Schule - © Foto: iStock/cglade

Chancenindex: Warum nicht jetzt?

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Laut Regierungsprogramm sollen in einem Pilotprojekt hundert benachteiligte Schulen durch Orientierung an einem Sozialindex besonders unterstützt werden. Warum man damit gerade jetzt beginnen sollte – und welche internationalen Vorbilder es gibt. Ein Gastkommentar.

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Laut Regierungsprogramm sollen in einem Pilotprojekt hundert benachteiligte Schulen durch Orientierung an einem Sozialindex besonders unterstützt werden. Warum man damit gerade jetzt beginnen sollte – und welche internationalen Vorbilder es gibt. Ein Gastkommentar.

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In einigen Schulen Londons, in Toronto, den Niederlanden, in Bildungseinrichtungen Hamburgs und Bremens machen Kinder gute Fortschritte. All diese Schulen zeigen, dass sie in schwierigen sozialen Verhältnissen gute Ergebnisse erreichen können. Das heißt, dass die Kinder deutliche Lernerfolge haben, in Bildungsvergleichen gut abschneiden und höhere Abschlüsse wagen. Was die Schulen gemeinsam haben: Sie kombinieren einen Chancenindex zur Finanzierung mit Schulentwicklung am Standort. Mit Corona sind die Bildungsungleichheiten auch in Österreich wieder in den Blick gerückt. Den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen gibt es in allen Ländern. Hierzulande ist er aber besonders ausgeprägt.

Gute Erfahrungen

Eine Möglichkeit da gegenzusteuern, ist Schulen in sozial benachteiligten Bezirken besonders gut auszustatten, damit sie keine Schüler zurücklassen und für mehrere Einkommensschichten attraktiv bleiben. Mit dieser schulpolitischen Intervention kann zwar die Spaltung in „gute“ und „schlechte“ Wohngegenden nicht aufgehoben werden, die liegt ja in der Einkommens- und Wohnpolitik, aber es kann in den Schulen einiges verbessert werden. Die Niederlande, Zürich, Hamburg und auch Kanada haben mit einem Chancenindex gute Erfahrungen gemacht. Mit einem solchen Sozialindex, der unter anderem Bildungsstand, Beruf und Einkommen der Eltern umfasst, würde eine Schule um einen bestimmten Prozentsatz X mehr an Ressourcen bekommen.

In Toronto heißt das „Learning Opportunity Index (LOI)“. Wozu er dient, argumentieren die Kanadier so: „Die Schulen mit dem höchsten Wert haben die stärksten Herausforderungen zu bewältigen und brauchen daher die meiste Unterstützung.“ Die Maßzahlen beziehen sich in Toronto auf die unmittelbare Wohnumgebung der Schüler und der Schule selbst. Die Modellschulen sind in 8 Cluster gruppiert, mit verantwortlichem „lead teacher“, „learning classroom teacher“ und „community support worker“. Der LOI wird alle zwei Jahre berechnet.

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Würde es hierzulande bereits einen Chancenindex geben, befände sich die überwiegende Mehrheit der österreichischen Schulstandorte in den sozial gut durchmischten Chancen-Index-Stufen 3 und 4. Aber rund 17 Prozent aller Pflichtschulen würden Stufe 5 bis 7 aufweisen, also „hoher“ bis „sehr hoher“ Unterstützungsbedarf. Im Regierungsprogramm steht nun, dass es hundert Schulen als Pilotprojekt geben soll. Das könnte eigentlich jetzt gleich starten. Am besten wäre, wenn die Auswahl evidence based erfolgt, also auf Basis der wissenschaftlich erhobenen Zusammensetzung des Schulstandorts.

Gehört hat man bisher aus dem Bildungsministerium, dass Schulen sich melden sollen. Doch das ist der falsche Weg. Das ist kein Preisausschreiben. Hier braucht es die sozioökonomisch objektiven Kriterien wie in Kanada oder den Niederlanden. Das Pilotprojekt aus dem Regierungsprogramm kann mit hundert Schulen ohnehin nur einen geringen Anteil der Schulstandorte abdecken. Hundert teilnehmende Schulen bedeutet, dass lediglich jede elfte Pflichtschule mit großen Herausforderungen berücksichtigt werden kann. Und selbst wenn sich das Pilotprojekt nur an Volksschulen richtete, könnte nur jeder vierte Volksschulstandort in Österreich teilnehmen.

