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mozaik

DISKURS
Mozaik - © Illustration: Rainer Messerklinger

Erdbeerland

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet.

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Mit sechs Jahren entzifferte ich eines meiner ersten deutschen Wörter: „Erdbeere“. Es prangte in roten Lettern auf dem großen Marmeladetopf aus Plastik, der im Zielpunkt im Dauerangebot war. Ich schmierte mir das glibberige Gelee, das Erdbeeren nur spurenweise enthielt, dick aufs Brot und wiederholte mit vollem Mund und rollendem r immer wieder dasselbe Wort. In meiner Volksschulzeit fuhr ich mit Mutter gerne ins Erdbeerland. Oft holte sie mich dabei vom schrecklichen Zahnarztstuhl ab und beförderte mich direkt ins Beerenglück. Mit angeschwollener Backe und blutigen Watteröllchen, die mir immer noch im Mund steckten, sammelte ich glücklich aufgeplusterte Beeren.

Eines Tages besuchten wir in Klagenfurt den Minimundus, eine Miniaturwelt, die geschrumpfte Sehenswürdigkeiten enthielt. Kaum angekommen, packte ich Mutters Erdbeerbrot aus und nahm hastig einen Bissen. Da flog eine Wespe in meinen Mund. Reflexartig spuckte ich ein halbzerbissenes Stück Beerenbrot auf den Eiffelturm. Mutter nahm mich bei der Hand, und schamvoll schlichen wir uns davon. Als ich viele Jahre später in Paris vor dem echten Eiffelturm stand, stellte ich mir vor, dass auf seiner Spitze eine Riesenerdbeere stecke. Ich hielt Ausschau nach einer Wespe und googelte das französische Wort für „Erdbeere“. Fraise klingt aus meinem Mund wie „Fresse“.

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