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Seton-Watson über Seton-Watson

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Robert W. Seton-Watson (1879 bis 1951) dürfte den ersten Rang unter den politischen Publizisten beanspruchen, die vor und während des Ersten Weltkriegs am stärksten die öffentliche Meinung der Welt gegen Österreich-Ungarn beeinflußt haben. Um so mehr ist es beachtenswert, wenn jetzt sein Sohn Hugh Seton-Watson, Professor an der School of Slavonic and Eastern Studies der Universität London, in einem Rückblick auf die Einstellung seines Vaters zur Habsburger Monarchie ein ganz anderes Image seines Vaters formuliert. Demnach hielt sich dieser für einen Freund Österreichs und glaubte er, auch dafür gehalten zu werden.

Seton-Watsons sen. freundliche Einstellung zu Österreich-Ungarn wurde nach Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 sofort offenkundig: Von nun an,, so schrieb er seiner Frau, müßten „wir“, und darunter sind mehr als Staaten der damaligen Entente zu verstehen, einen „großserbischen Staat“ mit Einschluß von „Dalmatien, Bosnien, Kroatien, Ist-rien“ schaffen. Rumänien, das erst zwei Jahre später der Monarchie den Krieg erklärte, müsse „seine Verwandten“ in Österreich-Ungarn haben. Und das Jahr 1914 ging nicht zu Ende, da war sich Seton-Watson sen. auch bereits mit seinem Freund Thomas Masaryk über das künftige Schicksal der böhmischen Länder einig. Das kalkulierte Risiko, wonach erst mit dem Verlust Böhmens der Zusammenbruch Österreich-Ungarn unvermeidlich werden mußte, akzeptierte er.

FRIEDRICH FUNDER WIRD HEUTE von politischen Publizisten, denen es um alles eher als um Österreich und den Katholizismus, um eine christliche Sozialreform und das konservative Prinzip geht, gerne in den Zeugenstand der Geschichte gerufen, um mit der Nennung dieses Namens eigene „Unvoreingenom-menheit“ sowie „Aufgeschlossenheit“ für die von Funder vertretenen Werte zu bekunden. Daher streicht Seton-Watson jun. im Jahre 1974, vierzig Jahre nach Sarajewo 1914, heraus, was Tendenz der seinerzeitigen Briefe seines Vaters an Funder gewesen ist: Seine Trauer über die „Schrek-kensnachricht“ aus Sarajewo, die Furcht, seine „slawischen Freunde“ würden wohl am meisten zu leiden haben, „und der willkürliche Hinweis, man brauche leider nicht nach Belgrad zu gehen, um die Erklärung für dieses Verbrechen zu finden.“ In einem gleichzeitigen Schreiben an den ihm eher kongenialen österreichischen Liberalen Joseph Redlich machte Seton-Watson sen. aus seinem Herzen keine Mördergrube. Ihm darf er anvertrauen, die Entwicklung nach Sarajewo hätte ihn nicht so sehr mit Entsetzen, als mit Wut erfüllt. Wut über da Ultimatum, das die Monarchie vier Wochen nach dem Mord an Franz Ferdinand an Serbien richtete, nachdem die dortige Regierung beharrlich leugnete, was nicht erst heute über die Hintermänner des Mordes bekannt ist. Mag man darüber streiten, wie gut der damalige k. u. k. Minister des Äußeren bei der Absendung des Ultimatums beraten war und wie sachlich kompetent seine diesbezüglichen Ratgeber waren. Sicher ist, daß England es in derlei Fällen eher mit der Entschiedenheit hält, „to kopenha-gue“ einen Staat im Frieden. Was heißt, dessen Flotte zu zerstören, wie einmal vor Kopenhagen und 1940 vor Oran. Die Wut Seton-Watsons entzündete sich an der Enttäuschung wegen des momentanen Scheiterns gewisser Pläne, die er mit serbischen Politikern wie Pasdc, Protic und so weiter fertig hatte. Mit Protic, der schon vier Jahre vor 1914 öffentlich verlauet hatte, er könne sich eine Nachbarschaft zu Österreich nur mehr vorstellen, wenn dieses die Rolle einer „östlichen Schweiz“ angenommen hat.

