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Konkurrenzkampf der Wohltäter?

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Das Jahr 1979 wurde von der UNO zum Jahr des Kindes erklärt. 1979 wird das erste SOS-Kinderdorf, in Imst, 30 Jahre alt. Und Hermann Gmeiner, dem bislang rund 135 SOS-Kinderdörfer in 62 Ländern mit 15.000 Kindern aller Hautfarben und Religionen ihr Dasein verdanken, wird 1979 60 Jahre.

In Österreich sind in den 150 Häusern der neun Dörfer bis heute rund 1500 Menschen aufgewachsen, und gegenwärtig haben hier 1200 Kinder nach schweren Schicksalen ein Zuhause gefunden. Nur eine Minderheit von ihnen sind echte Waisen, die meisten Sozialwaisen. Und die sind oft noch ärger dran.

Gute Gründe, die Generalversammlung von SOS-Kinderdorf International heuer im Kinderdorf Hinterbrühl besonders festlich zu gestalten. Viele Ehrengäste aus aller Welt kamen, angeführt vom Erzbischof Von Wien und vom Bundespräsiden-

ten. Rund 70 neue SOS-Kinderdorf-Projekte sollen im Jahr des Kindes fertig werden, zur Hälfte Kinderdörfer, zur anderen Hälfte Spitäler, Schulen, Kindergärten, Jugendhäuser und andere Einrichtungen. Es ist wahrscheinlich, daß dies den substantiellsten Beitrag zum Jahr des Kindes darstellen wird.

Am System der SOS-Kinderdörfer hat sich in diesen 30 Jahren wenig geändert. Es wurde verfeinert, ausgebaut, aber das Konzept hielt: Der Gedanke, daß die Familie, so Gmeiner, .jener Ort ist, wo allein Erziehung im umfassenden Sinne ermöglicht und geleistet werden kann“, weshalb ge-

rade die Erziehung bereits geschädigter Kinder „familiennah oder familienähnlich“ sein muß. Die Ersatzfamilie, die die normale nicht nachahmt, sondern deren wichtigste Funktionen bietet. Die SOS-Kinderdorfmutter, von deren Qualifikation und Opferbereitschaft alles abhängt, die „ihren“ Kindern ein festes Zuhause, Geborgenheit, Fürsorge biete.

Das erste SOS-Kinderdorf entstand in Imst, als Europa voll von Kriegswaisen und von den Eltern getrennten Kindern war. Wie tragfähig das Modell Hermann Gmeiners war, geht allein schon aus seiner Reproduzierbarkeit hervor: es funktioniert in den verschiedensten Kulturkreisen mit den verschiedensten Sozialsystemen und Religionen (wobei die jeweilige Religion ein wichtiges konstituierendes Element der Erziehung im SOS-Kinderdorf bildet).

Geblieben ist seit Anfangszeiten der Grundsatz, daß Kinder auch in-

nerhalb des Dorfes nicht verlegt werden. Daß Geschwister nicht getrennt werden. Geblieben ist die pädagogische Autonomie der SOS-Kinderdorfmutter, gestiegen ihr Ausbildungsstandard. Die Unterstützung durch pädagogische und psychologische Fachkräfte kam dazu. Geblieben ist die eiserne Regel, daß die SOS-Kinderdorfmutter eine kinderlose, alleinstehende Frau sein muß.

Dabei besteht vor allem in der deutschen SOS-Kinderdorfbewegung die Tendenz, die negativen So-zialisationseffekte der Vaterlosigkeit durch eine noch stärkere Integration der männlichen Mitarbeiter zu verringern. Diese sollen ihre Tätigkeit noch weniger auf ihren eigentlichen Spezialbereich (Psychologie, Heilpädagogik, Musikunterricht, Instandsetzungsarbeiten und so weiter) beschränken und sich so viel wie möglich in den Familien aufhalten, dauerhafte Kontakte zu Kindern knüpfen, sich als männliche Bezugspersonen profilieren.

Auch Hermann Gmeiner selbst betont immer wieder, daß das SOS-Kinderdorf nur eine Ersatzlösung sein kann und die Adoption, oft aber auch ein guter Pflegeplatz, vorzuziehen ist. Das Kinderdorf ist aber die optimale Lösung, wenn das Kind über das Alter hinaus ist, in dem sich leicht Adoptiveltern finden. Wenn es in den Teufelskreis von Verhaltensstörungen und Pflegestellenwechsel geraten ist, aus dem es nur die „durchhaltende Liebe einer mütterlichen Person“ (in Zusammenarbeit mit den anderen Kindern der Gruppe) wieder herausbringt. Wenn Geschwister nicht auseinandergerissen werden sollen.

Als Beispiel: Das SOS-Kinderdorf Hinterbrühl bei Wien, mit 27 Häusern, 27 Müttern, 190 Kindern, 50 Burschen und 8 Mädchen in Jugendhaus und Mädchenheim, Österreichs größtes. Hier gab es im vergangenen Jahr 18mal Geschwister zu zweit, neunmal zu dritt, sechsmal zu viert, einmal zu fünft, einmal zu acht, zu-

sammen 100 Kinder oder 58 Prozent aller.

