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Nadi der Krisis

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In der Krise der österreichischen Staatsführung, die in der vergangenen Woche zur Demission der Gesamtregierung führte, inzwischen aber durch eine Einigung über die strittigen Fragen des Budgets und die Bestätigung des Kabinetts in der bisherigen Zusammensetzung eine vorläufige Entspannung erfuhr, liegt eine gewisse Tragik.

Uber sieben Jahre — in Westeuropa einzig dastehend — hat ein und dieselbe Regierungskoalition mit Erfolg am Wiederaufbau Österreichs gearbeitet, wobei von seiten beider Partner, bisweilen unter Rückstellung der Parteiideologie, Opfer gebracht werden mußten, um durch die Verankerung des politischen Schwerpunktes im Lande selbst die Zugehörigkeit Österreichs zur europäischen Ge- meipsihaft zu wahren.

Diese immer wieder zu sichernde Zielsetzung drängt naturgemäß zu einer raschen Bereinigung der Lage. Bei den politischen und kulturellen Gegensätzlichkeiten lassen sich endgültige Entscheidungen zur Not noch zurückstellen und vertagen; weniger einfach ist die Sache auf dem Wirtschaftsfeld, wo man von der Hand in den Mund lebt.

So hat sich denn auch die Regierungskrise in Österreich an der jetzt fälligen Budgeterstellung entzündet. Dabei mochte es nicht so wichtig sein, ob das Budgetdefizit 300 oder 700 Millionen Schilling beträgt; nicht so wichtig sein, ob die verlangten Mehrbeträge für den sogenannten sozialen Wohnungsbau, für die defizitäre Geschäftsführung der Bundesbahnen oder für die Ausweitung der Rentenfürsorge gegeben oder verweigert werden und hie- für der heute schon unerträgliche Steuerdruck noch weiter verschärft werden soll — es handelte sich vielmehr darum, daß bei allem Ernst, mit dem das hier im Hintergrund stehende Vollbeschäftigungs- problem angepackt werden mußte, für Österreich auch nur der Schein eines inflationären Wirtschaftstreibens vermieden werden mußte. Dies in einer Zeit, da sich der Schilling zu festigen beginnt, ein heimischer Kapitalmarkt mühsam aufbaut und gerade in Paris die Ministertagung der OEEC die Inflationsbekämpfung in den Mittelpunkt ihrer Beratungen und Zielsetzungen gestellt hat. Es ist nur zu verständlich, wenn man in den USA, wo man schon vor einigen Wochen die Ausbalancierung des Bundesbudgets und damit die Stabilisierung der Währung als Voraussetzungen für eine weitere finanzielle Hilfe an Österreich festgelegt hat, den jüngsten Entwicklungen hierzulande größte Aufmerksamkeit schenkt.

Hat man bisher in Österreich in breiten Zonen der Gesamtwirtschaft von der Marshall-Hilfe gelebt, mit dieser auch die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben überbrückt und dadurch im großen und ganzen die Vollbeschäftigung gesichert, so wird heute nach Zuendegehen der Marshall-Hilfe der harte Griff wirtschaftlicher Realpolitik verspürt. Der Ausbruch der Regierungskrise war kalendarisch vorauszusagen. Die Schärfe ihrer ersten Phase ist verständlich, da sich in Österreich — am Eisernen Vorhang gelegen und den optischen Femwirkungen totalitärer Wirtschaftsplanungen ausgesetzt — eine echte Vollbeschäftigungspolitik mit ihren Vorbehalten dem Mann von der Straße nicht so rasch verständlich machen kann. So steht bei uns also heute das schwierige Problem, wie man Vollbeschäftigung und Währungssicherung zugleich wahren kann, im Brennpunkt des sozial-psychischen und politisch-taktischen Interesses für alle, die der Zwangswirtschaft östlicher Prägung und der Unfreiheit eines Ameisenstaates ausweichen wollen. Im Konkreten ist die Frage aktuell, wie man Konjunkturschwankungen im, Sinne einer Stabilisierung von Produktion und Arbeitsmarkt beikommen kann. Vollbeschäftigung wird dabei noch als gegeben erachtet, wenn die durch Krankheiten, Wechsel der Arbeitsstellen und Saisonschwankungen bedingten Ausfälle im jährlichen Durchschnitt drei bis vier Prozent der Gesamtziffer der erwerbstätigen Bevölkerung nicht übersteigen; der derzeit für Österreich gegebene Satz von sechs Prozent erscheint na da Ansicht des Sozialministers gerade noch tragbar. Das richtige Merkmal für Vollbesdiäftigung ist allerdings weniger das Unterschreiten eines bestimmten Prozentsatzes der Arbeitslosigkeit als der Umstand, daß es keine Arbeitslosigkeit wegen mangelnder Nachfrage gibt.