Funder, der in seinen umfangreichen Memoiren so viele Politiker, Staatsmänner und Publizisten seiner Zeit Revue passieren läßt, nennt Seton-Watson nicht einmal im Namensregister seines Werkes. Er gehörte eben nicht zu jenen Österreichern, die sich von ein und demselben „Freund“ mehrmals hinters Licht führen ließen.

SETON-WATSON SEN. KAM 1905 aus jenem England zum ersten Mal nach Österreich, in dem man mit einer schrankenlosen Hybris betonte: We Liberais. In dieser Vormacht des Imperialismus war noch der Nachhall jener Rede des liberalen Premierministers Gladstone, in der dieser inmitten eines um sich greifenden Kolonialismus behauptete: „Auf der ganzen Erde gibt es nicht einen Fleck, auf den ihr eure Finger legen und sagen könntet: hier hat Österreich gutes getan“. Ob Seton-Watson sen. in England konservativ oder liberal gewählt hat, wird in dem jetzigen Aufsatz nicht erwähnt; ein solcher Hinweis wäre auch betreffs einer Epoche entbehrlich, in der Win-ston Churchill zwischen Konservativen und Liberalen seine politischen Rochaden aufführte.

EINE HÖFLICHKEIT IST ES, Seton-Watson sen. politische Naivität zuzumuten, wenn dieser 1909, nach dem endgültigen Bruch Serbiens mit Österreich-Ungarn sowie nach Abschluß des britisch-russischen Bündnisvertrags den Serben eine „kroatisch-serbische Einheit“ innerhalb der Monarchie zumutet. Wenn solche österreichische Gesprächspartner Seton-Watsons wie Joseph Redlich, Joseph Baernreither, Karl Renner und andere nach, der österreichischen Annexion von Bosnien und der Herzegowina auch nur in einer Gesprächsphase diese Lösungsvariante der „südslawischen Frage“ erwähnt haben sollten, dann wäre es die Äußerung eines Utopis-mus gewesen, der diesen Politikern nicht zuzutrauen ist. Von seinen südslawischen Gesprächspartnern, die sich stets von ihren „intransigen-ten klerikalen“ Konnationalen scharf zu unterscheiden wüßten, wurde dem landfremden Engländer ein solches Wort sicher nicht etngeblasen. Und mit „intrasigenten Klerikalen“ redete damals Seton-Wätson sen. in Wien, in Agram, in Laibach und an irgendeinem Ort der Monarchie wohl selten und wenn, dann jedenfalls nicht so offenherzig wie mit jenen,die mindestens mit dolus eventualis die Zerstörung der Monarchie betrieben haben.

ERST IM SOMMER 1918, nachdem Frankreich, Großbritannien und die USA in aller Offenheit die vollständige Zerstörung Österreich-Ungarns zu ihrem Kriegsziel erklärt hatten, brach unter den slawischen Bevölkerungsteilen der Monarchie der bis dahin vielfach vorhandene Wille für ein Überdauern im jahrhundertealten Zusammenhalt endgültig zusammen. Es bleibt umstritten, wie stark die Sezessionsbestrebungen im Viervölkerstaat Österreich-Ungarn zuletzt gewesen sind und wieviel Kraft schließlich die verantwortlichen Politiker und Staatsmänner des Multinational Empire noch übrig hatten. Tatsache ist, daß es eines vierjährigen Vierfrontenkriegs bedurfte, um mit Unterstützung der damaligen Supermächte dieses „wurmstichige Orloogschiff“ (Otto von Bismarck) zu versenken.

