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Die Arbeitermittel schule in Österreich

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Eines der Verdienste des österreichischen Schulwesens nach dem ersten Weltkrieg ist die Schaffung der Arbeitermittelschule.

Die tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen der ersten Nachkriegsjahre hatten einen alten Mangel des Mittelschulwesens besonders fühlbar werden lassen. Die Mittelschule kannte bis dahin nur das normale Studium an einer Tagesmittelschule, und wer diese nicht besuchen konnte und dennoch die Mittelschulreife erlangen wollte, mußte sich einer Externisten-Reifeprüfung unterziehen, auf deren Ablegung jedoch keinerlei staatliche Schuleinrichtung vorbereitete. Dieser Zustand mußte sich angesichts der allgemeinen materiellen Notlage der zwanziger Jahre zu einer außerordentlichen Härte für all die Menschen steigern, die begabungsmäßig für höhere Studien berufen waren, für die jedoch weder der Weg durch die Tagesmittelschule, noch der der privaten Vorbereitung auf die Externisten- Reifeprüfung gangbar war. Private Schulein- richtungen versuchten zwar in dankenswerter Weise, hier Abhilfe zu schaffen, konnten aber den vielen Bedürfnissen nicht genügen. Es war sohin nur allzu selbstverständlich, daß sich schließlich der Staat selbst der vielen Werktätigen annahm, die nach der Hochschulreife strebten.

Die Schwierigkeiten, die sich den ersten Versuchen entgegengestellt hatten, waren in der Tat vielseitig und groß. Der Umfang des Mittelschullehrstoffes machte eine solche Absicht zu einer Frage der Zeit und damit gleichzeitig zu einer Frage eines sehr erheblichen Aufwandes. Und gerade die Zeit und noch mehr die Kosten hatten die Menschen, um die es ging, in der Regel vom Mittelschulstudium ausgeschlossen. Dazu kam noch das sehr schwerwiegende Moment, daß die Interessenten im Berufsleben standen. Der Unterricht konnte demnach nur in die späten Abendstunden verlegt werden. Zum Studium selbst verblieben nur das Wochenende, die Feiertage und der Urlaub. Der Erfolg der Abendarbeit wird zwangsläufig durch den mit der vorausgegangenen Tagesarbeit verbundenen Kräfteverbrauch beträchtlich geschmälert. So mußten sich die Anforderungen an die Schulteilnehmer zufolge der Größe des Lehrstoffes einerseits und der verfügbaren Lehr- und Lernzeit and Leistungskraft andererseits so außerordentlich schwer gestalten, daß sie den Teilnehmern nur auf eine beschränkte Anzahl von Jahren zugemutet werden konnten. Über vier bis fünf Jahre hinaus, war vollkommen untragbar. Das ist etwa die Hälfte der Zeit, die die Mittelschule mit ihren durchschnittlich 32 Wochen- stunden benötigt. So reduzierte sich die Zeit für die geplante Arbeitermittelschule auf ein Viertel! Sie mußte aber bei sorgfältigster Gliederung und Einschränkung des Mittelschullebrstoffes auf ein Minimum, im Hinblick auf geistige Begabung, Leistungsfähigkeit und Willenskraft eine Aasleseschule ersten Ranges werden. Deshalb mußte Vorkehrung getroffen werden, daß sie nicht zu viele Teilnehmer an sich ziehe, die den Anforderungen nicht gewachsen waren. Außerdem mußte damit gerechnet werden, daß die Teilnehmer in bezug auf Alter, Bildung voneinander sehr stark abweicben würden und daß bei vielen eine sehr lange Zeit seit dem letzten Schulbesuche verstrichen sein würde, so daß sie auch einer gewissen Lernpraxis entwöhnt waren. Diese Umstände, erforderten eine besondere Auffassung, Auswahl und Gliederung des Lehrstoffes, für die keinerlei nennenswerte Erfahrung vorhanden war, so daß eine besondere Methodik erst erarbeitet werden mußte.