In einer Volksdemokratie mit totalitärer Wirtschaftsplanung braucht man sich wegen der Vollbeschäftigung nicht den Kopf zu zerbrechen, auch gibt es hier stabile Preise und Löhne; das Gegenstück ist das Fehlen der wirtschaftlichen Freiheit in der Produktion und auf dem Arbeitsmarkt; es gibt daher hier auch keine Gewerkschaftspolitik in unserem Sinn; und der tiefe Lebensstandard wird als Fatum hingenommen. Auf Kosten des Verbrauchssektors werden Unsummen für Rüstungsund Staatsbedarf abgezweigt, so daß mit Ausnahme weniger privilegierter Kreise die Berufstätigen unter elenden Arbeitsbedingungen und unzulänglichen Realeinkommen leiden. In der Demokratie westlichen Typs trifft die Vollbeschäftigungspolitik wieder überall auf die Forderungen der privatwirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Produktivität. Vollbeschäftigungspolitik um jeden Preis kann die technisdie und betriebliche Rationalisierung stoppen, durch Finanzierung von Notstandsarbeiten die Gefahr einer Inflation näher rücken und damit wiederum Sparsinn und Kapitalmarktbildung zerstören und damit auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Produktivitätssteigerung.

Darüber, wie man den zyklischen Beschäftigungskrisen in der freien Marktwirtschaft entgegenwirken kann, hat sich in den letzten Jahren eine reiche Literatur entwickelt, in deren Mittelpunkt die Lehre von Lord J. M. Keynes von der „sich ausdehnenden Wirtschaft (Hauptwerk „Theorie der Beschäftigung, des Kapitalzinses und des Geldes") steht. Keynes leitete die auf Produktionskrisen zurückzuführenden Erschütterungen des

Arbeitsmarktes von Störungen des wirtschaftlichen Kreislaufes, also von Mißverhältnissen zwischen Einkommen und Ausgaben, zwischen Sparen und Investieren, zwischen Untergang und Schöpfung von Kaufkraft her und befürwortete als Gegenmittel eine interventionsweise Vermehrung der „wirksamen Nachfrage’; dem.allzeit „lauernden Nachfragedefizit sollte unter Umständen durch Budgetdefizite, durch verschärften Steuerdruck (auch auf Kosten der Sparwilligkeit), durch eine Politik des billigen Geldes, durch Investitionsprogramme in Anpassung an die Arbeitsplatznachfrage und dergleichen gesteuert werden. (Die Sozialistische Partei in Österreich hat sich, wie man heute sieht, diese Auffassungen weitgehend zu eigen gemacht.) An Stelle des durch Preise regulierten Wirtschaftsmechanismus solle ein Wirtschaften aus dem vollen erfolgen usw. Vielleicht würde Keynes, der sich selbst als Liberalen be- zedchnete und 1946 verstorben ist, lebte er heute, die aus seinen Thesen airgeleiteten Folgerungen korrigieren und ihre Wirksamkeit nur für Depressionsperioden Vorbehalten — angesichts der

Tatsache, daß in der modernen Massendemokratie eine Wirtschaftspolitik der leichten Hand nur zu rasch in die kollektiv-inflationäre Sphäre abgleiten kann. Sicherung der Währung aber muß das oberste Gebot bei allen wirtschaftspolitischen Regulierungen hinsichtlich Verbrauch, Investition, Staatsausgaben, Steuern, Spartätigkeit, Ein- und Ausfuhr usw, bleiben.

Die Lehre von Keynes hat in zwei Richtungen Unheil angerichtet. Einmal deshalb, da sie, obwohl nur auf Depressionszeiten gemünzt, vielfach für all- gemeingültig angesehen, also auch für eine normale Arbeitsmarktgestaltung angewendet wurde; treibt man aber auch hier die Politik des billigen Geldes, dann gibt es inflatorischen Druck und Preiserhöhung — und für ein Exportland wie Österreich Schwierigkeiten beim Ausbau der Exportindustrien, Defizite in der Zahlungsbilanz. Zugleich wirkt diese Politik des billigen Geldes der volkswirtschaftlichen Produktivität entgegen, da dann unwichtige oder unfähige Unternehmungen es verhindern können, daß Material und Arbeitskräfte lebenswichti-gen und leistungsfähigen Branchen zugeleitet werden.

Weiter hat die von der Keynesschen Theorie abgeleitete Illusion, man könne im Weg von Zinsmanipulationen Vorsehung spielen und die Entwicklung von Konjunktur und Arbeitsmarkt regulieren, das Augenmerk von der Technik des Arbeitsmarktes selbst abgelenkt, obwohl diese nicht wenige Hilfsmittel — auf der Arbeitnehmer- wie auf der Arbeitgeberseite — für die Stützung der Vollbeschäftigung bietet. Nehmen wir einen für Österreich aktuellen Fall: Die Bekämpfung der Saisonarbeitslosigkeit verlangt vor allem Maßnahmen auf dem Bausektor. Das Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau arbeitet einen Gesetzentwurf aus, der die mit öffentlichen Geldern geführten Bauvorhaben hinsichtlich der Bauzeiten und der Baugebiete zwecks Ausgleichung des Arbeitsmarktes regulieren soll. Das ist sicherlich eher zu begrüßen als die von anderer Seite beabsichtigten Eingriffe in die freie Wirtschaft mit Finanzplanungen, Ausgleichskassen, Erzwingung von Winterarbeit mit Unterstützung der Arbeitsämter usw. Von solchen Eingriffen wird man, da es sich hier um durchwegs bauverteuernde Maßnahmen handelt, sich um so weniger versprechen können, als anerkanntermaßen das Wohnungsbauproblem nur mit Einschaltung des Privatkapitals gelöst werden kann.

