"Das war doch noch kein richtiges Kind!"

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Die Trauer über Fehlgeburten oder Totgeburten ist ein Tabu. Betretenes Schweigen ist die häufigste Antwort für die betroffenen Eltern.

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Die Trauer über Fehlgeburten oder Totgeburten ist ein Tabu. Betretenes Schweigen ist die häufigste Antwort für die betroffenen Eltern.

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Frauen, die ihre Kinder verlieren, vermittelt man bei uns das Gefühl, mit dem Erlebten ganz alleine auf der Welt zu sein. Das ist umso erstaunlicher wenn man bedenkt, daß jede dritte Schwangerschaft und jede vierte Frau einmal im Leben von einem solchen Verlust betroffen ist. Das betretene Schweigen, das in den meisten Krankenhäusern trotz dieser Häufigkeit an den Tag gelegt wird, führt bei Betroffenen und Angehörigen zu einer Serie falscher Reaktionen. In einer "Gebär-Welt" der richtig geplanten und dann termingerecht abzuliefernden Kinder scheint es naheliegend, daß irgend jemand die Schuld an einer Fehl- oder Totgeburt haben muß. Am naheliegendsten ist es dann oft zu sagen, die Mutter hat etwas falsch gemacht. Damit werden völlig ungerechtfertigte Schuldgefühle erzeugt. Außerdem wird eben diesen Müttern so gut wie kein Recht auf Trauer zugestanden. Frauen trauern aber um ihre "verlorenen Kinder" und wenn ihnen auch die Gesellschaft diese Trauer nicht zugesteht, führt der einzige Weg aus ihr heraus nur "mitten durch sie hindurch."

Eine "Fehlgeburt" liegt laut Hebammengesetz vor, "wenn bei einer Leibesfrucht kein Zeichen einer Lebendgeburt vorhanden ist und die Leibesfrucht ein Geburtsgewicht von weniger als 500 Gramm aufweist." Bei über 500 Gramm spricht man von einer Totgeburt.

Am Wiener Zentralfriedhof, der in diesen Tagen von zahlreichen Menschen, die ihre toten Angehörigen besuchen frequentiert wird, gibt es beim Tor 3 in der Gruppe 36 beziehungsweise 37 ein Feld von kleinen Gräbern, auf deren Holzkreuzen oft nur zwei Worte stehen: "Mädchen Monika", "Knabe Tibor", dann wieder nur "Knabe" oder "Mädchen" gefolgt vom Nachnamen. Das "Feld" weist viele kleine verwitterte Holztafeln auf, kleine Erdhügel mit Kreuzchen, an denen winzige Teddybären lehnen, hie und da ist ein Blumenstrauß zu sehen, ein kleines Windrad, ein altes Püppchen.

Nach Auskunft der Verwaltung des Zentralfriedhofs werden hier Fehl- und Totgeburten bestattet, auch Kinder die kurz nach der Geburt gestorben sind. Ausschlaggebend für eine Grabstätte ist immer der Wunsch der Eltern, der noch im Spital angemeldet werden muß. Einzelgräber für mindestens zehn Jahre gibt es auf dem Zentralfriedhof am "Grabfeld 37". Die Kirche hat für katholische Begräbnisse nicht getaufter Kinder einen eigenen Ritus. Bei der Wiener Bestattung heißt es, daß die Begräbnisse der toten Baby sehr schön und würdevoll gestaltet werden. Es gibt aber auch Sammelsärge, bei denen die Eltern nicht wissen, wohin ihr Kind kommt.

Sterben wird ignoriert Bestatten ist bei uns ein wichtiges Ritual, auch wenn es parallel dazu offenkundig ist, über alles Unangenehme so rasch wie möglich den Mantel des Schweigens zu breiten. Der Tod eines so kleinen Kindes ist heute in unserer Gesellschaft zweifellos "kein Thema". Solches Sterben wird fast ignoriert. Meist heißt es: "Es war doch noch gar kein richtiges Kind."

Begründet wird dies mit der wohlmeinenden Absicht, den Eltern Schmerz und Trauer zu ersparen. Darauf baut anscheinend auch die Vorgangsweise in den meisten österreichischen Krankenhäusern, in denen die Eltern ihr totes Kind weder zu Gesicht bekommen, noch Gelegenheit haben, über das Erlebte zu sprechen.

Der Preis für diese Verdrängung ist hoch. Der einzige Weg, wirklich über einen derartigen Verlust hinwegzukommen, ist der Weg der zugelassenen Trauer. "Ich habe zwei Kinder jeweils in der 21. Schwangerschaftswoche verloren, das war sogar im gleichen Jahr", berichtet Ulrike Kern, Obfrau des Vereins "Regenbogen." Kern: "Es stimmt nicht zu sagen "die Frau hat ihr Kind verloren", - denn auch nicht lebensfähige Kinder werden durch Geburt auf die Welt gebracht. Ich kam ins Spital und wußte, daß mein Kind in diesem Schwangerschaftsstadium nicht überlebensfähig ist. Das Kind ist aber ein fertiger Mensch, auch wenn es nur 350 Gramm wiegt." Das erste Mal habe sie den Verlust noch recht gut verarbeitet, beim zweiten Mal nicht mehr. "Die Umwelt hat so anders reagiert als ich es damals gebraucht hätte. Man hat mir kein Recht auf Trauer zugestanden. Dazu kommt, daß es sowohl damals wie heute in den Kliniken nicht dazu kommt, die Eltern bei Fehl- oder Totgeburten zu fragen, ob sie ihr Baby beerdigen lassen wollen." Das ist aber grundsätzlich - mit einer formlosen Bescheinigung - auch bei Kindern unter 500 Gramm oder 35 Zentimeter möglich.

