"Der Kapitalismus liegt am Boden"

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"Mit Ecken und christlichen Kanten" - so würdigte ihn die FAZ zu seinem 70. Geburtstag am 21. Juli: Norbert Blüm, 16 Jahre lang unter Helmut Kohl Arbeits- und Sozialminister. Dieser Tage hielt er in Wien die Festrede aus Anlass des 50jährigen Bestehens des ASVG. Die furche sprach mit ihm über Angela Merkel, Oskar Lafontaine und Joseph Ratzinger.

Die Furche: Sie sind binnen relativ kurzer Zeit zum zweiten Mal in Österreich - kommen Sie gerne hierher?

Norbert Blüm: Also ich finde, Wien atmet Geschichte; das ist nicht irgendeine Retortenstadt.

Die Furche: Kommen Sie auch deshalb gerne nach Österreich, weil es, wie man zuletzt mehrfach in deutschen Medien lesen konnte, das "bessere Deutschland" ist?

Blüm: Was den Sozialstaat angeht, hat Österreich das Problem besser gemeistert als wir. Wobei in beiden Fällen gilt: Die Bäume wachsen nicht in den Himmel, aber Österreich hat sich doch nicht so wie Deutschland auf den neoliberalen Trip begeben.

Die Furche: Nun meinen aber viele Beobachter in Österreich, genau das sei seit dem Antritt der Mitte-Rechts-Regierung unter Wolfgang Schüssel passiert: Der Turbokapitalismus habe Einzug gehalten und soziale Kälte ins Land gebracht ...

Blüm: Also als Neoliberalen habe ich Schüssel nie gesehen. Mir geht es aber um etwas Grundsätzliches: Ich glaube, die Chancen für christlichsoziale Politik waren nie größer als heute. Kommunismus und Kapitalismus liegen am Boden - der eine weiß es noch nicht, im anderen Fall ist es evident.

Die Furche: Die - der Sozialromantik unverdächtige - faz hat zu ihrem 70. Geburtstag geschrieben: "... in Wahrheit klafft die Lücke, die nach Blüms Abgang entstand, weiterhin sperrangelweit."

Blüm: Das Schlimme ist, dass der Virus des Neoliberalismus in allen Parteien wütet - leider auch in meiner. Die cdu ist von ihrer Gründung her eine Koalition aus Christlichsozialen, Liberalen und Konservativen. Die Soziale Marktwirtschaft ist aus dieser Konstellation heraus entstanden. Und was das Konservative anlangt: Heute gehört mehr Mut dazu, etwas Bestehendes zu verteidigen, als etwas Neues zu fordern. Dass der Mensch Mensch ist und nicht ein Produkt aus der Retorte; dass die Welt nicht das Material unserer Habgier ist; dass der Sozialstaat auf Solidarität angewiesen ist: das sind alles konservative Überzeugungen.

Die Furche: Im erwähnten faz-Artikel heißt es auch, die cdu tut so, "als habe Blüm ... seiner Partei nichts mehr zu sagen".

Blüm: Ach, wissen Sie, ich pfeif' mein Lied, egal, wer zuhört. Und - ich bin felsenfest überzeugt, dass wir in einer Zwischenphase leben. In längstens zehn Jahren ist das jetzige System am Ende. Eine Union (cdu/csu; Anm.) aber, die das nicht rechtzeitig begreift, der könnte das Schicksal der Democrazia Cristiana drohen - dann werden die Karten komplett neu gemischt.

Die Furche: In einem Interview mit der "Berliner Zeitung" im Juli haben Sie über Angela Merkel gesagt: "Ich werde sie unterstützen, so ist das nun mal." Begeisterung klingt anders ...

Blüm: Entscheidend ist, wo das Kreuz am Wahltag gemacht wird - mit wieviel Nachdruck das geschieht, ist ja letztlich egal. Die Entscheidung fällt mir angesichts der Alternative Gerhard Schröder auch nicht schwer; aber in der Tat hat Merkel Vorstellungen vom Sozialstaat, die nicht meinen entsprechen.

Die Furche: Hat die Nominierung von Paul Kirchhof als Finanzexperten es Ihnen noch einmal schwerer gemacht, Merkel zu unterstützen?

Blüm: Also ich sage Ihnen: Die Flat tax (einheitlicher Steuersatz von 25 Prozent; Anm.) wird nicht kommen. Wir wollen Schulden abbauen - das ist wichtig; wir wollen für die Familien mehr leisten - das ist wichtig; aber alles gleichzeitig wird nicht gehen. Ich bin auch für Steuervereinfachungen, ich glaube, dass das jetzige System schon deshalb nicht gerecht ist, weil es nur die Cleveren durchschauen ...

Die Furche: ... und entsprechend die Schlupflöcher zu nutzen wissen, um möglichst wenig Steuern zu zahlen ...

Blüm: ... aber deshalb muss es ja noch keinen Einheitssteuersatz geben. Freilich, vor die Wahl gestellt: niedrigere Sätze, die auch gezahlt werden, oder hohe Sätze, die keiner zahlt - bin ich für Ersteres.