Vor allem kann Vollbeschäftigung durch eine flexiblere Gestaltung des Arbeitsmarktes gesichert werden: das Arbeitskraftvolumen muß sich nach den Produktions- und Marktverhältnissen richten, und nicht umgekehrt. Subventionen für den Arbeitsmarkt wird man schwer recht- fertigen können, solange der Landwirtschaft in Österreich über 60.000 Arbeitskräfte fehlen. Die Immobilisierung der Arbeitskräfte ist ein Haupthindernis für die Vollbeschäftigung. Und eine Gewerkschaftspolitik, die die Wirtschaftszweige arbeitsmarkttechnisch voneinander isolieren will, begünstigt die Erstarrung der Industriestruktur, unterbindet damit die Anpassung der Industrie an den Weltmarkt und gefährdet dadurch die Zahlungsbilanz. Daß die Wohnungszwangswirtschaft die Immobilisierung der Arbeitskräfte mitverschuldet hat, sprechen heute auch Sozialistenführer offen aus.

Die Unterbringung der Jugendlichen wird in den letzten Jahren in Österreich mangels vorhandener Lehrstellen kritische Verhältnisse schaffen. Warum vermindern sich die Lehrstellen? Urlaube, Sonderregelungen, Schultage erübrigen für den Lehrling im Jahr nur acht Monate Arbeitszeit; dies und die sozialen Lasten machen für den Unternehmer die Lehrlingshaltung untragbar. Statt sozialpolitische Übersteigerungen zu mildern, will man mit neuen Steuern finanzierte staatliche Lehrwerkstätten einrichten. Man hat die wirkliche und die sogenannte .Lehrlingsschinderei" so lange bekämpft, bis die Lehrstelle überhaupt verschwunden ist. Ganz analog war die Entwicklung bei den Hausgehilfinnen („weiße Haussklavinnen") und wird sie bei den Hausbesorgern sein — alles zu Lasten der V ollb eschäftigung.

Vollbeschäftigung setzt Preissenkungen durch Erhöhung der Produktivität voraus, um den Absatz zu steigern, sohin erhöhte Leistungen des Produktionsfaktors Mensch. Hier gibt es noch viel nachzuholen, worauf kürzlich erst der LeiteT unseres Handelsressorts hingewiesen hat; es ist bedauerlich, daß die Arbeitsleistungen sich erst dann verbessern, wenn Krisen und Entlassungen drohen. In diesem Zusammenhang sei auf den kürzlich durchgeführten Kongreß der Labour Party in Morecambe verwiesen, auf dem Morrison erklärte, wir müssen mehr arbeiten und den Gürtel enger schnallen; worauf Be- van replizierte: Mehr arbeiten, das kann jeder Dummkopf.

Und nun zur Arbeitgeberseite. Eine Sicherung der Vollbeschäftigung könnte auch im Wege von Arbeitsbeschaffungsreserven erfolgen; man denke hier an das schweizerische Bundesgesetz von 1950 über die Bildung von Arbeitsbeschaffungsreserven, welches den Unternehmern die Vorsorge für das Durchhalten von Betrieben und Belegschaften in einer Krise erleichtern will; in einem prozentuellen Ausmaß zu den Rücklagen det Betriebe leisten Bund, Kantone und Gemeinden Steuervergütungen. Dieses Gesetz paßt sich ebenso in den Organismus der freien Marktwirtschaft ein wie das Gesetz für Notstandsgebiete in Belgien, das für Neugründung von Unternehmungen in jenen Gebieten unter gewissen Voraussetzungen großzügige Steuerbegünstigungen gewährt. Dies ist sicherlich organischer gedacht als die Finanzierung von Notstandsarbeiten durch Erhöhung der Biersteuer.

In den nächsten Wochen wird die österreichische Demokratie wieder einmal Reife und Weitblick im wirtschaftlichen Denken erweisen müssen; dies noch dazu unter erschwerenden Umständen, denn das ungelöste Problem des Devisenkurses, bevorstehende Neuwahlen zum Nationalrat und letzten Endes die Nähe des Eisernen Vorhangs sind nicht dazu angetan, die Lösung filigraner Wirtschaftsprobleme, wie etwa den Goldenen Schnitt zwischen Vollbeschäftigung und Währungsstabilität, zu erleichtern. Aber schon die vorläufige Einigung über die sachlichen Gegensätze in der Budgetfrage eröffnet die begründete Aussicht, daß die Koalitionsparteien an alle diese Fragen mit dem gebotenen Verantwortungs- bewußtsein herantreten werden.

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