"Bis die WAHRHEIT auf den Tisch kommt"

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2017 jährt sich der MH17-Abschuss zum dritten Mal. Die Ermittlungen verlaufen langsam. Eine Gruppe Angehöriger will sich damit nicht abfinden.

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2017 jährt sich der MH17-Abschuss zum dritten Mal. Die Ermittlungen verlaufen langsam. Eine Gruppe Angehöriger will sich damit nicht abfinden.

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Juli 2014: in Nieuwegein bei Utrecht treffen die Hinterbliebenen der niederländischen Opfer der MH17-Flugkatastrophe erstmals mit Premierminister Mark Rutte zusammen. Vier Tage sind vergangen, seit das Flugzeug von Malaysian Airlines über der Ostukraine abgeschossen wurde. Das Land verkehrt in Schockzustand. 193 der 298 Opfer sind Niederländer. Rutte steht unter Druck. Unmittelbar nach dem Abschuss hat er gesagt, nicht ruhen zu wollen, bis die Verantwortlichen vor Gericht stehen und dafür "den untersten Stein nach oben" zu holen.

Der erste der Angehörigen, der zum Mikrofon geht, ist Hans de Borst, ein schlanker, grauhaariger Mann Anfang 50. Wie viele andere ist er zornig und verletzt wegen dieser TV-Bilder: betrunkene Separatisten an der Absturzstelle, die um die Besitztümer der Opfer herumstehen. Wäre ein Flugzeug voller Amerikaner oder Russen abgeschossen worden, sagt er bitter, hätte man das Gebiet längst abgesichert und die Leichen geborgen. Dass die niederländische Regierung eher diplomatisch um Zugang zur Absturzstelle ersucht, dafür hat er kein Verständnis.

Viele Fragezeichen

Ende November 2016 treffen Rutte und De Borst sich wieder. Der Premier empfängt den geschiedenen Vater der 17-jährigen Elsemiek an seinem Amtssitz, zusammen mit vier anderen Vertretern der "Arbeitsgruppe Wahrheitsfindung", die insgesamt rund 20 Familien umfasst. Alle haben an Bord von MH17 jemanden verloren, und alle eint das Gefühl, dass die Aufklärung dessen, was an jenem 17. Juli 2014 geschah, ein wenig Druck von außen vertragen kann - auch wenn das internationale Joint Investigation Team (JIT) im Herbst einen Report veröffentlichte, der eine BUK-Rakete aus Separatistengebiet als Tatwaffe anweist und ihre Lieferung aus Russland deutlich nachvollzieht.

Wer Hans de Borst zu Hause besucht, begreift, was der MH17abschuss für die Niederlande bedeutet. Er lebt in einer Reihenhaus-Siedlung im Städtchen Monster vor den Toren Den Haags. Ein idyllisches Suburbia hinter den Dünen, von der Wintersonne beschienen. Genau hierhin kommt Elsemiek de Borst nicht mehr zurück, und genau hier hörte für ihren Vater die Welt auf sich zu drehen, zumindest für eine Weile. Genau hier, auch hier. Denn überall im Land liegen Orte, an denen ein MH17-Passagier für immer fehlt.

Was er und die anderen dem Premier sagen wollen? Wieder einmal bereitet die Informationslage Hans de Borst Sorgen. "Neulich sagte Julie Bishop, die australische Außenministerin, bis zum Jahresende seien die Täter bekannt. Und der malaysische Premier tönte, man hätte eine konkrete Anzahl Verdächtiger im Auge. Sprechen wir die Staatsanwaltschaft darauf an, sagen sie, dass sie diejenigen sind, die die Ermittlungen durchführen. Nichts weiter. Wissen die Anderen etwa doch mehr? Das bereitet uns Verdruss."

Als sich die Arbeitsgruppe neulich traf, beschloss man den Premier zu fragen, was sich tun lässt gegen dieses Verbreiten halbgarer Informationen. Und auch die Sache mit dem Luftraum will man ansprechen: den hätte die Ukraine einfach schließen müssen. Dass davon im JIT-Report nicht mehr die Rede war, ist De Borst und seinen Mitstreitern ein Rätsel: "Unterhalb von 10.000 Metern ist Krieg und oberhalb Ferien? Das kann doch nicht sein!"

Es war am Neujahrstag 2016, als die Arbeitsgruppe Wahrheitsfindung erstmals zusammenkam. Die Stimmung unter den Hinterbliebenen war, neben aller Trauer, geprägt von Wut und Enttäuschung. Im Herbst 2015 hatte der niederländische Sicherheitsrat, der Katastrophen aller Arten untersucht, einen Abschlussbericht präsentiert, obwohl weder Russland noch die Ukraine primäre Radar-Bilder des Abschusses vorgelegt hatten. Die "Stiftung MH17", die alle Hinterbliebenen vertritt, nahm dies zur Kenntnis, ohne eigene Forderungen zu stellen. "Doch wir fanden es nötig die Politik etwas anzutreiben", erklärt Hans de Borst. "Wir wollen stärker in Erscheinung treten, als es die Stiftung tut."

Vertuschung statt Aufklärung

Eigene Untersuchungen führt die Arbeitsgruppe nicht durch. Aber man beschloss an jenem Neujahrstag sich direkt an die politisch Verantwortlichen zu wenden. Und im engen Austausch über alles zu bleiben, was zum Thema MH17 veröffentlich wird. Zuletzt meldete sich der ukrainische General-Staatsanwaltschaft mit der Forderung zu Wort, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag solle über den Abschuss verhandeln. "Hier", Hans de Borst zeigt sein Mobil-Telefon. Die Nachricht erscheint in einer WhatsApp-Gruppe namens "Wahrheitsfindung MH17".

