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Untergrabene Solidarität

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Die Reihe der konservativen Kritiker des Sozialstaates hat der Münchner Universitätsprofessor Lobkowicz in der FURCHE fortgesetzt. Die Kritiker wechseln, die Kritik bleibt dieselbe: Sie malt uns eine geistig-moralische Krise an die Wand, in der wir uns angeblich befinden. Man erkenne diese am mangelnden Leistungswillen, Anspruchsdenken und fehlenden Mut zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Das führe zur Uberbelastung des Systems der sozialen Sicherheit; diese führe zu einer Finanzkrise und diese wiederum zu einer Wirtschaftskrise.

In Wirklichkeit verläuft die kausale Kette genau umgekehrt: Wir befinden uns in einer Krise der Weltwirtschaft mit Auswirkungen auf alle Länder der Welt. Diese Wirtschaftskrise führt zu einer ebenfalls weltweiten Finanzkrise, und diese Finanzkrise

wiederum zu einer Infragestellung unseres bisherigen Systems sozialer Sicherung und seiner Finanzierung.

Auch die Ursache für die von Lobkowicz beschriebene geistigmoralische Krise liegt woanders, als die Konservativen wahrhaben wollen. Sie ist nicht im Sozialstaat, sondern in der Zerstörung traditioneller Strukturen des Familien- und Arbeitslebens durch die arbeitsteilige Industriegesellschaft begründet. Die Konservativen sind da auffallend inkonsequent. Sie wollen die materiellen Ergebnisse der arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft, ja sie bewundern sie geradezu. Ihre negativen Folgen aber wollen sie nicht dieser Konkurrenzgesellschaft selbst, sondern einem angeblichen Angriff auf sie zuschreiben.

In Wirklichkeit aber war es doch gerade der Gewinnmechanismus der Konkurrenzgesellschaft, der den Egoismus, den Besitztrieb, die Hab- und Prunksucht, vor allem die Rücksichtslosigkeit gefördert hat, die den Gemeinsinn und die Solidarität der Menschen in der Industriegesellschaft zu untergraben drohen.

Man kann das auch bei Papst Johannes Paul II. nachlesen. Er schreibt: „Das notwendige wirtschaftliche Wachstum mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten muß in die Perspektive einer

ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker einbezogen werden. Sonst wird der Teilbereich wirtschaftlichen Wachstums so übermächtig, daß er den gesamten Bereich des menschlichen Lebens seinen partiellen Erfordernissen unterordnet, dabei die Menschen erstickt, die Gesellschaft zersetzt und schließlich in den eigenen Spannungen und Exzessen steckenbleibt.“

Seit Schelsky hören wir immer wieder, daß uns der Sozialstaat um unsere Freiheit bringe — in allen unmöglichen Variationen.

Lobkowicz macht da keine Ausnahme: Wir würden bald alle „wie die Insassen einer psychiatrischen Mammutklinik behandelt werden“. Wenn man das liest, dann kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß die Konservativen der von Karl Kraus beschriebenen Selbstinfektion durch den eigenen Schmäh in besonderem Maße erlegen sind.

Es scheint sie nicht zu irritieren, daß ihre Thesen keine Deckung in der sozialen Wirklichkeit finden. Die Menschen seien eben schon so weit entmündigt, daß sie den Verlust ihrer Freiheit gar nicht mehr bemerkten. Und so kann passieren was will, die Konservativen fühlen sich immer im Recht.

Jahrzehntelang haben sie den Selbständigen eingeredet, sie würden ihre Freiheit verlieren, wenn sie sich in die Obhut des Sozialstaates begäben. Und als das alles nichts nützte, kreierte man

eigens noch einen neuen Typ des selbständigen Menschens.

Schelsky war es, der den Konservativen empfahl, die alte Mittelstandspolitik in neue Schläuche zu gießen: Selbständig sei nicht nur mehr der, den man im tradierten Sinne als Selbständigen bezeichnet, sondern auch der, der sich als Unselbständiger selbständig fühle.

Doch auch dieser Schmäh verfing nicht. Gruppe für Gruppe flüchteten die Selbständigen unter die Fittiche des Sozialstaates. Die Bauern beziehen heute ihre wohlverdiente Pension genauso wie die Gewerbetreibenden. Hoteliersfrauen kassieren sehr zum Mißvergnügen breiter Bevölkerungskreise Arbeitslosengeld in der toten Saison. Und die Angehörigen von Betriebsinhabern sind beinahe lückenlos sozialversichert.

Die Selbständigen selbst sind heute die besten Zeugen dafür, daß die Sozialdemokratie recht hatte und hat mit ihrer Meinung, daß soziale Sicherheit nicht auf Kosten der Freiheit geht, sondern im Gegenteil erst Freiheit für die Menschen schafft.

Es bleibt zu hoffen, daß die Konservativen das auch einmal einsehen. Und daß sie aufhören, den Sozialstaat für das haftbar zu machen, was eine übersteigerte Konkurrenzgesellschaft verursacht hat. Dann wird man endlich daran gehen können, sich der wahren Probleme unseres Systems der sozialen Sicherheit zu widmen.

Der Autor ist Vorsitzender des sozialistischen Abgeordnetenklubs im Vorarlberger Landtag.