Schulische Schichteffekte

Das österreichische Schulsystem delegiert viele Bildungsaufgaben an die Eltern. Daher hängt viel davon ab, ob die Eltern unterstützen können oder nicht. In der Soziologie wird das als „primärer Schichteffekt“ bezeichnet. Zweites Phänomen: Selektion. Österreich trennt die Kinder zu früh. Je früher die Trennung, desto weniger spielt der Leistungseffekt eine Rolle, desto stärker wirkt der soziale Hintergrund bei der Bildungsentscheidung. Dies wird als „sekundärer Schichteffekt“ bezeichnet. Drittens: die soziale Zusammensetzung. Schulen in ärmeren Vierteln mit Arbeits-
losigkeit oder schwächerem ökonomischen Status wirken sich ungünstig auf die Bildungschancen der Kinder aus. Das nennt man „sozialen Kontexteffekt“.

Hundert teilnehmende Schulen bedeutet, dass lediglich jede elfte Pflichtschule mit großen Herausforderungen berücksichtig wird.

Martin Schenk

Der Chancenindex hilft besonders beim dritten, aber auch beim ersten Effekt. Aus den internationalen Vergleichsstudien wissen wir aber: Mehr Geld für die Schulen bedeutet nicht automatisch, dass sie qualitativ besser werden. Deswegen muss jeder Standort ein Konzept entwickeln, wie er die Ressourcen am sinnvollsten einsetzt. Für den Erfolg zentral ist ein wertschätzendes, nicht-beschämendes Vorgehen. Öffentliche Rankings von Schulen beschämen die Schwächeren statt sie zu stärken – und vertiefen die Unterschiede. Zur Schulentwicklung ist es zielführender, wenn sozial ähnlich zusammengesetzte Schulstandorte voneinander lernen.

Es gibt einige internationale Beispiele, die zeigen, wie Schulen an benachteiligten Standorten die Trendwende schaffen können. „Wir haben jede Schule aufgefordert, drei Punkte zu nennen, in denen sie wirklich gut ist – gut genug, um andere einzuladen“, sagen die Londoner Schulreformer der „London Challenge“. Man müsse auch die Tradition brechen, dass jeder Lehrer für sich alleine kämpft. Hier braucht es Unterstützung und Ressourcen für die Pädagogen. Die Vorteile sind: Schulische Autonomie und Demokratie werden gefördert und Anreize für engagierte Pädagogen gesetzt.

„Schule macht sich stark"

Ähnliche Erfahrungen machte auch das deutsche Aktionsprogramm „Schule macht sich stark“. In Berlin beispielsweise wurden zehn Schulen ausgewählt, in denen es schwache Lernergebnisse gab, viele Kinder aus Haushalten mit wenig Geld unterrichtet wurden und in denen es häufiger als in anderen Schulen zu Gewalt kam.

Die Erkenntnisse daraus:

  1. Schulen in kritischen Lagen verändern sich selten von sich aus. Der Anstoß muss von außen kommen.
  2. Unterrichtsqualität ins Zentrum rücken.
  3. Lehrkräftequalität sichern: schulinterne Fortbildungsprogramme aufsetzen.
  4. Teamstrukturen aufbauen, multiprofessionelle Teams in Schulen fördern.
  5. Das Grätzel, den Sozialraum um die Schule, miteinbeziehen. Und
  6. Schule ganztägig führen.

Hohe Erwartungen

Diese Erfahrungen bestätigt auch das Projekt „London Challenge“. Anfang der 2000er Jahre stiegen nur noch neun Prozent der Schüler öffentlicher Londoner Mittelstufenschulen in die Oberstufe auf. 2015 kamen 70,5 Prozent in die Oberstufe. Im Zentrum des Turnarounds stand die Qualität des Unterrichts, das Bilden von Lehrerteams, Ressourcen für pädagogischen Umbau und eine neue Haltung gegenüber den Kindern: „Lass dich nicht unterkriegen. Wir trauen dir zu, dass du viel kannst“. Das ist alles andere als selbstverständlich, wenn wir die aktuelle Debatte hierzulande ins Auge fassen. Die geht oft so: Die Schüler können nichts, auch die Eltern sind blöd, machen kann man dann eigentlich eh nichts – außer am liebsten Schüler und Eltern austauschen.

Aus dieser „Haltungsfalle“ herauszukommen, stand im Zentrum der Schulreform. Wer hier lehrt, muss Kindern alles an Leistung zutrauen. Wer hier arbeitet, darf seine Erwartungen und die der Schüler nicht selbst begrenzen. Hohe Erwartungen sind ganz wichtig. In alle Richtungen. Auch an den Spirit der Lehrkräfte: „We do these things not because they are easy, but because they are hard“. Kunst und Theater werden in den Chancenindex-Schulen in Kanada als Lernort für Selbstbewusstsein außergewöhnlich stark betont. Die Lehrer erzählen warum: Performing Arts bieten die Möglichkeit, Rollen auszuprobieren, sich zu behaupten, Rhetorik zu lernen, souveräner sich und eine gemeinsame Sache zu vertreten. Das brauchen die Kinder hier ganz besonders.

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich, Mitinitiator der Armutskonferenz und Lehrender am FH Campus Wien.

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