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Sorgenkind: Krankenversicherung

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IV. Der größte Patient im sozialen Staat

Wer auch nur Spuren von Verantwortungsgefühl besitzt, wird den zahlreichen Diskussionen über die Notlage der Krankenkassen mit wachsender Sorge folgen. Die Konsequenz, mit der am Kern der Sache vorbeigeredet wird, das Vermengen von falsch verstandenen Begriffen mit politischen Thesen und Forderungen ist erschreckend und ein alarmierendes Symptom. Bedenkt man weiter, daß eine gesunde Sozialversicherung die Grundlage eines sozialen Staates darstellt, dann wird die akute Krise aller Krankenkassen mit ihrem Defizit und ihrer ausweglosen Situation zu einem aufrüttelnden Fanal.

Die Situation ist also ernst genug, viel ernster, als man es auszusprechen wagt. Es handelt sich hier nicht um ein fixes Defizit, das eventuell durch eine entsprechende staatliche“ Subvention ausgeglichen wgrti'en, könnte, spn-' dern um eine rapid sich verschfecKternäe finanzielle Situation, der man mit den herkömmlichen Methoden nicht mehr Herr werden kann. Der zunehmende Medikamentenmißbrauch, die wachsende Begehrlichkeit der Patienten, das Fehlen jeglicher Anweisung zu einer gesunden Lebensführung scheint alle Dämme des gesunden Menschenverstandes zu sprengen. Ob man bei der Wök zu Mittag ißt oder beim Sacher speist, ob man bei der Milchfrau sich anstellt oder im Kaffeehaus sitzt — wo immer heute Menschen zusammenkommen, sprechen sie von Krankheiten, Operationen, Kuraufenthalten und Heilmitteln. In einer Zeit, die dem Menschen jedweden technischen Komfort zur Verfügung stellt, da die Freizeit immer größer wird und man eigentlich sorglos leben könnte — in dieser Zeit vervielfacht sich der Medikamentenverbrauch, steigert sich der Alkoholismus und nehmen die Neurosen erschreckende Verbreitung an. Klafft hier nicht eine ungeheure Diskrepanz zwischen der satten Hochkonjunktur mit ihrem Ueberangebot an Konsumgütern, erschwinglichen Auslandsreisen für jedermann, Genuß-mittelkonsum und sozialer Sicherheit auf der einen und dem zunehmenden Krankheitsgefühl der Menschen auf der anderen Seite?

DER MISSVERSTANDENE BEGRIFF DER VERSICHERUNG

Wenn von einer Schule hundert Schüler auf einen Skikurs fahren und jeder Teilnehmer zahlt in eine gemeinsame Kasse einen Schilling für denjenigen, der sich einen Fuß bricht, dann bekommt der Schüler, der sich dann tatsächlich den Fuß bricht, den ganzen Betrag, nämlich hundert Schilling. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich mehrere Schüler den Fuß brechen könnten, ist gering. Man kann hier von einer echten Versicherung sprechen.

Wenn aber hundert erwachsene Menschen je einen Schilling in eine gemeinsame Kasse bezahlen für denjenigen, der im Laufe des weiteren Lebens einen Zahn verlöre, so kann hier von einer Versicherung nicht mehr gesprochen werden. Denn jeder Mensch verliert im Alter seine Zähne, und somit kann niemand hier hundert Schilling verlangen. Er bekommt beim Zahnverlust seinen Schilling wieder, eventuell vermehrt durch Zinsen. Aber nicht mehr.

Wieso also, so muß man sich bei der Sozialversicherung fragen, werden diese grundlegenden Tatsachen außer acht gelassen? Wenn jeder Mensch, egal, ob Kind oder Erwachsener, mindestens einmal im Jahr zum Zahnarzt muß und einmal an Masern erkrankt, wenn der größte Teil aller Frauen ständig Kopfwehpulver konsumiert und jeder Mensch im Alter an seinen Degenerationserscheinungen leidet, dann sind diese Krankheiten und Leiden doch für eine Versicherung ungeeignet. Ist man aber aus politischen Gründen gezwungen, hier die Illusion einer Versicherung den Mitgliedern der Kassen vorzugaukeln, dann muß man eben die Gelder anderswo hernehmen. Beispielsweise: man zahlt entweder die Zahnärzte schlecht oder nimmt Gelder aus einem anderen Fonds. Eine Praxis, die seit JahrUhtf'Täg gefibt wird.“ Ufid liierten hat den Mit,“den/Begriff'der Versi'che/rurr£ z\i erklären' und“ daraus die Konsequenzen zu ziehen.

