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Verrat am Westen?

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Keine der bisherigen Sozialenzykliken der Kirche hat eine so heftige Reaktion der Weltpresse ausgelöst wie „Sollicitudo rei so-cialis“. Die Pressestimmen gehen von einer radikalen Ablehnung hin bis zu einer begeisterten Aufnahme.

Es war vorauszusehen, daß die massive Kritik Johannes Pauls II. am liberalen Kapitalismus heftigen Widerstand auslösen würde. Am schwersten traf dabei seine Beurteilung der beiden Blöcke Ost und West als „Strukturen der Sünde“. Das bedeutet, so sagte man, daß der Papst die beiden Systeme auf die gleiche moralische beziehungsweise amoralische Stufe stellt. Man hätte vom Papst erwartet, daß er zwischen Kapita-

lismus und Kollektivismus einen eindeutigen Unterschied mache. Man gibt zu, daß der Kapitalismus öfters versagt hat, aber der Kollektivismus hat nie funktioniert. Und was noch wichtiger ist: Eine Reihe von Menschenrechten, die Johannes Paul II. in seiner Enzyklika einfordert, zum Beispiel das Recht auf Religionsfreiheit und unternehmerische Initia-tive^sind nur in dem so hart kritisierten Kapitalismus gesichert. Und übrigens: Der liberale Kapitalismus, von dem die Enzyklika spricht, gehört der Vergangenheit an.

Die Kritiker der Enzyklika führen noch eine kirchenpolitische Vermutung an: Die Säkularisierung der westlichen Welt ist eine unübersehbare Tatsache. Der Osten bleibt mit wenigen Ausnahmen der Kirche auch morgen verschlossen. Wendet sich die Kirche daher mit verstärktem Interesse jenen Ländern zu, die sowohl bevölkerungsmäßig als auch in ihrer religiösen Zugehörigkeit kirchliche Zukunftsländer sind? Ist mit dieser Enzyklika der „Abschied vom Westen“ offen ausgesprochen?

Eine zweite Gruppe der Pressestimmen steht der neuen Sozialenzyklika durchaus positiv gegenüber. Sie ist davon überzeugt, daß es dem Papst nicht darum ging, „Äquidistanz“ zwischen Ost und West zu predigen. Sein Hauptanliegen ist die himmelschreiende Not der Dritten Welt. Darum wollte er den Industrieländern in das Gewissen schreien und sie zu einer Bekehrung zugunsten der Entwicklungsländer motivieren. Einem Schrei geht es nicht um eine erschöpfende Beweisführung. Er will um Hilfe rufen.

Diese zweite Gruppe der Pressestimmen hat durchaus auch An-

fragen an „Sollicitudo rei socia-lis“. Nicht wenige sind der Meinung, daß die Mitschuld und Mitverantwortung der Dritten Welt am Elend der Unterentwicklung zu wenig gesehen wird. Diese Tatsache hätte nicht erst am Schluß der Enzyklika erwähnt gehört, sondern bereits in der Analyse der Situation der Welt von heute. Wenn in den Entwicklungsländern selber nicht ganz entscheidende Reformen durchgeführt werden, ist eine verstärkte Hilfe von außen immer nur sehr begrenzt wirksam.

Auffallend ist dieses: Relativ wenige Pressestimmen gehen auf die „theologische Analyse“ der Enzyklika ein, das heißt auf die Haltung der Habsucht und Herrschsucht als Wurzeln der „Strukturen der Sünde“, die die Entwicklung der Völker verhindern. Man tut sich schwer, dem Papst in diese Tiefe zu folgen. Für Johannes Paul II. aber liegt gerade hier das Hauptproblem.

Die Pressestimmen auf „Sollicitudo rei socialis“ aus den Entwicklungsländern sind fast einstimmig von einer begeisterten Aufnahme gekennzeichnet. Viele sind überzeugt, daß es der Kirche mit dieser Enzyklika gelungen ist, das Problem der Entwicklung mit den Augen der Dritten Welt zu sehen.

Mit großer Dankbarkeit wird von den Entwicklungsländern aufgenommen, daß die Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ den rein wirtschaftlichen Begriff von Entwicklung ablehnt, der eine bloße Kopie der Industrieländer im Auge hat. Für Johannes Paul II. bedeutet Entwicklung zweifellos auch einen wirtschaftlich-technischen Fortschritt. Aber er muß wesentlich mit der sozialen, geistigen und religiösen Entwicklung verbunden sein. Es gibt nicht nur ein westliches Modell von Entwicklung. Es gibt auch eine Entwicklung, die auf der eigenen Tradition aufbaut, die eigenen Kulturwerte bewahrt und Formen der Solidarität kennt, die anderswo untergegangen sind. Für nicht wenige Entwicklungsländer liegt hier eine große Hoffnung.

So weit eine erste Ubersicht über die Reaktionen der Weltpresse auf die Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“. Es ist hier nicht möglich, auf diese Stimmen näher einzugehen. Das soll einer späteren Arbeit vorbehalten sein. Bedeutsam aber ist dieses: Wenn „Sollicitudo rei socialis“ ein so weltweites Echo gefunden hat, dann ist das grundsätzlich positiv. Es zeigt, daß die Welt die Stimme der Kirche ernst nimmt und sich mit ihr auseinandersetzt. Das war nicht immer so. Darum muß dieser Dialog weitergeführt werden.

Der Autor ist Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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