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Schwere Zeiten für die Schule

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In welche Schule werden die Geburtsjahrgänge der neunziger Jahre gehen? In eine übertechnisierte europäische Eintopfschule? In eine Wis-sensvermittlungs- oder Sozialisationsanstalt, an die Eltern ihre Probleme delegieren? Wird in einer pluralen Konsumgesellschaft die Erziehung zu Werten noch gefragt sein?

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In welche Schule werden die Geburtsjahrgänge der neunziger Jahre gehen? In eine übertechnisierte europäische Eintopfschule? In eine Wis-sensvermittlungs- oder Sozialisationsanstalt, an die Eltern ihre Probleme delegieren? Wird in einer pluralen Konsumgesellschaft die Erziehung zu Werten noch gefragt sein?

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FURCHE-Interview mit dem Erziehungswissenschafter Marian Heitger

FURCHE: Die Schule hat in den letzten Jahrzehnten einige pädagogische Strömungen erlebt, genannt seien nur die Schlagwörter autoritär, anti-autoritär und zuletzt partnerschaftlich. Wird es so abwechslungsreich weitergehen?

PROFESSOR MARIAN HEITGER: Ich mutmaße, daß es weiterhin solche Strömungen geben wird. Mein Wunsch für die Schule aber wäre, daß sie Ruhe findet und daß wir eine Erziehungswissenschaft finden, die nicht modischen Schlagwörtern nachläuft, weil da die Gefahr besteht, die Bildung in der Schule zu erschlagen.

FURCHE: Die Schule hat zwei wesentliche Aufgaben: die Erziehung und die Wissensvermittlung. Wo werden in Zukunft die Schwerpunkte liegen?

HEITGER: Die Erziehung ist ein bißchen in den Hintergrund gerückt, weil wir in einer pluralen Gesellschaft leben, die keine eindeutigen Wertvorgaben mehr hat und dies häufig zu einer gewissen Feigheit verführt, daß wir nicht mehr Stellung beziehen. Ich halte das für falsch und bedenklich. Wir sind sicher in Gefahr, in der Schule der Zukunft dem Schüler noch mehr an Wissen beibringen zu wollen, daß ein menschenunwürdiges Lehren und Lernen betrieben wird, wo die Schüler genötigt werden, sich lediglich Kenntnisse und Daten einzuverleiben, ohne das Recht zu haben, sich selbst kritisch damit auseinanderzusetzen. Ich würde mir wünschen, daß wir eine Schule der Zukunft hätten, in der nicht nur Kenntnisse gesammelt werden, wo der Schüler nicht genötigt wird, irgendetwas anzunehmen und auf Knopfdruck zu wiederholen, sondern wo er selbst denken lernt.

FURCHE: Wird die Schule der Zukunft übertechnisiert sein?

HEITGER: Es ist schwer, eindeutige Prognosen zu geben. Ich kann nicht übersehen, daß Computer und Medien unser Leben bestimmen werden und daß der Schüler lernen muß, damit umzugehen. Ich würde es aber für bedenklich halten, wenn durch die technische Apparatur die sozialen Beziehungen in der Schule zerstört werden, wenn durch die technischen Apparaturen die Schüler nicht meh'r denken lernen, wenn die technischen Apparaturen den Lehrer weiterhin zu noch größerer Dringlichkeit verführen würden. Damit will ich sagen, die Schule der Zukunft wird nicht vergessen dürfen, daß wir in einem technischen Zeitalter leben, sie wird aber auch die Aufgabe haben, die Menschen zu lehren, sich mit Technik kritisch auseinanderzusetzen.

FURCHE: Heute sind im Schulsystem zwei entgegengesetzte Tendenzen festzustellen: auf der einen Seite zu mehr Vereinheitlichung -Gesamtschule, Ganztagsschule - auf der anderen Seite aber auch zu mehr Differenzierung - immer mehr Fachschulen für bestimmte Bereiche. Wie wird das weitergehen?

