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Ratlose Alte, revoltierende Junge

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Den Pädagogischen Rat der Mittelschullehrer' Oesterreichs beschäftigt begreiflicherweise schon lange das ja überhaupt sehr aktuelle Problem „Schuldisziplin“. Mitte Oktober kam es zu einer Beratung in größerem Kreis. Haupt-und Mittelschullehrer, Universitätsprofessoren, Aerzte, Psychiater und Jugendrichter nahmen daran teil. Es ging um cjie disziplinaren Fragen bei Kindern und Jugendlichen von 10 bis 18 Jahren.

Daß die Jugend von heute die Lehrer, welchen Schulen immer sie angehören, vor besondere Aufgaben stellt, daß sie es selbst nicht leicht hat, sich in der Welt von heute und in der Schule, durch die sie nun einmal durch muß, zurechtzufinden und daß diese Schwierigkeiten zu einem großen Teil ihre Ursache in der soziologischen Umwandlung haben, die die Menschen Europas jetzt erfahren, jetzt selbst herbeiführen (dem Wandel der Lebenssituationen, der Lebensauffassungen, der Familiensrruktur), war allgemein anerkannte Voraussetzung.

Es kam zu sehr offenen Feststellungen über ein Ausmaß von Disziplinlosigkeit und Verwilderung, von dem man einander sonst nur einiges ins Ohr flüstert, und zu sehr offenen Klagen über die Ausgeliefertheit mancher Lehrer in manchen Schulen, weil die Disziplinarmittel, über die sie verfügen, die ihnen erlaubt werden, gewissen Gruppen von Schülern gegenüber wirkungslos bleiben. — Die Humanisierung der Disziplinarmittel Stammt aus einer Zeit, in der den Schülern von der Familie und von der öffentlichen Meinung her noch ein gut Stück selbstverständlicher Zucht in den Knochen stak. Damals hat diese Humanisierung manche unnötige Härte gemildert. Die einseitige Steigerung dieser Humanisierung droht aber nun auch alle nötige Härte zu beseitigen.

Die wesentlichen Ergebnisse der Diskussion wird man nach drei Richtungen gliedern können. i 1. Widerstand gegen die Schule entsteht in dem Schüler sehr oft dann, wenn seine Anlagen und daher auch seine Interessen den Anforderungen nicht entsprechen, die an ihn gestellt werden, entweder also wenn er überfordert ist, oder Wenn zuwenig von ihm verlangt wird. So sind in Klassen mit zu großen Begabungsspannungen sowohl die Unbegabten wie die besonders Begabten die Unbefriedigten und somit die Störenfriede: sie revoltieren oder machen sich lustig.

Für die Hauptschulen wurde mit gutem Grund gefordert, daß die B-Züge von den sogenannten „Grenz-Debilen“ befreit werden, so daß die intellektuell schwächeren, aber normalen Schüler in der ihnen entsprechenden langsameren Weise ungestört zu einem ihnen gemäßen Bildungsziel geführt werden können. Für die Unterstufe der Mittelschulen wurde der Zudrang von Schülern beklagt, die ihren Anlagen nach in die Hauptschule gehören. Für die Oberstufe der allgemeinbildenden Mittelschulen jedoch kam es zu einer sehr bezeichnenden Feststellung: der Sinn der höheren Allgemeinbildung (ihr Selbstzweck wie ihre Bedeutung für das kulturelle Niveau der kommenden Generation) wird von vielen „Studierenden“ wie auch von den meisten Eltern, die jetzt ihre Kinder „studieren“ lassen, nicht mehr gesehen. Daher gibt es zwar leistungsbereite Schüler in den Berufsschulen, Lehrerbildungsanstalten, Handelsakademien, höheren gewerblichen Schulen und daher in diesen Schulen auch weitaus weniger Disziplinschwierigkeiten, nicht aber, oder viel seltener als früher, in den Realschulen, Realgymnasien und sogar Gymnasien.