Die Furche: Das heißt, die Richtung der Union stimmt immerhin?

Blüm: Ich denke, es geht nicht primär um die Steuerfrage. Was mich hauptsächlich stört, ist, dass über den Sozialstaat nur unter dem Kostenaspekt diskutiert wird. Wenn wir Globalisierung auf eine Olympiade in der Disziplin "Wer produziert am günstigsten" reduzieren, dann müssen wir die Kinderarbeit wieder einführen.

Die Furche: So gehen eben die Unternehmen dorthin, wo es Kinderarbeit gibt.

Blüm: Richtig. Also brauchen wir globale Sozialstandards - sonst geht die Welt vor die Hunde.

Die Furche: Nun gibt es eine Partei, die vieles von dem, was Sie thematisieren, sich auf ihre Fahnen geheftet hat - die Linkspartei von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi ...

Blüm: Die verdankt sich nur den von Schröder herbeigeführten Neuwahlen. Hätten wir regulär gewählt, hätten die diese Partei nie zustande gebracht. Sie ist programmatisch völlig heterogen: Das sind alte sed-Betonköpfe ebenso wie moderne Sozialstaatsverteidiger.

Die Furche: Lassen wir die Postkommunisten einmal beiseite - was ist mit dem "westlichen" Teil der Partei, also mit Lafontaine?

Blüm: Ich bin prinzipiell dafür, nicht neue Parteien zu gründen, sondern die Auseinandersetzung innerhalb der großen Volksparteien zu führen. Und ich bin auch inhaltlich nicht mit allem im Detail einverstanden. Aber im grundsätzlichen Befund, dass der Sozialstaat ein konstitutiver Bestandteil der Marktwirtschaft ist und dass das zur Zeit zu kurz kommt, stimme ich Lafontaine zu.

Die Furche: Sie haben während des Weltjugendtages in Köln sechs italienische Pilger beherbergt. Was war denn Ihr Eindruck von Joseph Ratzingers erstem Deutschlandbesuch als Papst?

Blüm: Mir hat gefallen, dass er bescheiden aufgetreten ist und dass er in den Mittelpunkt seiner Ansprachen theologische Fragen gestellt hat. Die Kirche ist mehr als eine soziale Agentur; wenn sie nicht fromm ist, hat sie auch keine soziale Stärke.

Die Furche: Was würden Sie sich von der Kirche wünschen?

Blüm: Es bräuchte kraftvolle Zeichen. Pius xii. hat Kommunisten exkommuniziert. Das ist zwar hart, aber immerhin hat er klar gemacht, wo die Grenzen der Kirche sind. Man könnte ruhig heute auch große Ausbeuter exkommunizieren; wer etwa auf dem Gewissen hat, dass Kinder verrecken, hat mit der Kirche nichts zu tun - das muss man klar sagen. Wir brauchen keine neuen Enzykliken, wir haben keinen Mangel an Theorie - wir haben einen Mangel an Mut.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

Metaller, Sozialreformer, Kinderbuchautor

Blüm wurde am 21. Juli 1935 in Rüsselsheim als Sohn eines Kfz-Schlossers und Busfahrers geboren. Nach der Volksschule wurde er zum Werkzeugmacher beim Automobilhersteller Opel in seiner Heimatstadt ausgebildet, trat 1949 in die ig Metall und 1950 in die cdu ein. Im Abendgymnasium in Mainz holte er das Abitur nach und studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie und Soziologie in Köln und Bonn. Nach dem Studium wurde Blüm 1968 zunächst Hauptgeschäftsführer der cdu-Sozialausschüsse, 1972 zog Blüm erstmals in den Bundestag ein. 1982 wurde er Bundesminister für Arbeit und Soziales im ersten Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl - und blieb die ganzen 16 Jahre der Ära Kohl in dieser Position. Mit Blüms Namen verbinden sich zahlreiche sozialpolitische Weichenstellungen und Reformen. Als größte sozialpolitische Leistung seit der deutschen Wiedervereinigung rechnete sich Blüms Arbeitsministerium die Einführung der Pflegeversicherung zum 1. Jänner 1995 an, die erst nach langwierigen Verhandlungen gegen den anfänglichen Widerstand des Koalitionspartners fdp durchgesetzt werden konnte. Nach dem Wahlsieg von spd und Grünen 1998 zog sich Blüm schrittweise aus der aktiven Politik zurück. Anfang 1999 gab er nach zwölf Jahren den Landesvorsitz der cdu in Nordrhein-Westfalen auf, im Oktober 2002 schied er aus dem Bundestag aus. Blüm trat vermehrt auch als Autor unter anderem von Kinderbüchern hervor. Er engagiert sich zusammen mit dem Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, und Ex-cdu-Generalsekretär Heiner Geißler für Menschen- und Kinderrechte vor allem in den Entwicklungsländern. Joachim Sondermann/ap

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