Eine typische Familie: Acht Kinder. Fünf von ihnen, vier Mädchen und einen Buben, hinterließ eine bei einem Verkehrsunfall getötete Frau. Der Lebensgefährte, dem das Fürsorgerecht aberkannt wurde, taucht zweimal im Kinderdorf auf und während eines Gefängnisurlaubes unter. Das ist in diesem Fall vielleicht auch besser, obwohl die SOS-Kinderdörfer die Mitarbeit leiblicher Väter, auch wenn sie nicht fähig oder bereit waren, ihre Kinder selber großzuziehen, durchaus zu schätzen wissen.

Zwei Buben unserer Familie sind Halbgeschwister, nur die kleine Silvia hat keine leiblichen Geschwister, fühlt sich an den Rand gedrängt und reagiert dementsprechend. Später übersiedelt der mittlerweile siebzehnjährige Bub aus der Gruppe der Fünf in das Jugendhaus, ein weiteres Einzelkind wird aufgenommen, Silvias Verhalten kommt wieder ins Lot.

Ein großer Teil, der Kinderdorfkin-der ist Treibgut von Familientragödien, deren Folgen dadurch verschärft wurden, daß sie sich in einem schon vor der Katastrophe nicht intakten Milieu abgespielt haben. In einer kriminellen Umwelt, oder einfach in „unterprivilegierten Schichten“. Etwa 80 Prozent der Kinder waren schon vor dem Zerbrechen ihrer Familie, vor dem Verlust der Eltern verwahrlost.

Die SOS-Kinderdörfer sind voll von tragischen Geschichten. Kinder, die bei der Ankunft nichts können, was Kinder ihres Alters können sollen, dafür aber sehr wohl in der Lage sind, den Fernseher einzuschalten, sind nichts ungewöhnliches. Aggressive Kinder auch nicht. Von der eigenen Bösartigkeit, die man ihnen lange genug immer wieder vorgehalten hat, mittlerweile schon selbst überzeugte Kinder - auch nicht.

Nicht jedes Kind kann bleiben. Kinder, die zur Gefahr für die anderen werden, zu stark behinderte Kinder, Kinder, die eine straffe Führung brauchen und das sehr freie Leben im SOS-Kinderdorf nicht vertragen, werden an andere Institutionen weitergegeben.

In der Bundesrepublik Deutschland entsteht allerdings gerade ein

SOS-Kinderdorf für behinderte Kinder, die in eine „normale“ Kinderdorffamilie nicht aufgenommen werden könnten - damit beginnt sich die deutsche SOS-Kinderdorfbewegung einer Gruppe von Kindern anzunehmen, die Hilfe besonders dringend braucht, und deren Vernachlässigung den Kinderdörfern schon des öfteren vorgeworfen wurde.

Die grundsätzliche Kritik an Hermann Gmeiners Methodik ist verstummt Zu groß ist die Zahl der Menschen, die aus desolaten Verhältnissen kamen, die kaum eine Chance zu haben schienen, in SOS-Kinderdörfern aber zu Erwachsenen heranwuchsen, die sich in den verschiedensten Berufen, vor allem aber als Väter und Mütter bewährten.

Ein Faktum, an dem sich auch be-

geisterte Anhänger der SOS-Kinder-dorfbewegung stoßen, ist jedoch die mangelnde Transparenz der Gebarung der SOS-Kinderdorforganisation in Österreich. Fragt man die in der Organisation Tätigen nach den Gründen ihrer Geheimnistuerei, reicht die Palette der Antworten von „Wir wollen das nicht so hinausposaunen“ bis zum vorsichtigen Hinweis auf den „Neidkomplex“. Nämlich den der anderen karitativen Organisationen, die meinen könnten, ihr Anteil am gewiß ansehnlichen, aber angesichts des Elends in der Welt natürlich winzigen Kuchen der Wohltätigkeit sei zu gering. Niemand wird es den SOS-Kinderdorf-Funktionären verübeln, wenn sie auftreiben, soviel sie können: Die Kinderdörfer selbst sind fertig, aber noch mangelt es vielfach an Jugendhäusern und Mädchenheimen, Mütterhäusern für die ergrauten SOS-Kinderdorfmütter, heilpädagogischen Stationen und sonstigen Einrichtungen.

Geheimhaltung des dabei erzielten Erfolges ist aber kein legitimes Mittel im Konkürrenzkampf der Wohltäter. Die SOS-Kinderdörfer sind Österreichs einzige große karitative Organisation, die nicht regelmäßig ihr Spendenaufkommen und dessen Verwendung veröffentlicht. Sie sollte es aber tun. Auch deshalb, damit endlich der hinter vorgehaltener Hand kolportierte Einwand gegen die SOS-Kinderdorfbewegung verstummt, sie organisiere die Wohltätigkeit der Österreicher auf so dynamische Weise, daß andere menschenfreundliche Aktivitäten dabei an die Wand gedrückt werden.

