6610545-1954_49_08.jpg
Digital In Arbeit

Sorgenkinder der Gesellschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Als Sonderschüler werden jene Schulkinder verstanden, bei denen wegen ihrer körperlichen und geistigen Mängel das Bildungsverfahren der Normalschule versagt. Die heutige Zeit ist im Gegensatz zu früheren Epochen über das bloße Fürsorgestreben um solche Kinder hinaus|etreten und sucht sie durch Bildung nicht nur als Menschen in persönlicher Hinsicht den normalen gleichwertig zu machen, sondern sie auch in die Gesellschaft als erwerbsfähige Glieder und Staatsbürger einzuordnen.

Diese Bestrebungen gehen in die Zeitepoche Josefs II. zurück, in der die ersten Blinden- und Taubstummenanstalten gegründet wurden. In unseren modernen Anstalten werden die Kinder durch eigene Methoden unterrichtet und in angegliederten Anlern- und Lehrwerkstätten für bestimmte Berufe ausgebildet. Beide Gruppen von Kindern sind infolge ihres Sinnenausfalles sofort erkenntlich, sind aber verhältnismäßig seltene Erscheinungen und betragen nur wenige Promille der Gesamtkinderzahl. Ebenso selten sind die Kinder, welche die Schule für Sehschwache und Körperbehinderte besuchen. Die Errichtung der einen läßt eine scharfe und sehr notwendige Trennung der Kinder zwischen der ausgesprochen blinden und sehschwachen zu, wo ganz andere Unterrichtsmethoden angewendet werden; die andere Schule arbeitet eng mit Orthopäden zusammen, und hier ist eine sehr geduldsame, auf den Willen und die Gewöhnung gerichtete Arbeit von Lehrern nötig, um die Funktionen jener Glieder zu schulen und auszubauen, welche die Funktionen der mißgestalteten oder fehlenden übernehmen müssen. Weitere Sparten des heutigen Sonderschulwesens sind Spitalklassen, in denen die Kinder in Krankenhäusern zusammengefaßt und unterrichtet werden, und Schulen und Kurse für sprach- gestörte Kinder. Hier ist die Kursart gewählt, weil die an Sprachstörungen leidenden Kinder meistens die Normalschule besuchen und die Mehrzahl von ihnen in wenigen Monaten durch die therapeutische Behandlung vollständig geheilt werden kann.

Die größte Anzahl von Kindern, welche für die Normalschule nicht in Betracht kommen — bis zu vier Prozent des jeweiligen Jahrganges —, nimmt jene Schulgattung in Betreuung, die man als Hilfsschule bezeichnet Sie ist die Sonderschule für Schwachbefähigte Sie können zu einfachen Verrichtungen und Tätigkeiten in beschränktem Maße angeleitet und an ein geregeltes Leben gewöhnt werden. Für sie sind Heime mit angeschlossenen Werkstätten und land wirtschaftlichen Betrieben der geeignete Aufenthaltsort. Bei den schwachbefähigten Kindern handelt es sich um solche, bei denen die geistigen Funktionen in ihren Teilen oder in der Gesamtheit Mängel aufweisen. Es ist ihre theoretische Intelligenz geschädigt, während sehr häufig die praktische Intelligenz und auch die Handgeschicklichkeit als ausgesprochen gut bewertet werden können. Sie traten wie die anderen Kinder in die Volksschule ein, es erwies sich aber bald, daß sie in mehreren Unterrichtsfächern versagten, auch nach einer Wiederholung der Klasse konnten sie das Lehrziel nicht erreichen. Ihre geistige Schwäche äußert sich bei ihnen wie bei Menschen, die Leichtathletik betreiben sollen, die aber infolge ihrer schwächlichen Lungen- oder Herzkonstitution keine Erfolge erringen können. Sie erreichen niemals im Wettlauf das gesteckte Ziel der anderen; es nützt ihnen kein Training, denn die Erschöpfung ist es, die sie vor dem Ziele zusammensinken läßt. Begreiflich, wenn sie Mut und Selbstbewußtsein verlieren. Doch sie können und werden Ziele erreichen, wenn man die Laufstrecke kürzt, etwa auf die Hälfte. Sie werden sich über den Erfolg freuen und ihr Selbstbewußtsein wird sich heben.