Der Mann, der die Gruppe verwaltet, heißt Thomas Schansman. Er wohnt in Hilversum, ist Mitte 50 und verlor seinen Sohn Quinn (18) bei der Katastrophe. Als Sprecher unterzeichnete er mehrere Briefe, die in niederländischen Medien für Aufsehen sorgten: Vor einem Jahr forderte man zunächst Premier Rutte auf, sich einzusetzen, dass primäre Radarbilder endlich für Untersuchungen zugänglich gemacht werden. Auch an John Kerry wandte man sich, den amerikanischen Außenminister, der kurz nach dem Abschuss gesagt hatte, über Radar- und Satellitenbilder zu verfügen. In diesem Brief betont man auch, dass Quinn Schansman in den USA geboren wurde und einen amerikanischen Pass besaß.

Als nächstes schrieb die Gruppe Wladimir Putin und Petro Poroschenko, den ukrainischen Präsidenten, an und bat sie um die Radarbilder. Die ukrainische Seite betont bislang, der Radar sei am besagten Tag zu Wartungszwecken nicht in Betrieb gewesen. Auf russischer Seite sollten die Bilder gelöscht worden sein. In einer Antwort der russischen Luftfahrtbehörde hieß es dann, man habe dem niederländischen Untersuchungsrat längst Video-Aufnahmen des Radars zur Verfügung gestellt. Auf das Primärmaterial wartete man vergeblich -bis es im Herbst, nach dem Report des JIT-Ermittlerteams, doch übergeben wurde.

Schwache Position der Niederlande

Zumal Russland gegenüber erhofft man sich endlich ein entschiedeneres Auftreten -gerade nach dem jüngsten Report, der einiges Beweismaterial aufführt dafür, dass die BUK-Rakete von Separatisten abgeschossen und aus Russland geliefert wurde. Auch in dem Gespräch mit Premier Rutte geht es um mehr Druck auf Moskau. Einige Tage später berichtet Thomas Schansman: "Laut Rutte ist das nicht möglich, weil Putin sonst sagt, Rutte mische sich in die Untersuchungen ein. Wir verstehen das, wünschen uns aber trotzdem mehr Entschlossenheit." So wie im Herbst, als Bert Koenders, der niederländische Außenminister, den russischen Botschafter vorlud, nach dessen recht unsachlicher Kritik am JIT-Report.

Dass die Niederlande nun mal kein weltpolitisches Schwergewicht sind, dessen ist man sich unter den Hinterbliebenen schmerzlich bewusst. Und genau darum nahm man im Spätsommer 2016 Kontakt zu Federica Mogherini auf, der Außen- und Sicherheitsrepräsentantin der EU. Vielleicht könnten gebündelte europäische Kräfte bewirken, was für die diplomatische Stimme aus den Niederlanden eine Nummer zu hoch ist? Auf die dringliche Bitte, ihren Einfluss geltend zu machen um Radarbilder zu bekommen, antwortet Mogherini empathisch, aber ausweichend, und verweist auf die laufenden Untersuchungen, die sie unterstütze. "Nicht, was wir erwartet hatten", bilanziert Thomas Schansman. "Nur wieder diese allgemeinen Bla-Bla-Sätze."

Zufrieden ist er dagegen mit dem JIT-Report unter Leitung der niederländischen Staatsanwaltschaft. Die Beweislast, die sie im September präsentierten, überzeugt auch Schansman. Grundsätzlich, sagt er, habe man nun Vertrauen in die Arbeit der Behörden - auch wenn er sich noch immer ab und an fragt, wie lange es eigentlich dauern kann, wenn 80 bis 100 Ermittler permanent an der Sache arbeiten. Demnächst wird er wieder vorstellig werden bei der Staatsanwaltschaft: Lässt sich denn nun schon etwas sagen über die russischen Radar-Bilder? Die Arbeitsgruppe hofft, im neuen Jahr bald einen Bericht über neue Erkenntnisse zu bekommen. Im März steht jedenfalls wieder ein Treffen mit dem Premier geplant.

Sonnenblumen als Erinnerung

Bis dahin wird Thomas Schansman noch oft am Monument vorbeikommen, das in Hilversum in der Nähe des Rathauses steht. 15 bronzene Sonnenblumen, eine für jedes Opfer. Die kleine Stadt ist eine der am schwersten getroffenen Kommunen des Landes. Eine Bank steht daneben, dies ist ein Platz zum Verweilen. Im November traf sich Schansman hier mit vielen Freunden seines Sohnes zu dessen Geburtstag. Quinn wäre 21 geworden.

Ob sein Vater irgendwann ruhen kann? "Jeder Hinterbliebene sieht das anders. Für mich müssen nicht diejenigen, die in der BUK-Installation saßen und den Knopf drückten, vor Gericht stehen und hinter Gittern landen. Entscheidend ist, dass Russland die Tat erkennt und Verantwortung übernimmt für diese Kriegshandlung." Damit ist es soweit kommt, werden sie weitermachen, Thomas Schansman, Hans de Borst und all die anderen. "Die Wahrheit muss auf den Tisch kommen. Und so lange das nicht der Fall ist, werden wir unsere Stimme hören lassen."

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