Aus diesen Gründen war man sich bewußt, daß sich die Arbeitermittelschule nicht vom Beratungstische aus konstruieren ließ, sondern daß aus der praktischen Erfahrung die endgültige Organisation geschaffen werden sollte. So behielt sich das Unterrichtsministerium ausdrücklich mehrere Jahre der Erprobung vor, als am 24. Juli 1928 die Arbeitermittelschule endgültig gegründet wurde.

Noch im Herbste 1928 wurde in Graz die erste Arbeitermittelschule eröffnet, im folgenden Frühjahre nahm die Arbeitermittelschule in Linz ihre Tätigkeit auf .

Der äußere Aufbau der Arbeitermittelschule gliederte sich in acht Halbjahrslehrgänge, die jedoch nicht semesterweise, sondern in Abständen von je eifiem Jahr eröffnet werden sollten. Der Lehrplan war dem Realgymnasium angeglichen mit Latein, Englisch und Darstellender Geometrie. Für die Reifeprüfung wurden die Bestimmungen der Externisten-Reifeprüfung übernommen. Um diesen Lehrstoff leichter zu bewältigen, wurden die Unterrichtsfächer, die fahrplanmäßig nicht Gegenstand der Reifeprüfung sind, in einer bestimmten Abfolge von Halbjahrslehrgängen vorgetragen und in kommis- sionellen Prüfungen abgeschlossen. Das wöchentliche Stundenausmaß wurde mit 16 Lehrstunden begrenzt, die auf die ersten fünf Tage der Woche sich verteilten, während die Samstagnachmittage als sogenannte Lernnachmittage dienen sollten, an denen die Teilnehmer durch Aussprache und Wiederholung mit den Lehrern den erlernten Stoff verarbeiten und festigen konnten.

Die altersmäßige Reife der Teilnehmer, ihre beachtenswert hohe Unterrichtsauffassung und die besondere Schulform an sich verlieben der Arbeitermittelschule von Anfang an einen besonderen Charakter, der sich namentlich in einem außergewöhnlich innigen, man kann sagen kameradschaftlichen Verhältnis zwischen Lehrkörper und Teilnehmerschaft und der Teilnehmer untereinander, in einer wahrhaft seriösen Arbeitsweise und einer Schuldisziplin ausprägte, die kaum einmal durch einen Mißton gestört wurde.

Mit den ersten Reifeprüfungen (Linz im Herbste 1932, Graz im Frühjahr 1933) war das Versuchsstadium der Arbeitermittelschule abgeschlossen. Die vier und etwas mehr Jahre einer unermüdlichen und denkbar sorgfältigen Aufbautätigkeit hatten namentlich in den komplizierten Fragen der Auslese, Gliederung und methodischen Verarbeitung des Lehrstoffes klare Erkenntnisse finden lassen. Der Aufbau und die Schulpraxis, die sich die Arbeitermittelschule zurechtgelegt hatte, hatten sich bewährt, lediglich die achtsemestrige Unterrichtsdauer erwies sich, namentlich für den Lateinunterricht, als zu kurz. Die gesammelten Erfahrungen waren so reichhaltig und gründlich, daß schon Mitte 1934 eine alle wesentlichen Einzelheiten erfassende Bestimmung erlassen werden konnte, die der Arbeitermittelschule die Wege der organisatorischen Vollendung wies. Daß es zu dieser nicht mehr kam, lag bei den Ereignissen von 1938. Diese nahmen übrigens von der Arbeitermittelschule zunächst nur wenig Notiz, späterhin etwas mehr, keineswegs aber in glücklicher Weise.

