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SOS: Elternnot

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In größerem Umfang wurde der Kinderdorfgedanke erst nach dem zweiten Weltkrieg wirksam. Die Schweizer haben als erste am Ende des zweiten Weltkrieges im Pestalozzi-Kinderdorf in Trogen die Idee des Kinderdorfes großzügig verwirklicht, und dieses Beispiel blieb auf Oesterreich nicht ohne Einfluß. So fanden sich in der allerersten Nachkriegszeit ein paar beherzte Freunde der Jugend in Salzburg zusammen, um eine Siedlung für österreichische Kriegswaisen zu bauen. Dies führte im Herbst 1947 zur Gründung der österreichischen Pro-Juventute-Kinderdorfvereinigung mit ihrem Sitz in Salzburg. Sie ist die erste Institution mit dem Ziel der Errichtung eines Kinderdorfes in Oesterreich.

Seit dem Jahre 1950 besteht das Kinderdorf der Societas socialis (SOS-Kinderdorf) in Imst, das heute 150 Kinder beherbergt. Ihm folgten Altmünster in Oberösterreich, Moosburg in Kärnten, Lienz in Osttirol und Hinterbrühl in Niederösterreich. Die ebenfalls seit 1950 bestehende Vereinigung „KD-Vorarlberg“, die ursprünglich nur Ferienbetreuung von Kindern durchführte, ging nun auch zur ganzjährigen Betreuung über.

Nach der Art der Erziehung können wir grundsätzlich zwei Gruppen von Kinderdörfern unterscheiden. Je nachdem, ob die Erziehung durch „Nur-Pflegemütter“ oder „Nur-Pflege- väter“ oder durch Pflegeeltern geleistet wird. In den Kinderdörfern in Trogen und Rottenmann sind Pflegeeltern tätig, während sich zum Beispiel die SOS-Kinderdörfe'r nur mit Pflegemüttern begnügen. Diese Entscheidung ist grundsätzlicher und schwerwiegender Natur.

Für körperlich, geistig oder moralisch defekte Kinder können Pflegeeltern wegen der zu großen Belastung und der notwendigen Spezialausbildung wohl kaum gefunden werden. Die Erziehung solcher Kinder kann nur von „Nur- Pflegemüttern“, eventuell „Nur-Pflegevätern“ geleistet werden. Dies ist zum Beispiel der Fall in St. Isidor bei Linz und in St. Anton bei Bruck an der Glocknerstraße. Bei normalen Kindern ist aber die Frage, ob „Nur-Pflegemütter“ beziehungsweise „Nur-Pflegeväter" oder Pflegeeltern. berechtigt und entscheidend. Der' Weg der Pflegemütter ist zweifellos billiger, leichter und traditionsgebundener. Kinderdörfer dieser Art, etwa wie die SOS-Kinderdörfer, wagen den revolutionären Schritt zur möglichst familiennahen Erziehung nicht. Man bleibt hier auf halbem Wege zwischen dem Waisenhaus der Vergangenheit und dem Familienkinderdorf be-

ziehungsweise Kinderhaus der Zukunft stehen.

Wenn Trogen und Rottenmann trotz der viel größeren Schwierigkeiten den Weg der Pflegeeltern wagten, so einzig aus der Ueberzeugung, daß dieser Weg allein zum Endziel der Entwicklung der Waisenhauserziehung führt, das allerdings nicht im Kinderdorf, sondern im Einfamilienkinderhaus liegt.

Da ich nahezu seit ihrer Gründung in der österreichischen Kinderdorfvereinigung Pro Juventute in Salzburg verantwortlich mitarbeite, will ich versuchen, Idee, Werk und Erfahrung dieser Institution aufzuzeigen.

Jede Kinderdorffamilie ist eine echte Haus-, Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft. Es gibt keine Gemeinschaftsküche, keinen Gemeinschaftsraum, keine Dorfverwaltung, keinen Kinderdorfdirektor und keine Gemeinschaftsübungen. Der ideale Raum für die Familie ist das Einfamilienhaus. Die Kinderdorffamilie lebt wie eine normale Durchschnittsfamilie. Der „Vater“ muß ein gesichertes Erwerbseinkommen besitzen, er kann Arbeiter. Handwerker, Angestellter oder Beamter sein. Sein Erwerbseinkommen behält er für sich und seine Frau. Die „Mutter“ erhält pro Kind und Monat einen Pauschalbetrag, der durch sorgfältige Erhebung nach dem jeweiligen Lebensindex ermittelt wird. Sie hat damit alle Aufwendungen ihres zehnköpfigen Haushaltes zu bestreiten.

Jede Kinderdorffamilie ist eine Vollfamilie mit „Vater“, „Mutter“ und „Kindern". Die Nur-Muttererziehung oder die Nur-Vatererzie- hung wird abgelehnt. Diese Erkenntnis ist die Grenze, welche die Kinderdörfer und die Kih- derhäuser der OeKV von anderen Kinderdörfern in Oesterreich unterscheidet.

