Der unglaublichste Ort der Geschichte

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Über Weihnachten als Gegengeschichte, welche ein anderes Licht auf die Welt wirft. Die Menschwerdung fordert dazu auf, die Menschlichkeit Gottes zu realisieren.

Vom "Fluch des Christentums“ hat der Christentumskritiker Herbert Schnädelbach vor einigen Jahren gesprochen. Gedacht hat er dabei an all das, was sich verhängnisvoll in der Geschichte dieser Religion ausgewirkt hat: von Leibfeindlichkeit war da die Rede, von einer Kultur der Angst und der Unterdrückung und von den vielen Ausbrüchen der Gewalt. In Gottes Namen - was für ein Gott in was für einer Geschichte! Mit diesem Gott kann man nur Schluss machen. Scheint es.

Ganz anders der Anfang dieser Geschichte. Und nicht anders als heute ist es eine Geschichte im Terrorismus benachbarter Gewalt und Gewalten. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas hält dies genau fest, denn sie beginnt mit dem Zugriff der Großmacht Rom auf alles und jeden. Man wird erfasst. Man wird in Steuerlisten zur Finanzierung dieses Imperiums herangezogen und damit noch einmal zum Opfer. Diesmal ist man das finanzielle Opfer jener Eroberer, die Israel sein hauptsächliches Kapital genommen haben: das verheißene Land. Damit scheint nicht weniger verloren als jener Segen, an dem doch alles hängt: Zukunft, Hoffnung, die eigene Identität.

Aber das kleine Einleitungsstück dieser so bemerkenswerten Geschichte beinhaltet noch mehr. Es schreibt fest, dass die unglaubliche Geschichte, die Lukas erzählt, einen konkreten Ort in der Geschichte hat. Der Verfasser arbeitet mit Datenmaterial, das sich überprüfen lässt. Er beansprucht die Genauigkeit des Historikers. Was folgt, spielt in diesem Rahmen und sprengt ihn zugleich auf. Ein Einzelschicksal wird vorgestellt. Es wird anschaulich, was es bedeutet, zum Opfer einer gnadenlosen Macht in einer oft gnadenlosen Umwelt zu werden.

Vor den Toren der Stadt

Josef muss mit seiner hochschwangeren Frau die Reise von Nazaret in Galiläa nach Betlehem in Judäa unternehmen. Eine Strecke von etwa hundert Kilometern. Jeder Zeitgenosse des Lukas wusste, was das unter diesen Umständen vor allem für die Frau bedeutete. Das Kind wird geboren, aber sein Ort ist irgendwo draußen, in ungeschütztem Raum. Es wird vom Augenblick seiner Geburt an Teil dieser Geschichte aus Opfern. Und natürlich hat Lukas mit seinen Lesern im Blick, wie diese Geschichte enden soll. Erneut draußen, vor den Toren der Stadt, wird dieses Kind sterben. Opfer von Anfang bis Ende. Die Wiederkehr des Immergleichen.

Doch Lukas erzählt diese Geschichte nicht als den unabänderlichen Ablauf menschlicher Ohnmacht. Der Historiker fügt seiner Geschichte eine Gegengeschichte ein. Sie erzählt von der unerwarteten Gegenwart Gottes in dieser Geschichte, von der großen Überraschung Gottes, die ein anderes Licht auf diese Welt wirft. Erneut ist Lukas sehr genau an dieser Stelle. Er bestimmt das Milieu und die Situation: Das Idyll der Hirten auf den Feldern ist kalt.

Die bleibende Regie der Geschichte

Da lagern Menschen wie diese Kleinfamilie, die eine fremde Macht auf den Weg zwang. Diese Momentaufnahme aber verändert sich plötzlich. Genauer, sie wird im Licht der neuen Szene erst wirklich sichtbar - in ihrer ganzen Elendsgestalt. "Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie.“ Lukas benutzt hier Motive, die wir nicht mehr ohne Weiteres verstehen. Handelt es sich nicht um bloße Mythen? Wir stehen vor den unglaublichen Bestandteilen eines Bildrepertoires, das nicht mehr unseres ist. Aber damit unterschätzt man den Autor und verharmlost seine Erzählung. Es ist dieses Unglaubliche selbst, um das es geht und das fortan die Regie der Geschichte übernimmt. Von ihm geht das Licht aus, ohne das die Geschichte selbst und ihre Akteure im Dunkel blieben. Es wäre genau das Dunkel der Geschichte, in dem ihre Opfer immer wieder untergehen. Bis heute, gerade jetzt.

Hier aber kommen sie vor. Und wie! Was in der menschlichen Geschichte von Ausbeutung und Vergewaltigung der Ohnmächtigen nicht gelingen will, wird hier als die große Möglichkeit Gottes realisiert. Gott setzt in einer gnadenlosen Wirklichkeit die Möglichkeit, Mensch zu werden. Das ist Rettung, das ist Heil, das ist sein Segen. Und das ist unglaublich. Ist es auch unglaubwürdig? Gott ist im Menschen selbst zu suchen. In diesem einen Menschen, dem Jesuskind der Weihnachtsgeschichte, begegnet die Liebe Gottes zum Menschen, nach der sich die Menschen sehnen und die sie doch immer wieder kompromittieren. Diese leibhaftige Menschenliebe Gottes ist aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen - auch nicht im Versuch, den Menschen Jesus zu beseitigen. Die Menschlichkeit Gottes ist zu realistisch, und eben diese unglaubliche Tatsache erzählt Lukas. Erst solcher Segen macht es möglich, allen Fluch dieser Welt in einem neuen Licht zu sehen und zu bekämpfen. Weihnachten im 21. Jahrhundert steht im Raum solcher Unglaublichkeit und ihrer handlungsleitenden Aufforderung: Mensch zu werden.

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg

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