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Bildung und Benehmen

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DER ALTE ÖSTERREICHISCHE OFFIZIER hatte zweifellos seine Schwächen. Aber eines konnte man ihm bestimmt nicht nachsagen: Mangel an gutem Benehmen. Seine Erziehung und seine Haltung gelten auch heute noch als unerreichtes Vorbild.

1918 war es mit dem alten österreichischen Offizier vorbei — und von diesem Augenblick an ging es, leider, in weiten Kreisen auch mit dem Benehmen bergab.

Doch die alten Kadettenschulen und Offizierstöchterinstitute, in denen typisch österreichische gute Erziehung von Generation zu Generation weitergegeben wurde, sind in dieser Hinsicht geblieben, was sie waren: Schulen für eine Elite, in denen nicht nur das Gehirn mit Wissen angestopft, sondern der ganze Mensch gebildet wird. Hier wurde innere und äußere Haltung als Erziehungsziel nicht zum alten Eisen geworfen.

MAN NANNTE SIE „BUNDESERZIEHUNGSANSTALTEN“, änderte den Lehrplan und ging überhaupt im besten Sinn mit der Zeit. Sie sind nach wie vor, wie gesagt, Eliteschulen für eine besonders begabte Minderheit — es ist nicht leicht, in sie aufgenommen zu werden. Doch der einstige soziale numerus clausus wurde in sein Gegenteil umgedreht: Die, Bundeserziehungsanstalten bevorzugen heute gerade jene Bewerber, denen der Besuch einer Mittelschule ansonsten nicht oder nur unter-großen Schwierigkeiten möglich wäre. Kinder aus abgelegenen Ortschaften, Kinder im Ausland lebender Österreicher, Kinder armer Eltern, Halb- oder Ganzwaisen, Kinder aus Familien mit unzulänglichen Wohnverhältnissen, Kinder, deren Eltern beide arbeiten müssen, werden hier besonders gern gesehen.

Die Bundeserziehungsanstalten verlangen besondere Begabung, starken Leistungswillen, charakterliche und körperliche Eignung. Geld ist Nebensache. Finanzielle Probleme werden durch die Vergebung von Ermäßi-gungs- und Freiplätzen sowie Stipendien gelöst. Wenn Plätze frei bleiben, können auch ausländische Kinder aufgenommen werden.

DER ERSTE EINDRUCK ist oft sehr wesentlich. Der erste Eindruck, den die österreichischen Bundeserziehungsanstalten auf den Besucher machen, ist ausgesprochen positiv. Wir hatten Gelegenheit zu einer gründlichen Besichtigung der Bundeserziehungsan-stalt für Knaben in Graz-Liebenau — es gibt eine weitere in Saalfelden, Salzburg sowie Bundeserziehungsanstalten für Mädchen in Wien und auf Schloß Traunsee (Oberösterreich). Dem Besucher fallen sofort folgende Dinge auf:

Die Schüler benehmen sich fröhlich und völlig ungezwungen — aber niemals ausgelassen.

Die Anwesenheit eines Erziehers scheint sie kaum zu stören — das Treiben auf den Gängen oder in einem Aufenthaltsraum ändert sich nur wenig, wenn ein Erwachsener ins

Zimmer tritt. Mit einiger Geschicklichkeit läßt sich die Probe aufs Exempel machen.

Stellt man Fragen, so bekommt man sachliche, knappe und vor allem höfliche Antworten — aber in dieser Höflichkeit ist kein falscher Ton: Sie scheint wirklich von innen zu kommen.

Angst vor den Erziehern scheint hier weitgehend unbekannt zu sein — man hat nicht den Eindruck, daß irgendeine Art von Druck ausgeübt wird.

