Obdachlos im ungarischen Winter

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Seit Dezember gilt in Ungarn ein Gesetz gegen Obdachlose auf öffentlichen Plätzen. Wer die Orte "sachfremd nutzt“, wird bestraft. Das Problem löst man damit nicht - im Gegenteil.

Auf dem Blaha-Lujza-Platz, einem der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt, stehen an diesem milden Samstagnachmittag Dutzende Bedürftige Schlange. Sie warten auf eine warme Mahlzeit, die ihnen christliche Hilfsorganisationen regelmäßig anbieten. Aus den Lautsprechern ertönen immer wieder die gleichen Bibelverse. Eine Frau schüttet rötliche Bohnensuppe in Plastikschüsseln und verteilt sie, zusammen mit einer dicken Scheibe Graubrot, "im Namen Christi“. Männer und Frauen schlürfen wortlos ihre Teller leer, dann verschwinden sie in die benachbarten Seitenstraßen des achten Bezirks.

Keine Wohnung mehr

Die meisten Menschen, die hier kurz auftauchen, haben seit Jahren keine Wohnung mehr. Das ist in Ungarn mittlerweile illegal: Wer ab dem 1. Dezember öffentliche Plätze "sachfremd nutzt“, riskiert eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro oder sogar Haft. "Die bisherige Regelung des Problems Obdachlosigkeit ist völlig gescheitert. Jeden Winter erfrieren immer mehr Obdachlose auf Stadtbänken und die Bürger trauen sich nicht mehr, mit ihren Kindern durch Budapests Straßen spazieren zu gehen. Das ist kein Zustand“, zeigt sich Máté Kocsis empört. Der 30-jährige Bezirksbürgermeister mit schwarzem, eng geschnittenem Sakko und gegeltem Haar ist der Initiator des neuen Gesetzes. Er gilt als einer der ambitioniertesten aufsteigenden Sterne in der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz.

Der achte Bezirk, auch Józsefváros (Josefstadt) genannt, liegt in der Nähe des Ostbahnhofs und genießt spätestens seit der Wende den schlechten Ruf einer verarmten Problemgegend. Wegen der Jugendgangs, Drogensüchtigen und arbeitslosen Alkoholiker traue sich selbst die Polizei nicht mehr dorthin, so wird kolportiert. Doch seit seiner Wahl im Herbst 2010 will der junge Fidesz-Bürgermeister zeigen, dass er hier Ordnung schafft. Eine private Sicherheitsfirma arbeitet jetzt im Auftrag der Bezirksverwaltung. Die "Jó Fiúk“, zu Deutsch die "Guten Jungs“, patrouillieren regelmäßig durch die Straßen in ihren massiven, schwarzen Geländewagen.

István Tóth, 49, meidet mittlerweile den achten Bezirk. Nachmittags steht er zwei Straßen von der Grenze entfernt, nördlich vom Blaha-Lujza-Platz, und verkauft die Obdachlosenzeitung "Fedél Nélkül“, deren Name so viel wie "ohne Dach“ bedeutet. "Wie die da oben gegen uns hetzen, ist unerträglich“, sagt der gebrechlich wirkende Mann mit einem fast ängstlichen Gesichtsausdruck. Der gelernte Maler und Tapezierer hatte kurz nach der Wende einen Unfall und konnte nicht mehr arbeiten. Dann verlor er auch seine Wohnung. "In den letzten 18 Jahren habe ich meistens auf der Straße gelebt, da habe ich auch meine Frau kennengelernt. Wir haben überall geschlafen, in Treppenhäusern, in Kellern, ein ganzes Jahr sogar draußen auf Parkbänken“, erinnert sich der Mann. "Jetzt finanzieren wir uns aus dem Zeitungsverkauf und aus den Spenden eine Wohnungsgemeinschaft mit einem anderen Paar.“

