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„Menschen sollen wir auch noch sein?”

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Einfühlsam, verständnisvoll, aufklärend. So sollen Arzte in den Augen ihrer „mündigen” Patienten sein. „Ist das nicht zuviel verlangt?” fragt der Autor des folgenden Beitrages.

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Einfühlsam, verständnisvoll, aufklärend. So sollen Arzte in den Augen ihrer „mündigen” Patienten sein. „Ist das nicht zuviel verlangt?” fragt der Autor des folgenden Beitrages.

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Vor kurzem hat Walter ^Oldinger, emeritierter Direktor der Basler psychiatrischen Klinik, an dieser Stelle unter dem Titel „Die beste Arznei ist immer noch die Liebe” (Furche Nr. 30/1995) das Schicksal der krebskranken kleinen Olivia zum Anlaß genommen, um die Kluft zwischen der Schulmedizin und einer sogenannten „postmodernen” Medizin einzuebnen. Mit ihm zusammen stimmen alle „Gutgesinnten” in den Chor ein. Selbst hartgesottene Schulmediziner klopfen in der Nähe eines Mikrophons reuig an die harte Brust.

Aber wie steht es nun wirklich um diesen Gegensatz? Seit die naturwissenschaftliche Medizin in den letzten Jahrzehnten ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen explosionsartig erweitert hat, gibt es im günstigsten Fall auf der einen Seite nur mehr Spezialisten und Superspeziali-sten und auf der anderen Seite Zubringer (die früher Generalisten genannt wurden). Deren Hauptaufgabe - eine der schwierigsten überhaupt -ist, den richtigen Patienten dem richtigen Kollegen zu überweisen; daneben sollen sie möglichst gut die einfachen Arbeiten einer medizinischen Hausfrau verrichten.

Die „Züchtung” eines Spezialisten erfordert nicht nur einen geeigneten Kandidaten, sondern darüber hinaus sehr viel Zeit und noch mehr Geld. Seine Amortisation ist auf die wenigen Jahre zwischen „noch nicht” und „nicht mehr” beschränkt. Der bekannte Schweizer Psychiater Manfred Bleuler zählt auf, was verlangt wird: Sie sollen sich nach Abschluß der Ausbildung andauernd weiterausbilden, sie sollen sich mit der Ausbildung der Kollegen abgeben, sie sollen ihr Tun ständig in Diskussionen mit anderen messen, sie sollen nationale und internationale Kongresse besuchen und dabei mit Vorträgen, Statistiken und Diapositiven in Erscheinung treten, sie sollen die internationale Literatur studieren und die allgemeine Fortbildung in Geisteswissenschaften nicht vergessen, sie sollen forschen, die Forschungsergebnisse publizieren, in Laboratorien tätig sein, Techniken entwickeln, Computer füttern, deren Ausstoßung verdauen, Public Relations pflegen, mit Mitarbeitern aller Sparten diskutieren...

In einem „Screening”, welches solche Persönlichkeiten auswählt, finden Tugenden wie Humänitas, Caritas, Fähigkeiten zu Einfühlsamkeit, Verständnis, Toleranz, an keiner Stelle irgendeine Berücksichtigung- Persönlichkeiten mit einer solchen Doppel-begabung sind nicht vorstellbar und lassen ein wenig an Schizophrenie assoziieren. Im übrigen gibt es keinen Beruf, in dem eine solche Kombination einander praktisch ausschließender Fähigkeiten verlangt wird.

Dieser Medizin stehen nun gegenüber der „wirkliche” Patient und neuerdings der sogenannte „mündige” Patient. Der erstere ist ein Kranker, der unter Leidensdruck Hilfe sucht; der letztere sucht Aufklärung und Diskussion. Beim einen handelt es sich häufig um eine Durchuntersuchung, beim anderen um einen Neurotiker, der seine Autoritätsproblematik zu bewältigen versucht. Nennenswerte Aufklärung findet nicht statt, da sie heutzutage selbst un -ter Ärzten wegen deren Spezialisierung oft genug scheitert.

Geborgenheit, Hoffnung, Zuspruch, Mitgefühl, wie es die meisten Kranken brauchen, finden sie in der Regel bei den Kurpfuschern (die natürlich auch Dr. med. sein können). Die viferen von ihnen ahnen gewöhnlich im Ernstfall, wieviel es geschlagen hat und legen dem Besuch beim „Arzt” beziehungsweise „Mediziner” keine Hemmschwellen in den Weg. Weniger vife, das passiert allerdings höchst selten, landen hinter Gittern. Einige Prozent der Durchschnittsbevölkerung sind geisteskrank, was sich auch auf Ärzte und Kurpfuscher umlegen läßt und gelegentlich deren Attraktivität erhöht.

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist vorgezeichnet und teilweise schon beschritten; es bildet sich eine Art grauer Markt und fortschrittliche Krankenhäuser beginnen bereits, Schwestern in Gesprächsführung ausbilden zu lassen (eine Art hospitalisierter Kummernummer). Extramural finden mehr und mehr Ausbildungen in paramedizinischen Körper-, Bio-, Psy-chotechniken et cetera statt. Gurus verschiedenster Observanz bieten neben Meditation Hatha-, Karma-, Bhakti- und andere Yoga an.

Im Sinne der allerorten (!) notwendigen Spezialisierung wird es in Zukunft neben dem „hochwissenschaftlichen” Mediziner der Kategorie X verständnisvolle, geduldige, im Zuhören geübte und im Trösten kompetente Mediziner der Kategorie Y geben; beide sind sich wechselseitig als „alter ego” beigegeben. Die geringen Kosten des Zwillings Y sollten dieses Projekt befördern.

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