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Lichtblicke mitten im Elend

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Wie vielfältig sind die Gesund-heitsprobleme in einem Slum von Karachi, wie leicht ließe sich aber manches verbessern! Ein Augenzeugenbericht.

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Wie vielfältig sind die Gesund-heitsprobleme in einem Slum von Karachi, wie leicht ließe sich aber manches verbessern! Ein Augenzeugenbericht.

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Im städtischen Leprahospital von Manghopir, weitab vom Stadtzentrum von Karachi - wo ich gerade eine zweimonatige Volontärtätigkeit verrichtet hatte , wurde gefeiert. Das Leprosorium wurde 100 Jahre alt. Es war 1896 mitten in der Wüste vor den Toren der Stadt Karachi gegründet worden, als Zufluchtsstätte für die aus der Stadt vertriebenen Ieprakranken. Noch heute ist dieser Ort unter der Bezeichnung „Leprakolonie” auf den Stadtplänen Karach'is zu finden.

I leute wird niemand mehr wegen Lepra für tot erklärt, im Stall gefangen gehalten, in Felsnischen eingemauert oder vor die Stadt geschickt. Jetzt schickt man sie in das Marie-Adelaide-Leprazentrum, das als eines von vielen in Pakistan und Afghanistan aufgebauten Zentren von der bekannten deutschen Ärztin Buth Pfau gegründet wurde. Innerhalb von fast 40 Jahren hat Frau Pfau - sie ist inzwischen Ehrenbürgerin Pakistans - die lpra in Pakistan und Afghanistan unter Kontrolle gebracht. Neuerkrankungen sind auf 1 i 10.000 zurückgegangen. Doch da ist noch ein Verwandter des Leprabakteriums, den man gar nicht so sehr fürchtet, der aber viel aggressiver ist, das Tuberkulose-bakterium. Da die Tuberkulose weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick zu erkennen ist, kann sie sich schnell und ungehindert ausbreiten, besonders unter der armen Bevölkerung, die unterernährt ist und in engen unhygienischen Verhältnissen lebt.

Da gibt es direkt hinter den Mauern eines Priesterseminars ein Slumgebiet, das wahrscheinlich zu den größten Südostasiens zu zählen ist. Flüchtlinge aus Indien leben hier illegal, und als Nicht-Moslems auch ohne die Möglichkeit, eine Identity Card zu bekommen, unter erbärmlichsten Bedingungen entlang des Lyari Flusses. Er ist eine stinkende Kloake, Brutstätte für Fliegen, Moskitos und viele Krankheiten und wird zur Zeit der Schneeschmelze im I Iimalayagebiet zu einem alles mit sich reißenden Strom. Hier leben an die 10.000 Menschen in Unter-i künften, die aus Bastmatten, Plastikresten, Lumpen oder Pappe bestehen und jede Familie grenzt ihren Wohnbereich mit Dornen oder Gebüsch ab. Gekocht wird - so es etwas zu kochen gibt - zwischen einigen Steinen unter freiem Himmel.

Schon auf den ersten Blick konnten wir Vitamin-A-Mangelerscheinun-gen feststellen, zahlreiche Haut- und Atmungserkrankungen, wahrscheinlich TBC. Wie schnell breiten sich Krankheiten unter diesen Bedingungen aus. Schwerkranke Menschen liegen auf Decken am Boden. Schwester Jeannine - eine Belgierin und Mitarbeiterin von Ruth Pfau - will sie nach Manghopir holen, damit sie in Frieden sterben können.

Und doch gibt es Iichtblicke in all diesem Elend. Schwester Jeannine -wie sie in ganz Pakistan genannt wird - und die Gattin des italienischen Botschafters haben sich dieser Armen angenommen. Sie schufen ein Mutter-und Kindzentrum, das „Nest”. Hier werden Gesundheitserziehung, Ernährungs- und Krankenhilfe angeboten. Schwester Jeannine hat ein Grundstück gekauft, am Stadtrand von Karachi gelegen und nun sollen hier Häuser gebaut werden, die den Familien dann zu günstigen Bedingungen übergeben werden. Nur unter menschenwürdigen Lebensbedingungen können sich die

Menschen hier erholen. Ihr Immunsystem ist total geschwächt. Sie sind gekennzeichnet durch Unterernährung, Vitaminmangel und körperliche Schwäche bis hin zur totalen Besignation. Durchfallerkrankungen sind das schlimmste Übel und führen häufig zu Erschöpfungszuständen und zum Zusammenbruch des Immunsystems, da dieses ja zu 80 Prozent im Darmbereich gebildet wird.