Die Probleme, die es in unserem System der sozialen Sicherheit gibt, zu übersehen, hieße die Fakten ignorieren. Probleme gibt es im Finanzierungsbereich. Unser System ist aufs engste mit der konjunkturellen Entwicklung verknüpft. Hohe Beschäftigungsraten und Wirtschaftswachstum ergeben hohe Beitragsleistungen

und schaffen damit die Voraussetzung für die Finanzierung eines relativ eng geknüpften sozialen Sicherheitsnetzes. Abnehmende Wachstumsraten, Konjunkturrückgang und höhere Arbeitslosenziffern führten zu Finanzierungsproblemen.

Der Sozialstaat ist auch von einer anderen Seite in die Krise geraten: Das umfassende Angebot des Staates an Sozialleistungen hat dazu geführt, daß der einzelne sich von der Verpflichtung zur sozialen Hilfeleistung dispensiert fühlt.

Die Finanzkrise im System dęr sozialen Sicherheit hat die Diskussion über einen Umbau erst möglich gemacht. Nicht die bessere Einsicht, sondern das „Diktat der leeren Kassen“ zwang auch Sozialisten dazu, Begriffe wie Eigenvorsorge, Nachbarschaftshilfe und Selbsthilfe, die bisher eher verpönt waren, in ihre Überlegungen miteinzubeziehen.

Die notwendige Hinwendung zu den Prinzipien der katholischen Soziallehre erfolgt nicht überall aus Sympathie, sondern weil ihre Nichtbeachtung (die Vernachlässigung des Subsidiaritätsprinzips ebenso wie eine falsche Sicht des Solidaritätsprinzips) sowohl das System unfinanzierbar macht, als auch die Gesellschaft „verarmen“ läßt. Verarmen deshalb, weil wesentliche Anlagen und Kräfte des einzelnen Menschen nicht herausgefordert werden, daher verkümmern und verlorengehen.

Es scheint, so eigenartig es klingt, zwischen einem Mehr an Versorgung und Gerechtigkeit ein Widerspruch zu bestehen. Das Überschreiten des notwendigen Maßes der sozialen Absicherung - das „Notwendige“ liegt an der Schnittlinie zwischen Absicherung vor Not und zumutbarer Eigenvorsorge, ist also eine politische Entscheidung, die sehr wesentlich von dem Menschenbild, von dem die Politik ausgeht, abhängt — führt zu sozialen Leistungen an Nichtbedürftige und reduziert die Möglichkeit, den im Schatten der Wohlstandsgesellschaft Stehenden das Notwendige zu geben.

Jede soziale Leistung muß nicht nur nach ihrer direkten Auswirkung überprüft werden. Vielmehr ist auch die Frage zu stellen, was

durch ihre Gewährung an anderen sozialen Maßnahmen unterbleiben muß. Die quantitative Uberversorgung wird zu einer qualitativen Unterversorgung, weil die Mittel nicht unbegrenzt vorhanden sind.

Es ist keine Frage, daß die Schaffung eines sozialen Netzes notwendig wurde, weil die vorindustrielle Großfamilie als Produktions-, Haushalts- und Versorgungsgemeinschaft im Zuge der Industrialisierung ihre Funktion verlor. Die einst von der Großfamilie wahrgenommenen Dienstleistungen mußten in gesellschaftlich organisierter Form angeboten werden. So war die Entwicklung des Sozialstaates nicht Begleiterscheinung, sondern vielmehr Bedingung zur arbeitsteiligen industriellen Gesellschaft.

Diese Entwicklung hat in der Organisation der sozialen Dienste Bürokratisierung entstehen lassen, die vielfach Eigengesetzlichkeiten entwickelt hat und im „betreuten“ Menschen nicht so sehr das Gefühl aufkommen ließ, diese Organisationen seien für ihn da, als vielmehr durch ihre Unübersichtlichkeit den Eindruck erwek- ken mußten, der Mensch sei von ihnen abhängig.

Ebenso wichtig wie die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips ist auch die Betonung der Solidarität. Zu sehr haben wir die Solidarhaftung fast ausschließlich auf den Staat verlagert. Die Solidarität der meisten Menschen beschränkte sich auf die Leistung von „Zwangsbeiträgen“ an Insti-

tutionen oder an den Staat. Diese, zu einem wesentlichen Teil sicherlich notwendige „organisierte Menschlichkeit“, kann aber echte mitmenschliche Anteilnahme niemals ersetzen.

Gefordert scheint mir daher

• ein Umbau des Sozialstaates: neben organisierter Hilfe (die in bestimmten Bereichen reduzier- und gezielter einsetzbar ist) gilt es die Bedeutung der Selbst- und Nachbarschaftshilfe stärker zu betonen und herauszufordern.

• Die Rückverlagerung von Verantwortung und Freiheit vom Staat auf den Einzelmenschen soweit als irgendwie möglich;

• die Stärkung der Verantwortung des einzelnen und der Interessengruppen für die Gemeinschaft.

Sozialpolitik hat den Anspruch zu erfüllen,

• Not und Armut zu lindern und weitgehend zu verhindern;

• die Risken des Lebens, deren Absicherung den einzelnen überfordern würde, abzudecken.

• den einzelnen freier und die Gesellschaft menschlicher zu machen.

Dazu braucht es Menschen mit wachen Augen und offenen Herzen, die im Mitmenschen den Bruder sehen, dem gegenüber sie verpflichtet sind: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Der Autor ist Präsident der Vorarlberger Arbeiterkammer.

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