Das Jahr 1945 stellte die Arbeitermittelschule wie das gesamte österreichische Schulwesen vor die allgemein bekannten zahllosen Probleme des Wiederaufbaues, deren Lösung sich infolge der stofflichen und arbeitsmäßigen Konzentration naturgemäß sehr schwierig gestalten mußte. Von amtlicher Seite wollte und konnte man mit Rücksicht auf die gewaltigen Umwälzungen, die das gesamte Schulwesen durchzumachen hatte, der organischen Entwicklung der Arbeitermittelschule nicht vorgreifen und erachtete es für geboten, ein neuerliches Versuchsstadium ein- zuschalten. Nach zwei Versucfasjahren wurde kürzlich auf einer Arbeitstagung der gesamte Fragenkomplex einer eingehenden Prüfung unterzogen.

Die wichtigsten Ergebnisse sind die klare Herausstellung der Arbeitermittelschule als einen eigenständigen Mittelschultypus mit einer Normalreifeprüfung, die endgültige Ausweitung der Unterrichtsdauer auf neun Halbjahrslehrgänge, der Ausbau der beiden staatlichen Schulen auf Vollehranstalten, die Festlegung einer neuen Stundentafel und die Regelung der Lehrplanfrage.

Die Bilanz der zwanzigjährigen Erfahrungen mit der Arbeitermittelschule offenbart die schönsten Erfolge, die einer Mittelschule überhaupt zuteil werden können. Im Vordergründe dieses Erfolges steht der hohe erzieherische Gewinn. Die Arbeite rmittelschule bewies bereits mit ihrem ersten Jahrgang, daß sich ihre Anforderungen in gleicher Weise an Begabung wie an Arbeitszucht, Willenskraft und Bereitschaft zum Verzichte auf jegliches Vergnügen richten. Von den rund 120 Teilnehmern zum Beginne dieses Jahrganges waren nach zwei Wochen nur mehr ein Drittel übrig, am Ende des ersten Semesters war es nur ein Neuntel. Diese kleine Gruppe von Teilnehmern aber hielt ohne weiteren Abgang bis zur Reifeprüfung durch und bestand diese auch. Fünf Kandidaten erhielten sogar Auszeichnung, Die Auslese an der Tagesmittelschule bewegt sich zwischen 60 und 70 Prozent, in der Arbeitermittelschule hält sie um 80 Prozent. Diese Art der Mittelschule wird aber auch fast unfehlbar jedem Willensschwächen, Spekulanten und egoistischen Streber zum Verhängnis. Damit ist sie der Tagesmittelschule zweifelsohne im Erfolg voraus, in ihren bildungsmäßigen Ergebnissen den übrigen Mittelschulen unbedingt gleidiwertig.

Obwohl das statistische Material noch nicht vollständig vorliegt, ist es bereits jetzt gewiß, daß eine große Anzahl ehemaliger Arbeitermittelschüler — zum Teil gleichfalls neben dem praktischen Berufe — die Hochschule besucht hat, mehrere in der kürzesten Studienzeit und mit Auszeichnung. Diese Männer, die einst als Arbeiter in den verschiedensten manuellen Berufen tätig waren, stehen heute als Priester, Ärzte, Juristen, Ingenieure auf verantwortungsreichen akademischen Posten. Sie haben durch ihre persönliche Lebenshaltung dazu beigetragen, daß der Ruf der österreichischen Arbeitermittelschule weit über die Grenzen hinausgedrungen ist. Sie hat nie Aufhebens von sich gemacht, nie Worte des Eigenlobes gebraucht, sondern gerade durch die schlidite, schweigsame Art ihres Wirkens die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gelenkt, so daß in verschiedenen Ländern Pädagogen darangegangen sind, nach österreichischem Vorbilde Mittelschulen für Werktätige zu errichten. Das ist der schönste Lohn aller, die an ihr Anteil haben: Minister und Parlament, Schulbehörde, Lehrer und vor allem die Absolventen, deren charaktervolle Haltung Vertrauen und Mühe rechtfertigten.

1 Außer diesen beiden staatlichen Anstalten gibt es seit 1945 noch je eine private Arbeitermittelschule in Wien und Innsbruck.

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