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Maturanten 1948

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Di Mittelschüler der oberen Jahrgänge sind viel ernster geworden als diejenigen früherer Generationen. Abgesehen von dem Zeitverlust infolge der vielfachen „kriegsbedingten Unterbrechungen“, von denen die Zeugnisse noch sprechen, sind unsere Maturanten durch Lebenserfahrungen innerlich reifer geworden. Man vergißt es so leicht, daß diese letzten Jahrgänge infolge Bombenterror, Verlagerungen, Kriegseinsatz in ihrem fünften Mittelschuljahr nur ganze zwölf Wochen Unterricht hatten und man übersieht, daß heute noch Kriegsteilnehmer zur Reifeprüfung antreten. So konnte es Vorkommen, daß ein Kandidat sich der Reifeprüfung unterzog, der erst im Laufe des vergangenen Jahres aus vierjähriger Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Viele vollenden ihre Mittelschulstudien daher in einem Alter, in dem frühere Generationen scjcion an die ersten Rigorosen denken konnten. Das machte diese Jugend ernst und arbeitseifrig, wobei es ihr nicht an echtem Frohsinn fehlte. „Die tollen Stückeln" von früher fehlten aber und damit entfielen ernstere Disziplinschwierigkeiten. Die Jugend ist stiller geworden, das müssen die unterrichtenden Lehrer immer wieder zugeben, die ihr darum audi keine Schreckgespenster sind, sondern vielfach echte Freunde.

Mit ihrem in ernster Zeit erworbenen höheren Maß von persönlicher Selbständigkeit und Urteilskraft sucht diese Jugend in der Tat im Lehrer den älteren Freund, in dem sie den Vorgesetzten zu respektieren versteht. Man hat sie in ihren Knabenjahren sosehr auf Kameradschaft „ausgerichtet“, daß sie, eines Schlagwortes müde geworden, mit sicherem Empfinden spüren, wo ihnen ein Herz entgegenschlägt, wo nicht nur Wissen vermittelt wird, wo der Lehrer auch außerhalb der Unterrichtszeit für sie Verständnis hat. Und es ist eigenartig: wir Älteren, die wir in einigermaßen normalen Zeiten und gewöhnlich in der Geschlossenheit einer Familie aufgewachsen sind, hatten selten das Bedürfnis einer außerschulischen Aussprache mit unseren Lehrern, uns hielt sogar eine gewisse Scheu davon ab, ihnen persönlich näherzukommen. Heute erlebt man es, daß mancher Schüler in vielfachen äußeren und inneren Nöten zum Lehrer kommt und mit einem frohen, dankbaren Leuchten aus solchen Stunden geht, die beiden, Lehrer wie Schüler, oft viel zu bedeuten vermögen. Einer meiner begabtesten Maturanten war ein Kriegsversehrter aus Wien, der in den letzten Umbruchtagen seine Mutter und damit den inneren Zusammenhang mit seiner Familie verloren hatte. Durch Privatstunden, die ihm zuweilen ein Woebenpensum von 60 bis 70 Lektionen brachten, bestritt er seinen Lebensunterhalt. Dazu wurde ihm noch in den letzten Wochen das Fahrrad gestohlen, mit dem er von Schüler zu Schüler eilte. Dieser junge Mensch hatte einfach das Bedürfnis, sich von Zeit zu Zeit mit seinem Klassenvorstand auszusprechen. Meist begann die Unterredung mit einer wissenschaftlichen Fragestellung und endete dann bei den einfachsten Dingen des täglichen Lebens, wo man oft verstehend und ratend weiterhelfen konnte.

Am häufigsten wurde man auch — ganz inoffiziell — als „Berufsberater“ herangezogen. Hier erlebt man immer wieder die tragische Spannung zwischen lebhafter Begabung, echtem persönlichem Wollen, das meist auch noch durch frische Zielstrebigkeit verstärkt wird, und ernsten materiellen Schwierigkeiten. Es ist oft wirklich nieder- drückend, daß so manchmal Minderbegabten (oder weniger Fleißigen) sich alle Türen öffnen, während ein Tüchtigerer, der es viel mehr verdiente, von vornherein auf den harten Weg des „Werkstudenten“ verwiesen wird. Gerade diese tapferen jungen Streiter werden jedoch gut mit dieser neuen Prüfungszeit fertig werden, werden ihr oft fernes Berufsziel sicher erringen und alles höher zu schätzen wissen als die anderen, denen sich alles leichter gibt. So mag es manchem ergehen, wie jenem fleißigen und begabten Studenten, dessen Familie in den letzten Jahren durch viele Verfolgungen gegangen ist, an denen er mitzutragen hatte. Er besitzt die Fähigkeit zu wissenschaftlichem Studium, ihm fehlen gegenwärtig die Mittel. Vielleicht wird es ihm als Werkstudenten gelingen, die Inskription zu ermöglichen, indem er im Sommer harte Arbeit in einem bäuerlichen Betrieb leistet. Nur ein Schicksal aus einer Maturaklasse! Wiederholt es sich nicht in allen anderen Maturajahrgängen unserer Mittelschulen?

Der Idealismus dieses jungen Menschen verdient unsere Bewunderung. Eine Umfrage, die ich unmittelbar vor Schulschluß an stellte, ergab, daß 78 Prozent der Maturanten weiterstudieren wollen. Die techni schen Berufe sind dabei die häufigsten, ein ganze Reihe wählt Medizin, Chemie, Physik. Manche denken an eine spätere Verwendung im Ausland, was einem leid tun könnte, wenn man bedenkt, daß die Heimat auf diese prächtigen jungen Menschen verzichten soll. Nur ganz’ wenige wenden sich gleich einem praktischen Berufe zu. Einer will es sogar bei der Hochseeschiffahrt versuchen und er freut sich schon heute auf seine erste Wcl tumseghmg.

Diese letzten Wochen aber, da uns gemeinsame Sorgen womöglich noch enger zusammenschlossen, vertieften das Bewußtsein, daß die Lehrer ja nicht nur Gebende, sondern auch Empfangende sind. Nicht nur, weil ihnen so viel Vertrauen entgegengebracbt wird, sondern weil sie in die Psyche dieser jungen Menschen manchen Einblick tun durften, wenn irgendeiner in oft ergreifenden männlichen Scheu persönlichste Neigungen offenbarte. Man lernte hier ein Seite des Lebens kennen, die einem mitten im drängenden Alltag des Berufes oft verschlossen bleibt oder doch wenigstens nur mittelbar zugänglich wird. Man erfährt so manchen Zug charakteristischer Eigenheit, es enthüllen sich Bilder persönlicher Fähigkeiten von zuweilen überraschender Farbigkeit, die das Einerlei des Schultages verdeckt gehalten hatte.

Als es Abschied zu nehmen galt, spürte man, wie eine solche Abschlußklasse, der man durch manches Jahr „Kamerad in Sturm und Sonne“ hatte sein dürfen, einfach ein Stück des eigenen Lebens geworden ist. Den Maturanten selbst schien es ebenso zu ergehen. Auch solche Schüler, die hie und da zum „Schwänzen“ neigten, verschoben ihre Heimreise von Tag zu Tag, als könnten sie sich von dem schmucklosen, grauen Bau, in dem sie die vergangenen Jahre nicht immer zu ihrer reinen Freude ein- und ausgegangen waren, nicht trennen. Es war doch eine schöne Zeit. Oder ahnten sie, daß nun weit ernstere Sorgen ihrer warten?

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