HEITGER: Zunächst einmal denke ich, daß unter dem Anspruch der ökonomischen und bürokratischen Tendenzen die Schule einheitlicher werden könnte. Demgegenüber laufen heute Tendenzen, daß Eltern darauf bedacht sind, ihren Kindern eine ihren Vorstellungen entsprechende Bildung zu ermöglichen. Es

ist ja auch der Gedanke der Elite nicht unanständig, man hat inzwischen gemerkt, daß Elite keineswegs dem Gedanken der Chancengleichheit widersprechen muß, sondern daß wir es durchaus nötig haben, in der Schule Eliten heranzubilden, daß solche Eliten auch von der Gemeinschaft getragen werden sollen, nicht davon abgehoben sein dürfen, sodaß ich mir schon denke, daß wir aus dieser Alternative integrierte Gesamtschule oder differenzierte Schulsysteme herauskommen. Die Vertreter der integrierten Gesamtschule haben ja möglicherweise selbst übersehen, daß sie durch dieses flexible System von Leistungsgruppen und Auf- und Absteigen während eines Schuljahres den Schüler einem permanenten Leistungsdruck unterwerfen. Ich wage zu bezweifeln, ob das die humanste Form

der Schule ist. Ich persönlich würde mir wünschen, daß man frei von vorgefaßten Ideologien jeweils jene Organisationsform sucht, die der Bildungsmöglichkeit des Schülers am angemessensten ist. Ich würde mir wünschen, daß man aus den Verkrustungen und den Alternativstellungen herauskäme.

FURCHE: Wenn Europa zu einer Einheit werden soll, kann da überhaupt ein Kleinstaat wie Österreich im Bildungsbereich eigene Wege gehen? Muß nicht ein einheitliches Schulsystem europaweit kommen? Sollte es aber anderseits einem Kleinstaat nicht möglich sein, im Bildungswesen eigene bewährte Traditionen beizubehalten?

HEITGER: Ich würde es für bedenklich halten, wenn die Integrationsbestrebung Europas dazufüh-ren würde, daß wir überall das gleiche Schulsystem hätten. Wir sollten uns über bestimmte Ausgangsbedingungen des Schulsystems klar werden: Dann und dann wird erwartet, daß man dies beherrscht und jenes kann. Und die Bürokratie sollte etwas flexibler sein in der Anrechnung von Schulbesuchen in den verschiedenen Ländern. Anderseits kann die Integration Europas nicht heißen, daß das, was die verschiedenen Völker, Staaten, Gruppen, Nationen als kulturelles Eigentum mit in die Gemeinschaft einbringen, verloren geht. Ich hoffe, daß nicht eine europäische Einheitsbildung herauskommt, sondern die Vielfalt der Möglichkeiten sich zu bilden in Europa erhalten bleibt und daß Integration nicht Vereinheitlichung heißt, sondern Anerkennung des anderen in seinem Anderssein.

FURCHE: Eine andere Frage ergibt sich aus den soziologischen Gegebenheiten. Es gibt immer mehr Ein-Kind-Familien. Was bedeutet das für die Schule?

HEITGER: Es bedeutet die Fortsetzung einer Tendenz, die wir jetzt schon feststellen können, daß Eltern, wenn sie nur ein Kind haben, sehr viel sorgfältiger versuchen, dessen Lebensglück zu planen. Das geht natürlich in vielen Fälle daneben, weil sie den Lebensentwurf des Kindes nicht mehr dem Kind

überlassen. Das bedeutet nicht, daß die Sorge von Eltern für eine möglichst offene, schöne Zukunft ihrer Kinder nicht ernstzunehmen ist.

Weiters wird eine Tendenz sichtbar, in der die Schule der Repräsentant eines normativ, bürokratisch, institutionell festgelegten Systems wird, das dem Kind anders gegenübertritt als die Familie. Wenn in der Familie ein Kind da ist, besteht natürlich die Tendenz, daß diesem Kind alle Wünsche erfüllt werden, daß es keine Rücksichten zu nehmen braucht, wobei oft auch die Eltern beide berufstätig sind und möglichweise die dem Kind nicht gewidmete Erziehungsaufgabe durch Erfüllung aller Wünsche kompensiert wird.

Im Gegensatz dazu wird die Schule dem Kind dann noch deutlicher zeigen, daß Eintreten in einen sozialen Verband auch bedeutet, daß ich von meinen subjektiven Wünschen und Vorstellungen zurücktreten muß um des Zusammenlebens der Gemeinschaft willen. Dem Kind tritt in der Schule die Forderung entgegen, etwas zu tun, was nicht mehr seinen Wünschen entspricht: ein Lehrplan, eine Schulordnung, eine bestimmte pädagogische Autorität. Es werden Spannungen zwischen Schule und Elternhaus aufkommen, deren Bestehen man nicht einfach nur durch Gesetze aus der Welt schaffen kann, sondern wo man sich schon überlegen muß, wie Schule und Elternhaus auf neuer Basis zusammenarbeiten können.

FURCHE: Müßte die Schule der Zukunft neue Fächer, zum Beispiel ein solches „soziales Lernen", unterrichten?