MAX BROD, Prager Jude, Zionist und Sozialist, schreibt als Tatzeuge des Entstehens der CSSR im Jahre 1918, wie „nobel“ das alte Österreich abgetreten sei; wie es den revolutionären Tschechen Amtslokale, Eisenbahnen, Institute, alles unversehrt zur Verfügung gestellt hätte. „Die verfluchte Bestie Österreich“ hat-eben nicht, wie es der urtschechische Politiker Habermann seinen Kona-tionalen Wenzel Klofac einreden wollte, „noch im Verröcheln versucht, um sich zu fetzen und sich an uns (den Tschechen) zu rächen“. Und also kommt Brod zu seinem Vergleich der unfreiwilligen Übergabe der Staatsgewalt an die Tschechen im Jahr 1918 mit der der Engländer an den neuen Staat Israel: „Die Briten dagegen — ihre Absicht war, zunächst einmal alles zu zerschlagen, ehe sie gingen.“

Emotionale Äußerungen von Tatzeugen umstürzender Ereignisse müssen nicht immer einer nachträglichen geschichtlichen Durchleuchtung standhalten. Also ist es jetzt, nachdem die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns ihre Erfahrungen in nationalen und sozialen Revolutionen gemacht haben, besser, die posthum erfolgten Beurteilungen der gewesenen Monarchie ins Treffen zu führen:

Eduard Benesch, gestorben 1948 nach Sanktionierung der Machtübernahme durch die Kommunisten in der CSR, schrieb 1920, als er noch der Erfolgsgeneration des 1918 neuentstandenen Staates angehörte: Die „Tschechen haben (vor 1918) nicht um politische Freiheit gekämpft — denn dieser hätten sie sich selbst vor dem Krieg erfreut —, sondern für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit“. Und deswegen waren sie 1920 gegen eine wirtschaftliche Föderation der Donaustaaten.

30 Jahre nachher reklamieren die 1968 aus der CSSR geflohenen tschechischen Kommunisten wenigstens soviel Freiheit für ihr Land, als dieses unter Kaiser Franz Joseph gehabt hat.

Seton-Watson jun. besuchte mich während der ungarischen Tragödie des Jahres 1956 in meinem Büro am Minoritenplatz. Ich weiß nicht, wieviele seiner Gedanken in diesen Tagen mit seinen britischen Landsleuten waren, die eben den Versuch machten, die imperialistische Invasion in Ägypten von 1884 zu wiederholen; und wieviel bei den von seinem Vater mäßig geliebten Magyaren, die Wimston Churchill während des Zweiten Weltkriegs dem Staldnis-mus überantwortet hatte. Es war dies für uns Österreicher nicht die Stunde, um historische Reminiszenzen aufzuwühlen. Wer waren eben daran, unzähligen Ungarn zu helfen, die über unsere Grenze strömten, um gerade jenem Fortschritt zu entgehen, den auch die westlichen Alliierten nach Yalta 1945 den Menschen in Ostmitteleuropa zugedacht haben.

Die Toten haben immer unrecht. Viel anderes können die Sieger von 1918 und 1945 in ihrem Interesse dem Multinational Empire der Habsburger nicht zubilligen. Selbst wenn sich jetzt Historiker und Politiker nachträgliche Gedanken über die nunmehr endgültige Zerbröselung Mitteleuropas machen. Wir haben es erlebt, wie reichlich Seton-Watsons Saat aufgegangen ist. Und wir waren auch Zeugen des Hagelschlags, der schon die erste Blüte vernichtete. Kranzniederlegungen am Grab Alt-österreicha als Zeichen einer sehr fragwürdigen Freundschaft zum gewesenen Altösterreich sind unnötig.

R. S. SETON-WATSONS EINSTELLUNG ZUR HABSBURGER MONARCHIE 1906 — 1914. Von Hugh Seton-Watson, in „Österreich in Geschichte und Literatur“, Jahrgang 1973, Heft 6, Seite 361 ff, Wien 1974, AU ISSN 0029 — 8743.

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