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Im Garten Menschlichkeit

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DIE ERSTEN SPÄRLICHEN STRAHLEN eines kalten Wintermorgens tauchten die weißgetünchten Häuser des SOS-Kinderdorfes Imst in ein gespenstisches Licht. Manche Fenster waren schon erhellt, eine Gruppe warm eingepackter Buben und Mädchen — das Kleinste hielt sich ängstlich am Mantel der Mutter festgeklammert — ging langsam den Weg hinunter ins Dorf zur Frühmesse. Kleine schlaftrunkene Gesichter schoben sich langsam unter der warmen Federdecke hervor. Leise schlichen die Großen zu den Waschbecken, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen. In der Stube saß ein pausbäckiger Blondschopf und trank bedächtig und ernst seine Tasse Kakao leer. So begann ein Sonntag im Kinderdorf und so beginnen alle Tage im Kinderdorf.

KINDER — diese wunderbaren, glockenreinen Wesen, ungestüme, sanfte, ernste, fröhliche kleine Menschen — wurden durch bittere Schicksale aus der Landschaft der natürlichen Familie gerissen und nach heftigen Windstößen, die diese zarten Geschöpfe oftmals zu zerbrechen drohten, in einen Garten gesetzt, der fast so schön ist, wie eine richtige Familie es sein sollte.

So naheliegend' die Idee ist, daß ein entwurzeltes Kind möglichst wieder in eine Familie eingegliedert werden müßte, um wachsen und gedeihen zu können, mußte doch die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kommen, bis einer diese Idee hatte, an sie glaubte und sie auch durchführte und Wirklichkeit werden ließ.

Daß die Gemeinde Imst sehr skeptisch war, als sie vor zehn Jahren von einer Gruppe Studenten ein Schreiben erhielt, in dem die Bitte um ein Stückchen Grund zur Errichtung eines Kinderdorfes stand, ist selbstverständlich. Daß auch dann, als die Studenten „mit ihre ungleichen Händ“ schon fleißig Ziegel auf Ziegel setzten, das Mißtrauen aus den Herzen der würdigen- Gemeindöväter noch immet“ nicht gewichen war, beweisen die Worte- deV'tWter Bürgermeisters Koch: „Da sin ma halt raufgangen in der Nacht, da han man glost bei die Fenster.“ — Aber heute ist die Gemeinde stolz darauf, daß sie die erste war, die diese Idee — die so verrückt schien, weil sie so einfach ist — unterstützt hat.

Inzwischen sind in Oesterreich mit Imst fünf Kinderdörfer entstanden — Lienz (Osttirol) mit drei Häusern, Altmünster (Oberösterreich) mit 18 Häusern, Hinterbrühl bei Wien mit 28 Häusern und Moosburg (Kärnten) mit sechs Häusern. Ein Vprarlberger Architekt hat bereits die gesamte Planung für ein weiteres Dorf in der Steiermark übernommen, wo in den nächsten Jahren 15 Häuser erstehen sollen — eines wird etwa nach vorläufigen Kalkulationen 250.000 S kosten.

Insgesamt haben in den letzten zehn Jahren in diesen Dörfern rund 1000 Kinder nicht nur ein Obdach, sondern wieder ein Zuhause gefunden. 75 Frauen, von denen die jüngste erst 24 Jahre zählt, sind hier zu Müttern von acht bis zehn Kindern geworden, für die sie kochen und waschen, sich sorgen Wind mit denen sie sich freuen, wie andere Mütter auch.

WER SIND NUN DIESE KINDER, die aus den Spenden von rund 700.000 Oesterreichern und etwa 200.000 ausländischen Mitgliedern der SOS-Gemeinschaft erhalten werden?

Sie sind seelisch kranke, milieugeschädigte Kinder, wenn sie ins Dorf kommen.

Ernstl ist zwölf Jahre alt. Als er vor zwei Jahren ins Kinderdorf kam, hatte er bereits elf Pflegeplätze hinter sich. Sein Vater ist unbekannt, seine Mutter gab das Kind in ein Säuglingsheim und blieb seitdem verschwunden. Bis zu seinem dritten Lebensjahr war er auf fünf verschiedenen Plätzen. Lieber Initiative des Jugendamtes — ausschlaggebend war hier scheinbar, daß dem Amt aus diesem Schritt keine Kosten erwachsen sind — -kam er zu einem Paar. Der Mann war als Landstreicher bekannt und seine Lebensgefährtin wegen Vagabondage angeklagt. Der Bub bekam kaum zu essen, dafür Prügel in überreichem Maß. Nächste Station — ein Geschwisterpaar, das schon ein Pflegekind hatte, dem es alle Liebe angedeihen ließ. Der schwer zugängliche und verschlossene Junge wurde nur als Eindringling empfunden und dementsprechend behandelt. Als auch seine Leistungen in der Schule mehr und mehr zu wünsehen übrigließen, überwies man ihn an eine psychotherapeutische Station. Hier wurde er getestet und dann über die Zwjschenstation eines Heimes ins Kinderdorf gebracht.

Margit kam vor zwei Jahren, knapp vor Weihnachten, ins Kinderdorf. Als man sie auskleidete, war ihr zarter Kinderkörper über und über blutunterlaufen. Das Kind konnte trotz seiner viereinhalb Jahre kein Wort sprechen, war völlig unterentwickelt und bösartig. Sie fiel die Hausmutter an, kratzte, biß und schlug um sich wie ein kleines aufgeschrecktes Tier. Die Einweisung in ein Irrenhaus lag bereits vor. Ihre Mutter hatte noch einmal geheiratet, so stand das Kind unerwünscht zwischen dem Paar und bekam dies auch bitter zu spüren.