BEI DER BRANDSCHADENVERSICHERUNG IST ES ANDERS

Wer sein Haus gegen Feuer versichert, kann ruhig schlafen. Denn sollte das Unglück eintreten, daß wirklich eine Feuersbrunst das Anwesen vernichtet, dann bekommt man die Versicherungssumme bar ausbezahlt. Wer aber seinen alten Heustadl oder das baufällige Haus selbst anzündet, wird nicht nur wegen Brandstiftung bestraft, die Versicherung wird ihm nicht einen Groschen bezahlen. Denn nur dann, wenn' durch irgendein unverschuldetes Schicksal ein Feuer den Besitz zerstört, kommt die Versicherung für den Schaden auf.

Ganz anders ist dies bei der Krankenversicherung. Wer durch übermäßiges Zigarettenrauchen Herzkrämpfe bekommt, begehrt mit größter Selbstverständlichkeit von der Allgemeinheit, daß sie ihm das ganze Register der modernen Medizin zur Verfügung stellt, damit er wieder beschwerdefrei wird (um weiterrauchen zu können). Wer ständig unmäßig lebt, übergewichtig wird und frühzeitig einen degenerativen Prozeß in den Knien und im Kreuz erleidet, will logischerweise ebenso auf Kassenkosten jederzeit bei Beschwerden nach Gastein fahren. Wer reichlich Espressi im Laufe des Tages konsumiert und an Schlafstörungen leidet, verlangt vom Arzt entschieden die Verschreibung von 5errVafrriitteIrr am'Jlaufen3en:iBand. Man ißt voll-komrhen falsch, schrotarfn und vitaminlos, aber die Kasse muß alle Verdauungsstörungen von der Gastritis bis zur Verstopfung behandeln. Man fährt im Sommer mit Autobussen in ferne Länder, aber da man eventuell eine Reisekrank-keit bekommen könnte, begehrt man in der Sprechstunde auf Kassenkosten die entsprechenden Medikamente. Mit anderen Worten: der moderne Mensch gibt Unsummen dafür aus, um sich krank zu machen, er lebt falsch, bewußt falsch, er gibt sein Geld für Genußmittel aus, für übermäßige und unrichtige Nahrung, er zerstört bewußt den biologischen Rhythmus — und ist anderseits nicht bereit, die selbstverschuldeten Schäden an der Gesundheit auf eigene Kosten wieder zu beseitigen.

Es kann doch nicht der Sinn des sozialen Staates sein, mit den Mitteln der Allgemeinheit jene Krankheiten und Leiden zu heilen, die bei einer nur halbwegs vernünftigen Lebensführung gar nicht aufträten. Besonders zu erwähnen ist die Unzahl von nervösen Störungen, für die der moderne Mensch — man muß den Mut haben, es auszusprechen — fast ausnahmslos selbst die Schuld trägt.

NICHT SOZIALE VERSORGUNG, SOZIALE SICHERHEIT!

Spätere Geschichtsschreiber werden die Mitte des 20. Jahrhunderts als den Beginn des Atomzeitalters bestimmt anders betrachten, als wir es heute zu tun pflegen. Die Testversuche lösen bei uns kaum mehr irgendwelche Reaktionen aus, und auch die beginnende Weltraumfahrt ist nicht so sensationell, wie man es vielleicht erwartet hätte. Inmitten eines Irrgartens von Ueberangebot an Konsumgütern lebt der moderne Mensch dahin, fühlt tief in seinem Inneren den Abgrund zwischen seinen Wünschen und der Möglichkeit, diese zu realisieren. Man lebt heute viel bequemer, viel besser als vor noch kurzer Zeit, und Motorisierung, Wohnkomfort und Auslandsreisen sind heute den breitesten Massen zugänglich. Die Sozialversicherung nimmt ihm die Sorge um die Zukunft.

