so wissen wir und so wird es uns immer wieder gesagt, ist ein sozialistisches Land. Und dem Sozialismus gehören Gegenwart und Zukunft.

Wir sehen, daß Polen nicht nur sozialistisch, sonder auch überaus arm ist.

Der monatliche Durchschnittsverdienst eines Arbeiters liegt bei 1800 Zloty, eines Spezialisten oder spezialisierten Angestellten bei 2500 Zloty. Ärzte, Rechtsanwälte, Intellektuelle aller Art dringen bis zu 3500, ja 4000 Zloty und ganz selten auch noch ein wenig mehr vor. Doch, so wird mir versichert, gibt es sogar Millionäre, Reiche, wie eh und je und überall. Nein, nicht iin der Partei oder in der Hochbürokratie, sondern Händler, Geschäftsleute — und Graumarktfürsten.

Die Polen sagen, ein Zloty entspreche einem Schilling. Das stimmt bei den notwendigen Grundnahrungsmitteln, bei den Mieten und anderen, lebenswichtigen Leistungen und Gütern. Aber schon gleich darüber stimmt es nicht mehr. Ein kleines Transistorradiogerät einfacher Ausführung und russischer Provenienz kostet rund 2000 Zloty, mehr als einen Monatslohn (selbstverständlich gibt es nur zwölf Monatslöhne im Jahr und keinen „Dreizehnten“ oder gar „Vierzehnten“). Der Polsky Fiat etwa kostet 180.000 bis 200.000 Zloty. Wüßten die Polen sich nicht alle irgendwie zu helfen, wie man sich in solchen Situationen eben hilft, wären selbst die bescheideneren, ja, oft die be- bescheidensten Konsumgüter, häufig recht minderer Qualität, unerreichbare Träume. Seltsamerweise sind aber auch jene in Warschau gar nicht so wenigen Läden und Geschäfte voller kauflustiger Polinnen und Polen, in denen durchaus „Westlicher Standard“ geboten wird. Freilich zu beängstigend „überwestlichen“ Preisen. So hat auch der Sozialismus seine gehobene Klasse!

Wir hören: unter Gomulka habe man sich gewaltig verspekuliert. Fasziniert von hohen Umsätzen und gigantischen Exporten habe man vergessen, der Kosten- und Ertragsseite genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Trotz der schönsten Umsätze blieben daher die Gewinne aus. Verluste wurden die Regel. Die Rationalisierung kam ins Stocken. Die Rentabilität sank. Das, was folgte!, war nicht bloß Insolvenz, das war bereits Pleite!

Und wir hören auch: Polen sei der erste kommunistische Staat gewesen, in welchem Arbeiter mit Erfolg gestreikt haben. Knapp bevor die zum Teil bereits blutigen Unruhen in ein unabsehbares Chaos mit unvorstellbaren Folgen umschlugen, geschah das zunächst Notwendige: Regierung und Parteispitze wurden ausgewechselt.

Gierek begann sein neues Werk mit Versprechungen. Bessere Produktivität. Bessere Arbeitsbedingungen. Ein wenig mehr betriebliche Demokratie. Später auch bessere Löhne. Stabilere Preise. Irgendwann, doch jedenfalls in absehbarer Zeit, werde es nun aufwärts gehen. Es gibt Polen, die meinen, selbstverständlich unter vorgehaltener Hand, die Unruhen seien damals, wenn schon nicht bestellt, so doch den Gierek-Leuten sehr gelegen gekommen. So sei die alteingesessene Anti-Gomulka-Gruppe ihren Buhmann losgeworden. Und Ostexperten meinen, es werde sich erst zeigen, ob die Russen das so schockiert habe, wie einige Kreml-Astrologen glaubten, oder ob es ihnen nicht vielmehr Spaß gemacht hat.

An allem mag etwas Wahres sein. Und dieser Umstand verbreitet eine vage, ja, oft diffuse Stimmung, die jene vibrierende Unsicherheit schafft, der man allerortens begegnet.

Es gibt keinen Grund zur Sorge, heißt es offiziell. Was Gomulka nicht gelang, sei Gierek bereits gelungen. Die Sowjetunion steuerte einen 500-Millionen-Dollar-Kredit zum Sanierungswerk bei. Man sucht nun die industrielle Kooperation mit westlichen Firmen, denn Fiat war da nur ein Anfang.

Doch die Regierung steht unter einem ganz besonderen Druck. Sie muß schon sehr bald jedem Polen eine spürbare Verbesserung des Standards bieten. Und sie wird höhere Löhne zahlen müssen. Sie wird daher nicht bloß, was sie jedoch müßte, langfristige Investitionen im Auge haben können, sondern viele kurzfristige, konsumfördernde und Konsumgüter schaffende Investitionen treffen müssen.