Jede Familie erhält maximal acht Kinder verschiedenen Alters und Geschlechts zugewiesen. Wiederholt konnten Geschwister, auch Zwil-

linge, in die gleiche „Familie“ auf genommen werden. Es ergibt sich also das soziologische Bild der kinderreichen Familie. Die Kinder sollen im Regelfall bei der Aufnahme nicht jünger als drei und nicht älter als neun Jahre sein. Die Auswahl der Kinder erfolgt in erster Linie nach der Bedürftigkeit und der Notlage des Kindes, ohne Ansehen der Herkunft, der Rasse und der Religion. Im allgemeinen werden nur österreichische Kinder aufgenommen. Chronisch 'kranke Kinder sowie körperlich, sprachlich und geistig behinderte Kinder werden nicht aufgenommen.

Ein weiterer Grundsatz der Erziehung der OeKV ist die Kontinuität des Erziehungsablaufes. Die Kinder bleiben während ihrer ganzen Kindheit und Jugend bis zum Abschluß der Berufsausbildung im „Elternhaus“. Grundsätzlich soll jedem Kind die berufliche oder schulische Ausbildung ermöglicht werden, die seiner natürlichen Veranlagung und Neigung gerecht wird. Die Kinder besuchen die öffentlichen Pflichtschulen des Ortes. Die Lehrlinge wohnen im „Elternhaus“, und die Studierenden verbringen dort ihre Ferien und werden auch während des Schuljahres von den „Eltern“ und „Geschwistern“ wie Studenten einer Normalfamilie betreut. Die Pflegeeltern werden so ausgewählt, daß sie im Durchschnitt mindestens 10 bis 15 Jahre ihrer Aufgabe obliegen können.

Die Kinderdorfhäuser gliedern sich harmonisch in die Siedlung ein. Kinder und Erwachsene des Kinderdorfes stehen in ständiger Verbindung mit dem Wohnort. Die Kinder besuchen die Schule des Ortes, sie sind später Lehrlinge in den Betrieben des Wohnortes oder der Umgebung. Der „Vater“ geht seiner Arbeit nach, die „Mutter“ kauft im Qrt ein. So verspürt das Kinderdorf, die Kinderdorffamilie ständig den lebendigen Pulsschlag des wirklichen Lebens. Es gibt für diese Kinder dann keinen schmerzlichen Uebergang vom Heim zur Welt.

Die entscheidendste und revolutionärste Erkenntnis, die wir in unserem zehnjährigen Bemühen um Idee und Gestalt des Kinderdorfes gewonnen haben, ist, so paradox.es klingen mag, daß unsere Ziele der möglichst familiennahen Erziehung der Waisen und verlassenen Kinder nicht im Kinderdorf, sondern nur im einzelnen Großfamilienkinde r h a u s erst voll verwirklicht werden.

In der Hauptsache drängen fünf Gründe zu dieser Weiterentwicklung:

1. Die Berufstätigkeit des „Vaters“. Wie oben ausgeführt, müssen unsere „Väter“ eine geregelte berufliche Betätigung ausüben. Es erweist sich in vielen Fällen als äußerst schwierig, wenn nicht überhaupt aussichtslos, ein Pflegeelternpaar, dessen männlicher Teil einen bestimmten Beruf ausübt, nach dem Sitz des Kinderdorfes umzusiedeln und ihm am neuen Wohnort eine ausreichende Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeit zu bieten.

2. E ie Berufsausbildung der Kinder. „Unsere Kinder“ bleiben bis zum Abschluß der Berufsausbildung in der „Familie". Das Finden von Lehrplätzen für so viele schulentwachsene Kinder bereitet große Schwierigkeiten. Nicht jeder Lehrplatz ist geeignet, nicht jeder Berufswunsch kann im Ort oder seiner nächsten Umgebung erfüllt werden.

3. Die Gefahren der Uniformierung der Familien. Jede Art der Zusammenfassung von Menschen, insbesondere von Kindern, trägt die Tendenz der Vermassung mit sich. Schon das Nebeneinander einer größeren Anzahl äußerlich gleicher Häuser verleitet zu einer gewissen Schablone der Lebensgewohnheiten. Wenn nun solche „Familien" noch dazu einer kollektiven Idee verpflichtet sind, so ergibt sich daraus zwangsläufig eine „Ausrichtung“ nach einem bestimmten Schema, die der Originalität der einzelnen Familien abträglich ist.

4. Durch die mit der Bezeichnung „Kinderdorf“ in Oesterreich erfolgte Begriffsinflation sind wir leider heute schon bald so weit, daß der Ausdruck „Kinderdörfler“ an Stelle des früheren Ausdrucks „Waisenhäusler“ mit den gleichen negativen Gedankenassoziationen gesetzt wird. Hiervon wollen wir aber die uns anvertrauten Kinder bewahren. Und dem steht just der ganz einfache Vorgang gegenüber, daß täglich dreißig und mehr Kinder aus unserer Siedlung gleichzeitig zur Schule gehen und daher von den anderen Kindern als „die Kinderdörfler" bezeichnet werden.

So steht am Ende unseres Bemühens und Ver- suchens das Großfamilienkinderhaus. Möge die Ehrlichkeit unseres Wollens erkannt und anerkannt werden.

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