Aehnlich ist es mit den Bildungszielen bei schwachbefähigten Kindern. Die Bildungsinhalte werden ihnen in ihrer Sonderschule in kleinen Teilen geboten, alles fürs spätere Leben nicht unbedingt notwendige Bildungsgut muß weggelassen werden, alles Neue muß anschaulich dargestellt und von ihnen mit allen Sinnen erfaßt werden. Besonders die Kulturtechniken und die erziehlichen Verhaltungsweisen müssen ausreichend ‘ in der Schule geübt werden. Es tritt in dieser Sonderschule als Bildungsstoff das Lebenspraktische in den Vordergrund, der junge Mensch soll zu einem soliden und verläßlichen Handarbeiter gebildet werden — ein intellektueller Beruf kommt bei ihm nicht in Frage. Es nimmt darum auch in höheren Klassen der Werkstättenunterricht bei Knaben und weibliches Handarbeiten bei Mädchen einen breiten Raum ein. Und es gibt an diese Schulen angeschlossene einjährige Lehrgänge, wo bei Knaben die handwerkliche Berufsvorbereitung und bei Mädchen Nähen, Kochen und Hauswirtschaft gepflegt werden.

Der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit brachten eine Erhöhung der Zahl der schwererziehbaren Kinder. Bei den meisten von ihnen ist die Anstaltserziehung notwendig, weil es das Milieu war, das sie abwegig werden ließ. Zum Unterschied von den Schwachbefähigten liegen die Mängel nicht in der Intelligenz, sondern im Seelischen und äußern sich im Charakter. Lehrer, Erzieher und Psychologen müssen sich vor allem um ihr Vertrauen bemühen. Mehr als in jeder anderen Schulart steht hier das erziehliche Moment im Vordergründe. Sorgfältige Erfassung der Persönlichkeit durch Beobachtungen, Aussprachen und Tests schaffen die Vorbedingung zu jeglicher Bildungsarbeit. Sind schon normale Kinder verschieden, so kann man von den Sonderschülern sagen, daß jedes Kind für sich ganz eigenartig ist; es muß darum jede erziehliche und unterrichtliche Behandlung individuell gestaltet sein.

Alle diese Arbeit freilich wird zwecklos, wenn es nicht gelingt, die Brücke für solche Menschen von der Schule ins Berufsleben zu bauen.

Von der Lehrerschaft aus können folgende Mittel zum leichteren Uebergang ins Berufsleben aufgezeigt werden: die Einführung eines neunten Schuljahres als Werkjahr, Prämien für Meister, die Sonderschüler einstellen, weitere Errichtung von Anlern- und Lehrwerkstätten an Sonderschulen, Errichtung von ländlichen Heimen mit angegliederten landwirtschaftlichen Berufsschulen, Einführung einer nachgehenden Fürsorge, die in Verbindung mit der Sonderschule die Entlassenen betreut, berät, sie in Lehrlingsheimen oder Klubs gesellschaftlich zusammenfaßt und weiterbildet, sie berufsberatet, ihnen Arbeit vermittelt, den beruflich Ausgebildeten Arbeitsgeräte und Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, um ihnen selbständiges Arbeiten zu ermöglichen, zum Beispiel elektrische Nähmaschinen für körperbehinderte Näherinnen, die Heimarbeiten durchführen können.

Es lebt auf dieser Welt kein Mensch für sich allein. Staaten, Länder und Gemeinden sind nicht eine bloße Summe von Menschen, sondern es sind reichgegliederte Organismen. Die einzelnen Teile und Glieder sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Die Nöte der einen lassen auch die anderen nicht zur rechten Entfaltung kommen. Harmonie und damit Zufriedenheit herrschen erst dann, wenn auch die von Geburt aus Schwachen ihr Plätzchen zu Arbeit und Leben an der Sonne haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung