„Am eigenen Spleen leiden“

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Das Tagebuch Erzherzog Johanns über seine große Reise nach England 1815/16 ist ein Stück europäischer und österreichischer Kultur- und Wirtschaftsgeschichte.

Der Stolz unserer Generation über den Einsatz des Computers ist berechtigt, wenngleich relativ. Die Unfähigkeit vieler – vor allem jüngeren – Zeitgenossen, einen Brief von zehn Zeilen stilistisch einwandfrei zu verfassen, ist leider eine Tatsache, behaupten Pädagogen. Und erst recht ist die Kunst des Tagebuches – als Quelle des Wissens über Generationen hinweg – so gut wie ausgestorben.

So ist es der „Historischen Landeskommission für Steiermark“ zu danken, das Tagebuch Erzherzog Johanns von Österreich (1782–1859) über die Reise nach England vom Herbst 1815 bis zum Frühjahr 1816 herausgegeben zu haben. 1945 von Sowjetsoldaten teilweise zerstört, sind die im Eigentum der Familie Meran stehenden Tagebuchblätter erst jetzt in akribischer Arbeit aufgearbeitet worden. Alfred Ableitinger und Meinhard Brunner haben das Vorhandene in Buchform gebracht und damit eine über das Erzherzog-Johann-Jahr (150. Todestag) hinausgehende Beschäftigung mit dem steirischen Prinzen ermöglicht.

Es ist dabei der Kontrast, der sichtbar wird: Standen Johann und sein mitreisender jüngerer Bruder doch als Vertreter des rückständigen, kriegsmüden, nicht sonderlich innovativen Kaisertums Österreich der damals modernsten Großmacht der Welt gegenüber.

Wobei sie nicht allein waren: Denn damals nahm alle Welt Maß an England, wo man umgekehrt nicht so recht wusste, wie man sich verhalten sollte. Der Dampfmaschinenerzeuger Matthew Boulton aus Birmingham brachte es auf den Punkt: „I had lords and ladies to wait for yesterday; I have French and Spaniards today; and tomorrow I shall have Germans and Russians“.

Betriebsspionage für industrielle Revolution

Sind nun Johanns Aufzeichnungen eher als Industriespionage oder als Baedeker für Kulturreisende zu werten?

Nun, der 33-jährige Erzherzog wusste das wohl auch nicht ganz genau. Aber er begriff die Bedeutung, die die fortschrittliche Welt der Maschine zuordnete; er nahm auf, was er später selbst am steirischen Erzberg verwirklichte – nämlich den technisch effektivsten Abbau des Eisenerzes. In Sheffield besuchte er Fabriken zur Roheisengewinnung sowie Gusswerke und in Manchester Minen zwecks Kohleabbau, – nicht zu vergessen die zahlreichen Textilfabriken in der Grafschaft Lancaster. Wobei die letzteren wohl am nachhaltigsten den Fortschritt Englands dokumentierten.

Nebst der Beschreibung der Fabriken, Bergwerke und Maschinen interessierte sich Johann um die Arbeitsorganisation, um Produktionskosten, die Nachfragesituation und den Investitionsbedarf. England hatte unter den Napoleonischen Kriegen nicht so gelitten wie Österreich; hier war auch keine autokratische und paternalistische Staatsführung am Werkeln; und die Bürokratie erstickte nicht jede Freiheitsbewegung. Vor allem funktionierte das Parlament, dessen Sitzungen Johann in London interessiert verfolgte. Im Detail beschrieb er z.B. eine Fragestunde: „Wer reden will, stehet auf, sobald der andere geredet – und wenn es mehrere zugleich tun, so ruft der Sprecher jenen auf, den er zuerst bemerket.“ Johann beobachtete auch die „Geschwindschreiber“, die alle Wortmeldungen aufzeichneten – „und das, was in der heutigen Nacht gesprochen, ist schon am morgigen Tag gedrucket“.

Dann schließlich folgt der entscheidende Satz über den Parlamentarismus: „Die Minister müssen der Nation Rechenschaft leisten – und keiner sitzet so fest auf seinem Platze, dass er nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnte.“

Nun fiel die Reise Johanns ziemlich genau in die Mitte jener historischen Epoche des Wandels, den die Historiker Spätaufklärung nennen und der zur Industriellen Revolution führte. Johann war Zeuge dieses Aufschwungs und seine Ambitionen im langsamen Österreich nahmen später ganz offensichtlich Maß an der Innovationsbereitschaft der Briten:

Zwischen 1771 und 1851 fiel der Anteil der Landwirtschaft am BIP Großbritanniens von 45 auf 20 Prozent.

Der Anteil von Industrie, Bergbau und Bauwesen stieg von 24 auf 34 Prozent.

Die Städte wuchsen enorm durch die Zuwanderung der Landarbeiter, deren Anteil von 25 auf 63 Prozent schnellte.

Wer Erfindungsgeist besaß, konnte in der Sozialhierarchie ganz nach oben vorstoßen.

Der Zimmermann James Hargreaves erfand die Spinnmaschine „Jenny“ und wurde Millionär; der Laienprediger Thomas Newcomen entwickelte die Dampfmaschine – musste aber James Watt den Vortritt bei der Nutzung überlassen. Der Schiffsmakler Henry Cort wagte sich an die Stahlherstellung (die später auch in der Obersteiermark einen Siegeszug bewirkte).