Viele Kinder leiden an Polio oder Folgen dieser Krankheit. Doktor Alice hat in Deutschland ein Ärzteteam zusammengestellt, das bereit wäre, die nötigen Operationen kostenlos in Karachi durchzuführen. Jetzt wird Schwester Jeannine diesbezüglich mit Spitälern über die Miete eines Operationssaales verhandeln

Auch Unfälle können zu Spätfolgen führen, die allzu oft unbehandelt bleiben müssen, da es an dem Geld für das Nötigste mangelt. Als ich im August nach Karachi flog, hatte Frau Alice für Aschun - ein 14jähriger Junge, der im Vorjahr von einem Mangobaum gefallen war und seither gelähmt ist - einen Rollstuhl mitgebracht. Die Fami-lie hat inzwischen den Slum verlassen und wohnt jetzt vor den Toren des Mangho-pir-Projekts bei Schwester Jeannine. Die Veränderung, die der Rollstuhl im Leben des Jungen bewirkte, war gigantisch. Aschun, der zuvor monatelang apathisch und bewegungslos auf seinem Bett lag, besucht jetzt die Schule in Manghopir.

Viele Krankheiten könnten durch gezielte Gesundheitserziehung vermieden werden. Einfache, für uns selbstverständliche Handgriffe der täglichen Hygiene, sind im Hindupa-ra einfach nicht bekannt. Sie werden oft auf den Fußböden ihrer Hütten geboren, wachsen dort auf und gebären dort die nächste Generation. Sie verfügen über kein Bett, kein Bad, keine Toilette, keine Wasserleitung, keine Küche et cetera. Sie haben kein Moskitonetz, das sie schützt, keinen Spray, der desinfiziert. Und doch könnte in kleinen Schritten auch hier ein „Gesundheitsbewußtsein” geweckt werden, vor allem in der jüngeren Generation. Doch wer möchte hier als Lehrer arbeiten? Wer bezahlt die Iehrer? Gibt es überhaupt eine Schule, war meine Frage. Ja, es gibt eine. Zwei einheimische Lehrer sammeln die Kinder um sich. Sie sitzen am Fußboden und besitzen absolut keine Unterrichtsmaterialien. Trotzdem ist dies ein kleiner Schritt, den Weg in eine würdigere Zukunft zu bereiten.

Einige Krankheiten könnten durch Impfungen vermieden werden. Doch diese kosten auch Geld und die armen Familien hier haben kein Geld. Also haben Schwester Jeannine und die Ärztinnen ausgehandelt, daß sie eine gewisse Menge an Impfstoff von Spitälern kostenlos bekommen. Ich habe im August und September mitgeholfen, die Kinder zu impfen. Es konnten zirka 300 Kinder geimpft werden. Nächstes Jahr zur gleichen Zeit soll die „booster” Impfung erfolgen. Viel mehr Mütter und Kinder hätten sich um uns gedrängt, um geimpft zu werden - sie haben inzwischen Vertrauen und wissen, daß ihnen geholfen wird doch es gab keine Impfungen mehr. -.

Wiederum andere Krankheiten könnten vermieden werden, durch gezielte Schwangerenuntersuchungen und Schwangerenvorsorge und eine Versorgung der Säuglinge mit Milch und Vitaminen. Die Mütter selbst sind oft so geschwächt und unterernährt, daß sie ihre Kinder nicht stillen können. Nie werde ich das Gesicht des Vaters vergessen, der mir sein zirka zweijähriges, im Sterben liegendes Kind entgegenhielt. Das Kind wurde von den Arztinnen im Slum „entdeckt” (nur ein Schicksal von vielen) und ins Spital eingewiesen, dort wiederum entlassen, da es für jede Behandlung „zu spät” war. Der Bub war bis auf die Knochen skelettartig abgemagert und hatte den typischen „Biafrabauch”. Der Sozialarbeiter Josef sagte zu mir: „Take a picture! If you want to help, you must show the people in your country what we need the money for. Take a picture to have some docu-ments!” Ich konnte nicht! - Mario hat eines gemacht! Jetzt beschwor mich der Vater, doch sein Neugeborenes mitzunehmen, da es auch nur sterben würde. Wir gaben ihm Pulvermilch und erklärten ihm, daß er das Flußwasser abkochen müsse. Wird das Kind überleben? Ich weiß es nicht.

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