Wie nun, wenn die großen Kredite verbraucht sind, ohne die erwünschte Wirkung erzielt zu haben?

Eine Frage, der man lieber aus- weicht. Und doch: eine Lebensfrage für Gierek, für den Sozialismus, für Polen! Und wohl auch eine wichtige Frage für die Sowjetunion!

Einst hieß er Rapacki-Plan, jetzt heißt es „Europäische Sicherheitskonferenz“. Die Polen sind — selbstverständlich —dafür. Wofür sie aber noch viel mehr sind, ist, daß ihr eigenes „Grundbuch der Geschichte“ endlich in Ordnung gebracht wird.

Die Geschichte Polens ist auch eine Geschichte der wiederholten Teilungen dieses Landes. Zuletzt teilten es Hitler und Stalin unter sich auf, denn jeder hatte noch eine alte, nationale Rechnung offen. Wieder einmal verschwand Polen von der Landkarte. Als bald darauf auch Hitler verschwunden war, entstand Polen wieder. Doch Stalin zuliebe verschoben Roosevelt und Churchill das Land einfach um einige hundert Kilometer nach dem Westen, politisch freilich nicht, da wurde Polen dem Osten nahtlos eingefügt. Doch geographisch rückte es weit in ehemals deutsches Land hinein.

Die Polen sind gebrannte Kinder der Geschichte. Sie wissen zu gut, wie „alte Titel“ entstehen können, wie sie geltend gemacht werden und wie man sie oft nach einem Jahrhundert und mehr wieder hervorholen kann. Auch wenn „die Realitäten“ heute ganz für Polen sprechen: sie wollen auch noch morgen und übermorgen ihre Ordnung haben. Der erste Punkt dieser Ordnung heißt „Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze“. Der Weg dorthin führt über die mit Bonn ausgehandelten Verträge. Diese wurden zwar textiert, nicht aber ratifiziert. Erst die hinterlegte Urkunde ist den Polen jene „grundbücherliche Bestätigung“ ohne welcher es für sie keine neue deutsche Ostpolitik gibt.

Für die Bundesrepublik, meinen die Polen, sei das ohnehin nur ein Formalakt, ein Zeichen guten Willens. Denn mit der DDR, dem deutschen Nachbarn Polens, gebe es darüber ohnedies keine Meinungsverschiedenheiten.

Alą Nebenleistung einigte man sich auf die Rückführung jener noch in Polen lebenden Deutschen, von denen Bonn sagt, es seien 100.000, die in die Bundesrepublik möchten, die Polen wollen aber nur von 40.000 wissen. Die ersten Transporte sind bereits gelaufen. Dann aber stockte das Unternehmen plötzlich. Die Polen meinen, man sollte besser auf die Ratifizierung der Verträge warten, ehe man den Deutschen die von diesen bitter benötigten Arbeitskräfte „liefere“. Denn daß diese Abwanderer auch wirklich Deutsche sind, das wollen die Polen 26 Jahre nach der Landnahme nicht glauben. Sie vermuten vielmehr „Halb- und Vierteldeutsche, die unkritisch nach dem goldenen Westen streben, in dem sie billige Volkswagen, prächtige Wohnungen und Häuser, viel Geld und wenig, aber dafür angenehme Arbeit zu finden hoffen“. So sei das also weniger eine humanitäre als vielmehr eine politische Frage. Man muß gar kein Prophet sein, um vorauszusagen, worauf sie sich zuspitzen wird: Hier Unterschrift, Hier Arbeitskräfte! Ecce homo!

Was für westliche Europäer unsäglich seltsam ist: man wird beim Verlassen sozialistischer Länder mit womöglich noch größerer Akribie kontrolliert als wenn man sie betreten will. Was immer die Gründe dafür sein mögen — man vermißt die gerade vom Sozialismus verheißene Internationalität, • die behauptete objektive und subjektive Überlegenheit. Es riecht vielmehr nach Komplexen und kleinlichen Ängsten.

Akribie und Präzision, um es einmal nachsichtig auszudrücken, waren schon immer ein besonderes Talent der Deutschen. So wunderte es niemanden, daß sie darin die nonchalanteren, charmanteren und eleganteren Polen wiederum bei weitem übertrafen. Die Deutschen der neo-preußisch-national-sozialen Demokratischen Republik, versteht sich. Die mir das beklemmende Gefühl vermitteln, schon an ihrer Grenze sehr fern von Europa zu sein…

* so wurde die Galauniform genannt.

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