Zu erörtern und vielleicht zu überprüfen wäre aber auch die Zurückhaltung der österreichischen Kinderdorforganisation auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe.

Denn kein SOS-Kinderdorf-Spendenschilling (außer dem Geld für persönliche Patenschaften) verläßt unser Land mit dem offenen Herzen und den zugeknöpften Taschen. Die Spendenfreudigkeit der Österreicher Sinkt rapid mit zunehmender Entfernung vom Elend - die österreichische SOS-Kinderdorforganisation zeigt wenig Tendenz, diese Haltung auf ihrem Sektor zu korrigieren.

Es gibt vier Millionen SOS-Kinderdorffreunde auf der Welt. Eine Million davon in Österreich. In mehreren Ländern wird, zusätzlich oder ausschließlich, für SÖS-Kinderdör-fer in der dritten Welt gesammelt. Deutschland hat nicht pur 12 eigene Dörfer, sondern trägt auch die Hauptlast der internationalen Arbeit. Der „Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland e. V.“ realisierte unter anderem

Kinderdorfprojekte in Vietnam, Bangla Desh, Indien, Äthiopien, Ägypten, Senegal und etlichen lateinamerikanischen Ländern und finanziert den Einsatz von 50 Experten, die beim Aufbau neuer Dörfer in aller Welt mitarbeiten. 10.000 Paten erhalten über 80 Kinderdörfer im Ausland.

Kanadische Spender erhalten das nigerianische SOS-Kinderdorf in Lagos. Ein „Haus Dänemark“ steht in vielen Dörfern rund um den Globus. Schweden baut gerade ein komplettes Dorf in Indien, Norwegen eine in Barigla Desh, zwei SOS-Kinderdörfer in Peru wurden ausschließlich mit Schweizer Spenden gebaut, dazu kommen Schweizer Beiträge zur Errichtung und Erhaltung von Dörfern überall in der Welt. Die holländische SOS-Kinderdorfstiftung engagiert sich vorzugsweise für die Berufsausbildung der den SOS-Kinderdörfern entwachsenen jungen Menschen in aller Welt. Luxemburgische SOS-Kinderdorffreunde wirken besonders intensiv in Honduras. Und so fort.

Aus Österreich kam die Idee, kommt aber kaum Geld. Zwar hat der Dachverband, SOS-Kinderdorf International, der die weltweite Kinderdorf-Arbeit koordiniert, seinen Sitz in Wien, doch österreichische Kinderdorffreunde \können internationale Solidarität nur in Form von Patenschafts-Übernahmen üben. Diese ist aber in all den aufgezählten Ländern zusätzlich möglich. So gibt es, zu all den aufgezählten Aktivitäten, je 4000 dänische und holländische Patenschaften und nicht weniger als 7000 in Norwegen, und alle Kinder in österreichischen SOS-Kinderdörfern haben ausländische Paten. Der Ex-US-Vizepräsident Humphrey versäumte es nicht, anläßlich eines Österreich-Besuches auch in die Hinterbrühl zu fahren, um zwei Stunden mit seinen beiden Patenkindern zu verbringen. Die Zahl der von österreichischen Kinderdorf-Freunden übernommenen Patenschaften: 347

Dem Vernehmen nach macht die Bundesabgabenordnung nichtkirchlichen Organisationen das Sammeln für karitative Zwecke außerhalb Österreichs schwer. Doch immerhin, 1963/64 gab es für eine Sammlung für das erste koreanische SOS-Kinderdorf unter dem Motto „Ein Reiskorn für Korea“ eine Ausnahme. Die müßte doch öfter zu haben sein ...

Abgesehen von solchen Schönheitsfehlern untergeordneter Art, die korrigierbar sind und lediglich die Arbeit in Österreich betreffen, darf die SOS-Kinderdorfbewegung stolz sein auf ihre Bilanz von 30 Jahren. HELLMUT BUTTERWECK

Auf Anfrage wurde uns der Rechnungsabschluß der österreichischen SOS-Kinderdörfer für 1977 bekanntgegeben. Zur Verfügung standen 111,72 Millionen Schilling. Davon stammen 8,28 Millionen aus Patenschaftsüber-nähmen (zum Großteil von ausländischen Spendern).

So wurden die Mittel verwendet:

Betrieb und Instandhaltung der österreichischen Kinderdörfer und ihrer Einrichtungen: 64,54 Millionen (57,6%),

Neu- und Ausbau von Einrichtungen: 29,08 Millionen (25,9%).

Anwerbung und Ausbildung von Personal: 936.000 Schilling (0,8%).

Heilpädagogische Station in SOS-Kinderdorf Hinterbrühl: 1,87 Millionen (1,6%).

Allgemeine Verwaltung und Organisation: 8,28 Millionen (7,4%).

Übertragung für Investitionen im Jahr 1978: 5,07 Millionen (4,5%).

Barbestand am 31.12.1977: 1,94 Millionen (1,7%).

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