Viele Eltern beschäftigen sich zunächst auch nicht mit dem Gedanken an eine Bestattung, bereuen aber später, nicht nach dieser Möglichkeit gefragt zu haben. Eine Beerdigung ist aber sehr wichtig für das Abschiednehmen vom Kind, nicht nur während der folgenden Trauerphase. Eine Grabstelle, deren Lage den Eltern bekannt ist, kann auf Dauer sehr hilfreich sein.

Abschied nehmen Ein weiterer Punkt, auf den stärker Rücksicht genommen werden sollte, ist der Wunsch der Eltern, ihr Kind noch einmal sehen zu dürfen. In vielen Kliniken ist es üblich, den Säugling sofort nach Eintreten des Todes aus dem Kreißsaal oder dem Zimmer zu holen. Eltern, speziell Frauen, leiden häufig sehr darunter, daß sie ihr Neugeborenes nicht zu sehen bekommen haben. Es fällt ihnen in der Folge dann besonders schwer, sich mit dem Tod ihres Baby abzufinden. Es sollte nicht passieren, daß Mütter darum kämpfen müssen, ihr Kind zumindest einmal ansehen und berühren zu dürfen. Ärzte und Hebammen, die mit ihrer Entscheidung vorgreifen - auch wenn sie vielleicht gut gemeint ist -, entmündigen Vater und Mutter.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß selbst ein mißgebildetes Baby von seinen Eltern nie mit Ablehnung betrachtet wurde, Eltern finden immer etwas Schönes an ihrem Kind.

Ein erstrebenswertes Ziel wäre das Einrichten von sogenannten "Familienzimmern", wie es sie zum Teil in amerikanischen und niederländischen Kliniken gibt. Hier haben Eltern die Möglichkeit, das Geschehene zu begreifen, ihr Kind in Ruhe zu sehen und von ihm Abschied zu nehmen. Die betroffenen Eltern haben es später nicht bereut, ihr Kind gesehen zu haben. Diese Begegnung ist zwar schmerzhaft, wird im nachhinein aber als wertvoll empfunden. Egal wie schlimm ein Kind ausschaut, wie mißgebildet es ist oder wie lange es schon tot ist, die Frauen sind stolz, wenn sie es sehen. Nur die Vorstellung davon, wie es aussehen könnte, ist schlimmer als die Realität. Haben Frauen ihr Kind nicht gesehen, bleibt ihnen oft das Gefühl, sich vor dem eigenen Kind gefürchtet und es innerlich abgelehnt zu haben.

Obwohl Ulrike Kern vor ihren beiden Fehlgeburten bereits drei Kinder hatte und letztlich doch noch ein viertes gesundes Kind zur Welt brachte, beschloß sie im Jahre 1994, unmittelbar nach den Fehlgeburten, einen Verein und eine Selbsthilfegruppe namens "Regenbogen" nach deutschem Vorbild zu gründen. In dieser Selbsthilfegruppe können Betroffene mit dem gleichen Schicksal einander treffen und sich aussprechen. Es sind Frauen, die ihre Kinder in den unterschiedlichsten Schwangerschaftsstadien verloren haben. Je früher das einer Frau in der Schwangerschaft passiert, desto weniger wird ihr von unserer Gesellschaft ein "Recht auf Trauer" zugestanden.

Allein mit dem Schock Frau Kern hat schon 1993 feststellen müssen, wie unbeholfen das Personal im Krankenhaus mit der Trauersituation umgeht. Auf ihre damaligen Fragen: "Was passiert mit dem Kind? Können wir unser Kind bestatten? Auf welches Amt müssen wir gehen? Wie ist das jetzt mit dem Krankenstand?" konnte ihr niemand Antwort geben."

Der Verein "Regenbogen" hat es sich inzwischen zur Aufgabe gemacht, eine Vielzahl von Informationsbroschüren zu diesem Thema herauszugeben, und diese über Hebammen und Gynäkologen in die Krankenhäuser zu transportieren (siehe Kasten).

Selbsthilfegruppe Kontakte für Eltern Selbsthilfegruppe "Regenbogen" - Verein zur Hilfestellung bei glückloser Schwangerschaft.

Kontaktkreis für Eltern, die ein Kind durch Fehlgeburt, Totgeburt, kurz nach der Geburt oder im ersten Lebensjahr verloren haben.

Kontakt: Ulrike Kern, 1020 Wien, Zirkusgasse 28/9. Tel: 01/ 214 72 34 (Nachricht am Anrufbeantworter hinterlassen, es wird zurückgerufen).

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