Erst nach Wochen, als man Margit immer wieder vorsagte: „Schau, hier wirst du nicht geschlagen, wir wollen dich nur liebhaben“, löste sich der Krampf in dieser schwer verschütteten Kinderseele. Sie begann bald zu reden, wurde zugänglicher und hing mit überströmender Liebe an ihrer neuen Mutter. Aus einem unberechenbaren Geschöpf ist ein liebenswertes, fröhliches und aufgewecktes Mädchen geworden.

Susis Vater ist während der ungarischen Revolution gefallen. Sie kam mit ihrer Mutter über die Grenze und wurde in einem der Flüchtlingslager untergebracht. Die Mutter aber wollte auswandern, bekam eine Arbeit am Brenner angeboten, wo sie sich das dazu nötige Geld verdienen konnte. Das Kind ließ sie zurück, man fand es dort und brachte es ins Kinderdorf Altmünster. Vor wenigen Tagen brachte die Frau wieder ein Kind zur Welt. Da sie aber auch jetzt noch nicht von ihrem Entschluß auszuwandern, abzubringen ist, wird Susi bald ein kleines Schwesterchen haben.

Vor einigen Tagen kamen sieben Geschwister aus der Steiermark im Haus St. Christoph in der Hinferbrühl an. Vater: Gefängnis - Mutter: Trinkerheilstätte. Die Aelteste, ein zwölfjähriges Mädchen, mußte den Haushalt führen, für ihre Geschwister sorgen und arbeiten. Wen wundert es, wenn das Kind aus großen, scheuen, verhärmten Augen in die Weif blickt und nicht mehr glauben will, daß es jetzt mit einem Mal Menschen geben soll, die ihm die schwere Bürde der Arbeit und Verantwortung abnehmen wollen, damit es lachen kann?

Peter kam im Herbst bereits in die dritte Klasse Gymnasium, er ist Vorzugsschüler, ein hochintelligenter Junge. Sein Großvater war General, und auch Großmutter stammte aus einer angesehenen österreichischen Offiziersfamilie. Ihre Tochter wurde nach dem übernommenen und angeborenen Ehrenkodex erzogen, studierte und nahm dann eine Stelle in Klagenfurt an. Es fand sich sehr bald ein Mann, der die Unerfahrenheit dieses Mädchens ausnützte. Die Eltern verweigerten der Verzweifelten das Haus — das Ende war Selbstmord. Das Kind aber existierte für die Großeltern nicht und landete nach einigen Pflegeplätzen ebenfalls im Kinderdorf.

Gerade dieses letzte Beispiel zeigt deutlich, was die Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre schon andeuteten: in 80 Prozent aller Fälle sind die Großeltern der Kinder angesehene Leute. Das Unglück liegt vor allem'in dem; völligen Versagen einer, das heißt einer sogenannten „Zwischenkriegsgeneration“ begründet.

DIE IDEE HERMANN GMEINERS fand den zündenden Funken in der Gedankenwelt Pestalozzis und gliedert sich in fünf Erziehüngskreise: Mutter — Geschwister — Herd ~ Dorf — Kontakt zur Umwelt. Und daß jedes der Kinderdorfkinder in diese fünf Erziehungskreise eingegliedert ist, macht den Erfolg dieser Idee aus. Auch wenn die Kinder mit vierzehn Jahren das Kinderdorf verlassen, sind sie doch hier für immer zu Hause, sie kommen zum Wochenende, sie kommen in den Ferien, sie fahren heim zu Mama, zu dieser mütterlichen Frau, die sie aufgezogen hat, zu der sie mit allen Sorgen und Nöten kommen konnten, die für sie da war, auch wenn sie einmal versagten. ' '.'

Jede Mutter hat ein Wirtschaftsgeld von rund 3000 S monatlich, das sich aus einem Fixum von 1500 und einem Beitrag von 240 S pro Kind zusammensetzt. Sie selbst bezieht in den ersten Jahren ein Gehalt von 1200 S, von d,em sie aber nur rund 500 S ausbezahlt bekommt. Dieser Betrag, der sich dann später bis zu 900 S steigert, ist vor allem aus einem Grund so niedrig gehalten: jede Frau soll wirklich nur aus selbstlosen Motiven Kinderdorfmutter werden und nicht des Verdienstes wegen. In die Tage des Alters und der Krankheit jedoch können diese Mütter ohne Sorge blicken, für sie werden Häuser gebaut, in denen jede von ihnen eine Kleinstwohnung bekommen wird, eine Rente und einige Zuschüsse werden sie jeder materiellen Sorge entheben.

Was Hermann Gmeiner über die Tatsache hinaus, hilflosen Kinder zu helfen, noch wollte, ist eine Revolution der Menschlichkeit, eine Revolution des Guten — und daß diese Idee, wenigstens in einem gewissen Maß von Erfolg gekrönt war, beweist nicht zuletzt die Tatsache, daß nicht nur tausende Menschen ihr kleines Scherflein dazu beitragen diese Kinder zu erhalten, sondern daß auch Industrielle hingehen und den Betrag für ein ganzes Haus auf den Tisch legen und vor allem, daß sie dann kommen, sich Zeit nehmen, mit diesen — „ihren“ — Kindern zu spielen.

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