HEITGER: Ich würde eher sagen „Erziehung zur Mitmenschlichkeit" , weil soziales Lernen so etwas Technisches hat. Mitmenschlichkeit ist eine Frage der Haltung. Ich glaube, daß diese in der Schule mehr als bisher im Mittelpunkt des Interesses stehen sollte. Aber das ist kein Fach, sondern ein alle Fächer begleitendes Moment der Erziehung, der Einstellung, des Umgehens miteinander: lernen, einander zu helfen, etwas zu erklären, lernen, nicht einem falschen Konkurrenz-

denken zu unterliegen, lernen, auf die Bedürfnisse des anderen einzugehen.

Das schließt aber nicht aus, daß es auch neue Sachbereiche gibt, die Eingang in die Schule finden müssen. Man könnte natürlich an das Problemfeld Umwelt, Naturschutz denken. Wir haben so etwas schon bei Geschichte und Sozialkunde. Ich meine, es käme darauf an, Zusammenhänge zu erkennen, zu begreifen und aus ihnen handeln zu können. Sicher werden wir auch immer wieder an unseren Lehrplänen arbeiten. Lehrplanarbeit ist eine kontinuierliche Aufgabe der Schule. Wir sollten uns aber vor radikalen Brüchen hüten, die immer auch einen Bruch mit der Vergangenheit darstellen.

Es gibt zwei Tendenzen, die für die Schule und die Lehrplanarbeit der Zukunft für die Schule ein gewisses Spannungsfeld darstellen. Einerseits natürlich die fortschreitende Spezialisierung, darauf beruht der Fortschritt der Wissenschaft. Die Frage ist, wie weit die Schule wissenschaf tsorientiert diese Spezialisierung mitmacht. Zum anderen ist eine willkommene Tendenz der Versuch, Zusammenhänge zu sehen, dieser großen Spezialisierung gegenzusteuern - unter dem mir etwas suspekten Schlagwort ganzheitliches Denken, denn das ganzheitliche Denken hat ja immer auch die Tendenz, totalitär und diktatorisch zu werden. Die Schule muß beide Tendenzen aufgreifen und versuchen, dieses Spannungsverhältnis immer wieder und von Fall zu Fall auszugleichen.

FURCHE: Was wünschen Sie sich noch besonders konkret für die Schule der Zukunft?

HEITGER: Eine bessere Lehrerbildung. Wir können mit der Schule Überlegungen anstellen, wie wir wollen, wenn es nicht gelingt, die Lehrerbildung besser zu machen als sie jetzt ist, werden die Dinge scheitern. Lehrer werden auch heute noch didaktisch-methodisch so geschult und trainiert, als ob man eine Stunde von Schritt zu Schritt eindeutig planen könnte. Der Lehrer muß im Augenblick des Anlaßfalles in der Lage sein, diesen zu thematisieren. Ich will damit sagen, daß Lehrerbildung im Auge haben müßte, einen urteilsfähigen, selbständig denkenden, phantasievollen, kreativen Lehrer sich heranbilden zu lassen und nicht zu glauben, ich könnte mit irgendwelchen methodischen Pro'grammen dem Lehrer die Aufgabe abnehmen, seine Stunde angesichts seiner Klasse und der Probleme, die sich ihm stellen, auch individuell zu gestalten. Ich sage auch individuell, weil es natürlich bestimmte Grundsätze und Modelle gibt, die er kennen, aber nicht einfach in die Schule übertragen sollte. Wir leisten damit der Denkfaulheit und Bequemlichkeit von Lehrern und Schülern Vorschub.

FURCHE: Wird es die Schule in Zukunft schwerer haben als bisher, oder steht sie immer vor den gleichen Herausforderungen?

HEITGER: Ich glaube, daß sie es schwerer haben wird. Einerseits aus den genannten Tendenzen der Spezialisierung, der neuen Aufgaben, der Erweiterung des Wissens, anderseits auch aufgrund des schwieriger gewordenen Erziehungsproblems, das häufig von den Familien in die Schulen abgeschoben wird. Insgesamt wird die Schule es schwerer haben, wobei man dringender denn je eine gute Bildung in unseren Schulen braucht. Sicher tut sich in diesem Zusammenhang ein neues Spannungsfeld auf. Für mich ist es erschütternd, wie wenig sich die Politik dieser Aufgabe stellt.

Mit dem Ordinarius für Erziehungswissenschaften an der Universität Wien sprach Heiner Boberski.

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