Und spätere Geschichtsschreiber werden nicht verstehen können, warum man mehr Medikamente konsumierte als je zuvor, warum die Menschen nervöser waren trotz Verkürzung der Arbeitszeit, trotz aller technischen Hilfsmittel. Warum die Menschen neurotisch wurden. Denn man wird einmal nicht verstehen können, wozu die riesigen und mächtigen „Institutionen“ eigentlich dagewesen sind. Die Zeit, da es galt, die geknechteten Arbeiter vor den Willkürakten der Unternehmer zu schützen, liegt doch schon lange zurück. Die breite Masse hat sich längst die sozialen Rechte erkämpft und für eine Revolutionspolitik ist kein Platz mehr. Aber — in einer Krisenzeit wie jetzt, da sich die technischen Neuerungen überstürzen — jetzt bedarf der Mensch der Führung dringender als je zuvor. Und da müssen alle zusammenhelfen, da gibt es keine kleinliche Politik, die auf Stimmenfang ausgeht. Die Verantwortung der heutigen Machthaber, der politischen Parteien, des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterkammern ist ungeheuer groß. Man muß dem moderneq Menschen zu einer gesunken 'Lebensführung den Weg 'weisen, m a n m “u ß '\ hm d n Begriff der Sozialversicherung einmal anders erklären, als man bisher gewohnt war. Die sozialen Errungenschaften sind kein Freibrief für eine verantwortungslose, falsche Lebensweise, der soziale Staat wurde nicht geschaffen, um dem Faulen, dem Asozialen, dem Neurotiker ein bequemes Dasein zu bieten. Die sozialen Gesetze sind keine Versorgung für diejenigen, denen die Arbeit ein Greuel ist und die sich in die Krankheit flüchten.

Schließlich, um konkrete Beispiele anzuführen, wer übermäßig ißt, der kann nicht verlangen, daß ihm die Allgemeinheit Entfettungsmittel bezahlt. Wer Gefäßkrämpfe vom Rauchen bekam, hat nicht das Recht, von der Allgemeinheit einen Erholungsaufenthalt zu begehren. (Wo er dann nachmittags im Kurpark sitzt, bei guter .Musik weiterraucht und mit dem Krankengeld ein flottes Leben führt.) Wem das Phenacetin, der Alkohol, das Pervitin oder das Nikotin die Gesundheit zerrüttete, wer Unsummen für die Suchtmittel auszugeben bereit ist, dem gebührt kein Anspruch auf kostenlose Behandlung auf Kosten der Allgemeinheit.

Die Aerzte müssen- honoriert werden für ihre Verdienste um die Gesunderhaltung des Menschen. Die Mühe, einen Menschen zu einer gesunden Lebensführung zu veranlassen, muß bezahlt werden, nicht das bündelweise Schreiben von Rezepten. Den wirklichen Machthabern im Staat aber kommt die Aufgabe zu, langsam und einfühlend dem Volk den Weg durch den Irrgarten des beginnenden Atomzeitalters zu weisen. Es ist eine harte Mühe, lohnt sicher nicht immer gleich und wird auch anfänglich nicht verstanden werden. Man wird dem Volk wieder die geistigen Werte näherbringen müssen, die Erfüllung der Lebensaufgaben im Beruf, in der Familie anders bewerten müssen -man iwir.d auch z,u ...un p o p u 1 ä r e n.,M a ß-n ahmen greifen müssen, wenn man dem sozialen Staat auch weiterhin den Bestand sichern will. So wie jetzt kann es nicht weitergehen, der ungeheure Medikamentenmißbrauch als Zeichen einer falschen Lebenseinstellung führt letztlich ins Chaos. Nicht das bequeme Wohlergehen ist der Sinn des Lebens, sondern die verantwortungsbewußte Erfüllung der Lebensaufgaben, Der soziale Staat ist an der Grenze seiner Ausdehnung angelangt, die kranke Krankenkasse ist ein Beweis, daß der Weg in den letzten Jahren nicht richtig war.

Es ist nicht gut, dem Menschen Sorglosigkeit, Bequemlichkeit und Freizeit aufzulasten — ohne ihm bei der Lebensführung behilflich zu sein.

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