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Digital In Arbeit

Auch mit Aids leben

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Aids macht zwar derzeit keine Schlagzeilen, ist aber ein weiterhin unbewältigtes Problem. Groß ist das Leiden der Betroffenen. Eine Privatinitiative versucht zu helfen.

In einem gesellschaftlichen Klima, in dem eine angemessene Auseinandersetzung mit Aids nicht möglich zu sein scheint, ist es verständlich, daß die betroffenen Familien Angst haben, ihre Anonymität zu verlieren. Sie leben in zweierlei Hinsicht in einer Extremsituation: Da ist einmal eine Krankheit, die nicht heilbar ist, von der ein Familienmitglied oder die ganze Familie betroffen ist, und zum anderen die Situation, dies alles verschweigen zu müssen, sich in der Verzweiflung niemandem anvertrauen zu können.

Eine Mutter schrieb mir einmal: “Ich hoffe, irgendwann merken alle Menschen, daß Aids eine Krankheit ist und keine Atombombe.“

Eine psychosoziale Betreuung sollte spätestens zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens eines positiven Testergebnisses einsetzen, muß dann kontinuierlich und darf keinesfalls von wechselnden Betreuern durchgeführt werden. Ein Vertrauensverhältnis, das zwischen Betreuer und Familie im Laufe der Zeit gewachsen ist, ist nicht beliebig auf andere Personen übertragbar Die Betreuung muß absolut zuverlässig, die Betreuer erreichbar sein. Menschen, die diese Arbeit übernehmen, müssen sich intensiv mit sich selbst und ihren eigenen Ängsten und Motiven auseinandergesetzt haben. Sie müssen belastbar, fähig sein, Extremsituationen auszuhalten, die sich auch über einen längeren Zeitraum erstrecken können oder kurzfristig gehäuft auf treten. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß die Betreuung auch die Begleitung bis zum Tod und für die restliche Familie auch darüber hinaus, beinhaltet. Die direkte Betreuung der Familien wird überwiegend von ehrenamtlichen Helfern übernommen, die sich bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit einset- zen. Ich würde mir wünschen, daß bei uns einmal Autobahnen ehrenamtlich gebaut würden und für die sozialen Bereiche ein bißchen mehr Geld vorhanden wäre.

Wir sind immer wieder erstaunt, wie wenig vorbereitet auch die Verbände und Behörden sind, die sich sonst überwiegend um soziale Belange von Menschen kümmern.

Aus diesem Erleben heraus haben wir alle Arten von sogenannten “Patenschaften“ organisiert, mit denen wir und die Familien durchwegs gute Erfahrungen gemacht haben. Wir können kostenlos Urlaubsdomizile nutzen, haben Einzelpersonen oder Vereine, die Familien monatlich mit festgelegten Beträgen unterstützen oder für ein Jahr die Finanzierung von Stutenmilch für ein Kind übernehmen, um nur einige zu nennen.

Die Betreuung betroffener Familien und die dafür notwendige Unterstützung zu erhalten ist unter anderem auch deshalb so schwierig, weil Aids überwiegend als medizi nisches Problem gesehen wird. Ein Heer von Ärzten, Wissenschaftlern und Forschem stürzt sich auf das Thema und die Menschen, und darüber wird der betroffene Mensch in seiner ganz individuellen Situation, mit seinen Ängsten, Sorgen, mit seiner Verzweiflung und Hoffnung, allzu leicht übersehen. Die Diskussion des Themas Aids wird allzu sehr von Fachleuten bestimmt.

In einer im März dieses Jahres neu entstandenen Eltemgruppe haben auf die Frage: “Wie wünschen Sie sich Betreuung?“ alle Eltern geantwortet: “Wir möchten, daß jemand da ist, mit dem wir reden können. Jemand, der uns zuhört, wo Wir das Gefühl haben, der akzeptiert uns als Mensch, auch wenn wir oder unsere Kinder Aids haben.“

Bei diesen Aussagen wird deutlich, daß Hilfsmaßnahmen, am Schreibtisch geplant und ohne jeglichen Kontakt zu Betroffenen oder Menschen, die in direktem Kontakt mit ihnen stehen, zwangsläufig an den Bedürfnissen vorbeigeplant werden.

Und diese Bedürfnisse sind so unterschiedlich und vielfältig, wie die Familien, mit denen wir es zu tun haben. Da ist die Mutter, die durch eine Blutübertragung infiziert wurde und erst nach dem zweiten Kind davon erfahren hat, daß sie selbst und beide Kinder positiv sind.

Da ist die Familie, die drei Kinder hat und anläßlich einer Krankheit des jüngsten Kindes erfährt, daß dieses und beide Eltern infiziert sind, die beiden großen Kinder gesund.

Da ist die Mutter, die zwei infizierte Bluterkinder hat und es nicht wagt, dies ihrem Mann zu sagen. Oder das Ehepaar, das sich jahrelang sehnlichst ein Kind wünscht und anläßlich der Schwangerschaftsvorsorge erfährt, daß die Frau und dadurch möglicherweise auch das Kind infiziert ist.

Die aidskranke Mutter mit einem gesunden Kind und Partner hat andere Ängste und Hoffnung und Wünsche, als die nichtbetroffene Mutter mit aidskranken Kind(ern), die aufgrund des positiven Testergebnisses der Kinder vom Partner verlassen wird.

Pflege- und Adoptiveltern, die erst nach Jahren mit der Infektion oder Krankheit ihres Kindes konfrontiert werden, benötigen andere und intensivere Betreuung als Pflege- und Adoptiveltern, die sich ganz bewußt für die Aufnahme eines solchen Kindes entscheiden.

Die Belastungen für die Familien und die Betreuer sind so groß, daß die Möglichkeiten von Therapieangeboten geschaffen werden müssen. Hier ist besonderes Augenmerk auch auf die Beziehung der Partner zu legen. Nach unserer Erfahrung verkraften Männer und Väter ein positives Testergebnis bei sich selbst oder der Partnerin oder dem Kind wesentlich schlechter als Frauen und Mütter. Viele Familien brechen auseinander, häufig erst, wenn das Kind gestorben ist.

Solche Entwicklungen im Vorfeld zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, ist ein Schwerpunkt der Betreuung. Den Eltern Entlastung anzubieten, daß sie für sich selbst etwas tun können, abends oder am Wochenende - so schwer das manchen Eltern auch fällt.

Die Belastung des Lügen- und Versehweigenmüssens, die Angst vor Entdeckung, ist für viele Betroffene mittlerweile schlimmer als die Krankheit selbst. Mit dieser Krankheit leben zu müssen und ständig auf Ablehnung zu stoßen, das ist imerträglich.

Wenn selbst Arzte und Zahnärzte die Behandlung ablehnen, Pfarrer darum bitten, nicht mehr in die Kirche zu kommen, Sozialdienste ambulante Betreuung verweigern, Kindergärten Kinder nicht aufnehmen, Schüler außerhalb der offiziellen Schulzeit Einzelunterricht erhalten, dann brauchen wir uns wirklich nicht mehr wundem, wenn die Nachbarin nebenan einen Händedruck als tödliches Risiko betrachtet.

Jedes soziale System ist nur so gut, wie die Menschen, die dieses System mittragen und mitgestalten. Ich hoffe und wünsche uns allen, daß die Zahl der Menschen, die bereit sind das Leid der Betroffenen mitzutragen, zunimmt. \

Die Autorin ist Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder in der Bundesrepublik Deutschland.

(Referat im Rahmen der int Fachtagung 21.-23* April 1989 in Salzburg - österreichischer Mitveranstalter - Aktion Leben).

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