Dem Unterricht folgen die Schüler wesentlich interessierter und aktiver als in sehr vielen anderen Schulen. Allerdings hat man den Eindruck, daß ihnen der Wissensstoff hier besonders interessant und klar dargeboten wird. Wo es irgendwie möglich ist, wird dem jugendlichen Betätigungsdrang entgegengekommen. Im Naturgeschichtsunterricht ist die Arbeit am Mikroskop eine Selbstverständlichkeit, Physik- und Chemiesaal sind ausgesprochen modern eingerichtet, für die Musikstunde stehen die von Orff vorgesehenen Instrumente zur Verfügung. Eine umfangreiche Bibliothek enthält Lektüre für alle Altersstufen, vom zehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr. Die Bibliothekare sind Schüler.

In den handwerklichen und künstlerischen Fächern werden nicht nur entzückende Tierplastiken geschnitzt — die Schüler üben sich in den verschiedensten Techniken, Hauskapelle und Eingangshalle haben sie zum Teil selbst ausgestaltet, die Linolschnitte, die anläßlich des letzten Weihnachtsfestes entstanden und selbst gedruckt wurden, zeigen ein erstaunliches künstlerisches Niveau.

WER HIER ERZOGEN WURDE, wird sich später im Leben leichter zurechtfinden und wird mit großer Wahrscheinlichkeit vorwärtskommen, ohne seinen Mitmenschen unnötig auf die Zehen zu steigen. Denn er wurde zum Leben in der Gemeinschaft erzogen — er hat es gelernt, sich einzufügen. Wobei die Erziehungserfolge, die hier erreicht werden, um so nachhaltiger sind, als sie nicht auf dem blinden Befolgen von Geboten und Verboten, sondern auf dem Appell an Vernunft und Einsicht beruhen.

Selbstverständlich steht und fällt der Erfolg einer solchen Schule mit der Gewinnung entsprechender Lehrkräfte — auch sie müssen eine Elite darstellen.

DER STUNDENPLAN eines Wochentages in der Bundeserziehungsanstalt Graz-Liebenau; der gesante Betrieb wird zur Erleichterung in zwei Gruppen abgewickelt, wobei der zweiten Gruppe die Schüler der Oberstufe angehören:

Wecken 6.40 Uhr für die Unterstufe, 7 Uhr für die Oberstufe. Frühstück von 7 bis 7.15 beziehunesweise von 7.25 bis 7.40 Uhr. — Während die älteren Schüler frühstücken, wiederholen die jüngeren ihren Lehrstoff. Der Unterricht dauert von 8 bis 12.30 Uhr für die Unter- beziehungsweise

13.30 Uhr für die Oberstufe. Gegessen wird von 12.45 bis 13.15 Uhr (beziehungsweise 13.35 bis 14.05 Uhr). Nach dem Essen beginnt für alle Schüler, abgesehen von einigen Klassen, die noch Unterricht haben, die Freizeit. Sie wird, je nach der Jahreszeit, im Freien verbracht, bei Spielen, über Büchern, im Schwimmbecken, unter der Dusche ... Zwischendurch halten beide Gruppen hintereinander je zwanzig Minuten Jause, von 16 bis 18.30 beziehungsweise von 16.20 bis 19.05 Uhr wird studiert. Nach dem

Abendessen, das anschließend stattfindet, ist Feierabend — er steht für Lektüre, Spiele, Korrespondenz mit der Familie oder Turnen, für Aussprachen mit den Erziehern, für Chor- und Orchesterveranstaltungen, Theateraufführungen, Filme usw. zur Verfügung. Die Nachtruhe beginnt, je nach Jahrgang, zwischen 20.30 und 21 Uhr, nur die Schüler der siebenten und achten Klassen dürfen fallweise länger aufbleiben.