2. Die Schule selbst wieder versagt der Jugend gegenüber insofern, als die erwähnte Humanisierung der Behandlung (der sogenannte „Erzieheroptimismus“) den Blick der Erzieher dafür getrübt hat, daß es Unterschiede in der Behandlung geben müsse, solange die seelischen Voraussetzungen bei den Kindern und Jugendlichen verschieden sind. Hier fiel das Wort von dem „Recht“ eines gesunden Lausbuben auf eine Ohrfeige. Die Kinder, die Jugendlichen und selbst die Erwachsenen reagieren nicht alle gleich auf dieselbe Art des (freundlichen oder unfreundlichen) Entgegenkommens. Das gilt für die Altersstufen, das gilt aber auch für tiefer wurzelnde Charakterstrukturen (von dem feinfühlig bis zum kriminell Veranlagten). Die einen sind nur durch Strafen (in den Formen von Vergeltung oder — was höher ist — von Sühne) ansprechbar. Manchen gegenüber handelt es sich überhaupt schon um den Schutz der Klasse oder der Lehrkräfte vor ihrer Unbändigkeit. Andere sind am ehesten durch Motive des Stolzes und der Ehre zu beeinflussen. Daß die Mehrzahl durch reinere ethische Motive: des Guten um des Guten willen, „damit es in der Welt sei“, wie Ebner-Eschenbach gesagt hat, oder aus Liebe zu Gott, nicht oder nur selten bestimmt werden, dürfte keinem realistisch denkenden Menschen verborgen sein. Bei den Erwachsenen selbst ist es ja nicht besser, eher noch schlechter.

So ist eine gewisse Härte, so sind auch strenge Verhaltensforderungen und strenge Strafen zuweilen das gerade im gegebenen Fall beste Erziehungsmittel. Dabei muß dem Bestraften aber — das gilt besonders für Kinder und Jugendliche — bewußt sein, daß sich der Erzieher diese Form der „Zu-Recht-Weisung“ als notwendig abgerungen hat und nicht aus eigenen triebbedingten Motiven und mit heimlichem oder offenem Genuß ausübt. Lind es müßte daher auch dem Schüler dort, wo es noch irgendwie möglich ist, der Weg zur Rückkehr offen stehen: er müßte wissen, trotz allem noch „akzeptiert“ zu sein und trotz allem „neu anfangen“ zu können.

3. Ein anderer Grund für die Disziplinlosigkeit der Kinder und Jugendlichen besteht aber darin, daß die Erwachsenen, die Eltern, die Lehrer und die Erwachsenen der Umwelt ihre Selbstsicherheit verloren haben. Die Eltern und Lehrer sind nicht nur, wie gesagt wurde, oft gar nicht imstande, die nötigen Ohrfeigen zu geben, das heißt, mit der entsprechenden, dem Kind oder Jugendlichen alleinverständlichen Härte aufzutreten — daß körperliche Züchtigung in der Schule, besonders für die mindestens Zehnjährigen, nicht angebracht und nicht notwendig sei, war allgemeine Ueberzeugung —, sondern sie wissen gar nicht mehr, in welchem Verhältnis sie natürlicherweise zu ihren Kindern oder Schülern stehen.

Die traditionellen Ueberzeugungen sind erschüttert, neue Formen haben sich noch nicht herausgebildet. Wenn sich auch gewisse Kristallisationsansätze da und dort zeigen — auch die Ernüchterungen in der Soziologie der USA sind ein Symptom dafür (vgl. D. Riesman, „Die einsame Masse“, und die Einführung dazu von H. Schelsky, besonders S. 11 der Rowohlt-Ausgabe!) —, im allgemeinen herrscht Ratlosigkeit fast überall und dabei die Angst, vielleicht gar als rückständig zu erscheinen. Gegen diese Ratlosigkeit dringt aber das natürliche Bedürfnis der Jugendlichen vor, ihre Möglichkeiten zu erproben, die Grenzen dieser Möglichkeiten abzutasten und, wo es geht, zu durchbrechen. Und erweisen sich die Schranken nicht als fest genug, so werden sie überrannt: das Bedürfnis, irgendwie die Ueberlegenheit an sich zu reißen, ist zu groß. Und die ethischen Gründe, dieses Bedürfnis zu zähmen, sind zu schwach.

Für den Pädagogischen Rat wird sich aus den Beratungen nun die Notwendigkeit ergeben, die zur Zeit nur provisorisch gültigen Disziplinarordnungen der Schulen und ihre Anwendungsweise (die oft noch durch Verordnungen eingeschränkt wird) einer Prüfung zu unterziehen und Vorschläge für eine neue Gestaltung zu machen.

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