Wenig Heimweh

Nun stellt sich bei alledem dennoch die Frage, warum die beiden Habsburgerprinzen eigentlich die Mühe der enormen Reise auf sich genommen hatten. War es Neugierde, technisches Interesse oder Eitelkeit, eine Rolle zu spielen?

Sehr wahrscheinlich ging es Johann darum, „von Nutzen zu sein“. Denn die der Englandreise vorangehenden Jahre waren voll von Misserfolgen: Militärisch nicht überbegabt, war er in die Kriegsmaschinerie geraten und hatte Schlachten eher verloren als gewonnen. Nach einem geheim organisierten Aufstand – dem „Alpenbund“ – sah sich der allmächtige Staatskanzler Metternich gezwungen, Johann kaltzustellen – bis sich etwas später das Projekt der Englandreise abzuzeichnen begann.

Nun – den gebildeten und beliebten Habsburger nach England zu entsenden, war so ähnlich, wie einen abgehalfterten Vorstandsdirektor zwecks „informativer Recherche“ ins Silicon Valley zu schicken. Aber ihn als persönlichen Vertreter von Kaiser Franz quer durch die Insel zu schicken, das war für Metternich eine Königsidee.

Der Erzherzog ist jedenfalls nicht heimwehkrank geworden, vielmehr kommt die Freude über die Gastfreundschaft im Tagebuch spürbar zum Ausdruck. Das Rumpeln von Grafschaft zu Grafschaft lohnte sich nämlich, weil er von unglaublich vielfältigen Notablen, Gutsbesitzern und Fabriksherren empfangen wurde.

Er seinerseits amüsierte sich über Ungewohntes, lobte das „Schöne“ – wenngleich nicht die Damenmode – und wunderte sich, „dass es in London so wenig gute Musik zu hören gibt“. Dafür behauptet er, es würden mehr als anderswo Narren und Wahnsinnige herumlaufen; und die Briten „am eigenen Spleen mehr leiden als daran, ihn den Fremden einzureden.“

Visionärer Blick auf das Bankwesen

Johann polemisierte auch über den hohen Alkoholkonsum, die Moralität der Frauen – die zwar groß wäre, aber dennoch über 60.000 Freudenmädchen allein in London hervorgebracht habe … und am Königshof waren die Prinzessinnen wenig attraktiv; nur die Prinzessin Charlotte schätzte er besonders, nachdem diese einen Bräutigam ihrer Wahl durchgesetzt hatte. (Für aufmerksame Johann-Kenner: Anna Plochl lernte der Erzherzog erst drei Jahre nach dem England-Besuch in Aussee kennen).

Es ist jedenfalls erstaunlich, was alles der Erzherzog dem Tagebuch überantwortete. Manche Kommentare waren höchst visionär, bei manchen hat man den Eindruck einer diskreten Zurückhaltung, manche sind schlichtweg trivial. Die Probleme der übermächtigen „Bank of England“ erläutert er visionär: „Die Bank kann mit dem Sturz des Staates fallen, aber auch der Sturz der Bank jenen des Staates nach sich ziehen“.

Im Gefängnis von Middlesex bemerkt er, dass dort „ebenso viele Knaben wie Erwachsene wegen Diebstählen sitzen“. Wer denkt da nicht an Oliver Twist? Und schließlich beschäftige ihn das Klima und die Umwelt: „Der Kohlendampf beim Verbrennen von mehr als 800.000 Chaldron erwärmt und trocknet die Luft … man braucht ein paar Tage, bis man sich daran gewöhnet … an den meisten Tagen ist die Sonne wie eine rote Scheibe zu sehen, man kann hineinsehen, ohne Augenweh zu bekommen.“

Aber dann das schönste Kompliment für England aus Johanns Sicht: „Man muss eingestehen, dass in keinem Land mehr für die Unterstützung der Armen getan wird.“

So ist das England-Tagebuch ein Geschenk besonderer Art. Es zeigt einen Reformer, der lernen will und mit hellwachen Augen die „neue Welt“ entdeckt. Keine Frage – Johann hat sein Wissen und Fühlen für die arbeitenden Menschen in England entdeckt, ein Zusammenhang zwischen der Englandreise und den steirischen Reformen ist nicht zu übersehen. Denn nach 1816 beginnt sein Einsatz zugunsten einer Zivilgesellschaft in Österreich – mit konkreten Aktionen.

„Ein Land, wo ich viel gesehen“ schafft also nicht nur eine Ergänzung des konkreten Wissens über Erzherzog Johann, – sondern auch zeitgemäße Happiness. Johann: „Es ist äußerst erfreulich zu sehen, wie alles in diesem Land Österreich gewogen ist …“

Erzherzog Johann von Österreich – „Ein Land, wo ich viel gesehen“ – aus dem Tagebuch der England-Reise 1815/16

Alfred Ableitinger, Meinhard Brunner (Hg.),

Selbstverlag der Historischen Landeskommission für Steiermark 2009, 514 S., geb., Euro 39,–

Erzherzog Johann. Bauer, Bürger, Visionär

Von Hans Magenschab, Verlag Styria 2008

288 S., Geb., Euro 24,95

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