APROPOS THEATER: Die Aufführungen — die Schüler spielen und inszenieren selbst — machen nicht nur Spaß, sondern ergänzen auch den Unterricht in deutscher Sprache und fallweise auch den in Französisch, denn auch in der Unterstufe werden gelegentlich auch fremdsprachige Stücke geprobt. Und mit Hingabe, mit Freude an der Sache, und nicht ohne unfreiwilligen, aber unbeschwerten Humor auf die Bühne gelegt. Wobei der unfreiwillige Humor vor allem dadurch zur Geltung kommt, daß in den Bundeserziehungsanstalten für Knaben keine weibliehen, im anderen Fall keine männlichen Darsteller zur Verfügung stehen.

Die Reisen, die von den Schülern klassenweise unternommen werden, führen nicht nur in die verschiedensten Teile Österreichs, sondern auch ins Ausland: Erst letztes Jahr hat eine Klasse einige Wochen im Austausch gegen französische Schüler in Paris und in einer französischen Schule verbracht. Der Unterricht wird dadurch nicht unterbrochen.

DER LEHRPLAN an den Bundeserziehungsanstalten entspricht im wesentliehen dem der Realgymnasien, läßt also alle Entscheidungen für die Zukunft offen. Allerdings ist er umfangreicher als in den Realgymnasien: Neben der lateinischen Sprache werden zwei Fremdsprachen verbindlich gelehrt, und zwar von Schule zu Schule verschieden, die eine Sprache, Englisch oder Französisch, 'von der ersten, die zweite von der fünften Klasse an. In Graz-Liebenau kann man sich auch für die russische Sprache entscheiden — eine weitere Erweiterung der Wahlmöglichkeiten im Sprachunterricht steht auf dem Wunschzettel der Direktionen.

Umfangreich ist auch die Liste der Freifächer und sonstigen Betätigungsmöglichkeiten: Man kann ein Musik-

Instrument erlernen, gemeinsame Hausmusik ausüben, wobei der Rahmen des Dargebotenen von der klassischen Musik bis zum Jazz reicht, man kann sich bei der Ausgestaltung von Festen und Feiern, beim Organisieren von Ausstellungen und in manch anderer Weise betätigen.

ÜBER ALL DIESEN AKTIVITÄTEN steht als oberster Grundsatz geschrieben: Erziehung zur Gemeinschaft durch die Gemeinschaft. Erziehung zur Verantwortung dem Einzelnen und der Gemeinschaft gegenüber. Erziehung zu einem Menschen, dem die Kultur am Herzen liegt. Und nicht zuletzt: Erziehung zu einem bewußten Österreicher.

„IN DIE BUNDESERZIEHUNGSANSTALT geht ihr Sohn? Ja, was hat er denn angestellt?“

Obwohl, wie dargelegt, die Bundes-erziehurrgsanstalten ausgesprochene Eliteschulen für die Intelligentesten und Begabtesten sind, müssen sich auch heute noch Eltern, die ihre Kinder in eine solche Schule schicken, solche und ähnliche Fragen gefallen lassen. Anscheinend führt der Name „Bundeserziehungsanstalt“ oft zu einem unerwünschten Mißverständnis. Anscheinend hat er für manches Ohr einen negativen Klang. Vielleicht liegt es daran, daß das Wort „Anstalt“ viele von uns sozusagen als unlustbetont empfinden. Vielleicht spielt der Umstand mit, daß bestimmte Schulen, die tatsächlich für schwierige Kinder bestimmt sind, einen ähnlich klingenden Namen führen. Tatsache ist, daß die Bezeichnung „Bundeserziehungsanstalten“ für Österreichs Eliteschulen ein gewisses Handikap bedeuten. Und daß man sich vielleicht entschließen sollte, eine etwas freundlicher klingende Bezeichnung zu finden.

Denn es geht nicht nur darum, keine Begabten abzuschrecken. Es geht auch darum, die Bundeserziehungsanstalt, wie immer sie auch heißen mag, so wie einst die Kadettenschule, zu einem Symbol zu machen. Zum Symbol für gute, österreichische Erziehung, für Bildung und Benehmen.

Sie hat sich diesen Platz im Bewußtsein der Öffentlichkeit wirklich verdient.

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