Herausgegeben wird die Fedél Nélkül von der Stiftung Menhely ("Obdach“), die sich seit 1989 mit den Problemen der Obdachlosen beschäftigt. "Wir sind die älteste säkulare Organisation in Ungarn, die sich um diese Problematik kümmert. Unsere Sozialarbeiter versuchen, das Leben der Straßenmenschen erträglicher zu machen und ihnen eine Stimme zu geben“, sagt der Menhely-Vorstandsvorsitzende Péter Györi. Die Stiftung betreibt eine Tagesstätte für Obdachlose, sie bietet Abstellräume für ihre persönlichen Sachen, Waschräume, Rechtsberatung. "Vormittags gehen wir in die Kürt-Straße duschen, die Stiftung gibt uns dann die Zeitungen und wir verteilen sie“, erzählt Tóth. An guten Tagen liegt der Erlös bei umgerechnet zehn Euro. Zusammen mit der klein-en Teilrente von Szilvai ist es "genug für Miete, Brot und Wurst“, wie der Mann sagt.

Steigende Preise

Abends gehen Tóth und seine Frau einkaufen. "Der Preis der Lebensmittel ist in den letzten Jahren rasant gestiegen, die ärmsten Leute hierzulande können sich jetzt nicht einmal das Nötigste leisten“, kommentiert er bitter. Der Mann hat zumindest teilweise recht: Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, einer hohen Inflation, einer kriselnden Wirtschaft und einem Mehrwertsteuersatz von 27 Prozent, dem höchsten überhaupt in der EU, ist das heutige Ungarn nicht mehr die fröhlichste Baracke Osteuropas. Nach dem Sonnenuntergang machen die Bankfilialen im Erzsébet-Ring zu, die Angestellten der Wechselstuben ziehen die Gitter und Fensterläden herunter. Auf dem Blaha-Lujza-Platz riecht es nach Maronen und Glühwein. István Tóth und Judit Szilvai gehen nach Hause.

Die Budapester Initiative "Eine Stadt für alle“, auf Ungarisch "A város mindenkié“ oder kurz AVM, wurde 2009 gemeinsam von Obdachlosen und Sozialarbeitern gegründet, um gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierungen zu kämpfen, und die Möglichkeit eines würdigen Lebens für die Straßenmenschen zu schaffen. "In dem osteuropäischen Kontext einer schwachen und oft vom Staat abhängigen Zivilgesellschaft ist eine solche Organisation einmalig“, kommentiert Menhely-Chef Péter Györi. "Ich war von Anfang an dabei“, sagt István Tóth stolz.

Geldstrafen gegen Obdachlose

Unweit vom Blaha-Lujza-Platz liegt der Hauptsitz der Polizeiabteilung für Ordnungswidrigkeiten. Seit Anfang Dezember ist dieses Amt dafür zuständig, die "sachfremde Nutzung öffentlicher Plätze“ zu protokollieren und die Obdachlosen mit Geldstrafen zu belegen. An einem Freitagnachmittag kurz nach 17 Uhr schlagen mehrere Dutzend Aktivisten an einer benachbarten Straßenkreuzung Zelte auf. Es regnet, die improvisierten Transparente werden nass. Attila "Steve“ Kopiás, frisch gewählter Pressesprecher der neuen Initiative "Unterkünfte statt Knast“, aber will gemeinsam mit seinen Kollegen die ganze Nacht auf der Straße ausharren. "Hier im achten Bezirk wollen wir zeigen, dass die Politik der Regierung und der Stadtverwaltung heuchlerisch und menschenverachtend ist“, ruft der junge Mann in ein Megaphon.

"Wir organisieren unsere Events vor allem über Facebook, weil wir dort angefangen haben“, erklärt Kopiás und setzt sich zurück in sein Zelt. "Wir möchten aber mehr als eine Internet-Gruppe sein. Wir möchten zeigen, dass viele Bürger Ungarns mit diesem Politikstil nicht einverstanden sind“, fährt er fort. Zwei schwarze Geländewagen der Sicherheitsfirma Jó Fiúk ziehen vorbei. "Hallo, gute Jungs!“, rufen die Aktivisten hinterher.

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