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Mütter und Väter — keine Rollenträger

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Die neurotische Depression ist eine Massenerscheinung unter Jugendlichen. Ihre Hauptursache: mangelnde Zuwendung. In der Sowjetunion zieht man schon Konsequenzen.

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Die neurotische Depression ist eine Massenerscheinung unter Jugendlichen. Ihre Hauptursache: mangelnde Zuwendung. In der Sowjetunion zieht man schon Konsequenzen.

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Das Wort „Rolle“ in der Pädagogik ist wesentlich mehr als eine zutreffende Umschreibung für die Flexibilität des modernen Menschen. Der in unserem Leben so häufig verwendete Begriff kennzeichnet vielmehr, wie tief bereits das Menschenbild des christlichen Abendlandes durch die Utopie vom an sich gleichen „Menschenmaterial“ mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen - eben vom Menschenbild des austauschbaren Rollenträgers - geprägt ist.

Aber ist diese neue Mentalität nicht vielleicht gerade besonders angemessen für den modernen Menschen in den Industrienationen?

Entwicklungspsychologische Fakten und Untersuchungsergebnisse der Psychopathologie geben

diesem Wunschtraum keine Zukunftschance. Zum Beispiel Mutterschaft als Rolle zu verstehen, das heißt, die Betreuung der Kinder verschiedenen, sich abwechselnden Bezugspersonen zu übergeben und selbst nur von Zeit zu Zeit als Pflege- und Erziehungsperson in Erscheinung zu treten, beinhaltet eine bedenkliche Verführung zur Delegierung von Pflegeauf gaben an andere.

Das aber, so hat das 20jährige Experiment mit der Kollektivierung von Säuglingen, Krabbelkindern und Kleinkindern im Westen und das 70jährige Erziehungsexperiment im Osten mit QOprozentiger Enthäuslichung junger Mütter gezeigt, hat außerordentlich negative Auswirkungen gehabt.

Am eindrucksvollsten ist die Bilanz in der Sowjetunion. Gorbatschow schreibt dazu erstaunlicherweise ebenso offen wie realistisch in seinem Buch »J’erestroi-ka“:

„In den letzten Jahren unserer schwierigen und heroischen Geschichte haben wir es versäumt, den besonderen Rechten und Bedürfnissen der Frauen, die mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter imd mit ihrer unerläßlichen erzieherischen Funktion zusammenhängen, genügend Beachtung zu schenken…

Wir haben erkannt, daß viele unserer Probleme im Verhalten vieler Kinder und Jugendlicher, in unserer Moral, der Kultur, der Produktion zum Teil durch die Lockerimg der familiären Bindungen und die Vernachlässigung der familiären Verantwortung verursacht werden.

Dies ist ein paradoxes Ergebnis unseres ernsthaften und politisch gerechtfertigten Wunsches, die Frau dem Marm in allen Bereichen gleichzustellen. Mit der Perestrojka haben wir angefangen, auch diesen Fehler zu überwinden. Aus diesem Grund führen wir jetzt Debatten über die Frage, was zu tun ist, um es den Frauen zu ermöglichen, zu ihrer eigentlichen weiblichen Lebensaufgabe zurückzukehren.“

Die sich an der Erfahrung abzeichnende Realität heißt: Mutterschaft ist eben gerade keine RoUe. Wissenschaftlich ergab jüngst nach vielen internationalen Arbeiten eine Untersuchung -aus dem psychosorpatischen Institut Mannheim folgendes: „Die Deprivationsforschung, die Verhaltensbiologie sowie psychoanalytische Erkenntnisse führen zu der Hypothese, daß ein Kind unter allgemein hoher psychosozia-

ler Belastung während der Vorschulzeit sich nur dann zu einem seelisch gesunden Erwachsenen entwickeln karm, wenn ihm zugleich eine zuverlässige positive Bezugsperson konstant zur Seite steht… Ohne eine solche Bezugsperson entwickelte sich in unserem retrospektiven epidemiologischen Forschungsprojekt an 600 erwachsenen Personen der Allgemeinbevölkerung kein Proband mit schwerer Frühkindheit zu einem gesunden Erwachsenen.“

Eine stabile gute Bezugsperson - das ist eben kein Rollenträger, sondern ein Mensch, der sich in Liebe für das Gedeihen des ihm anvertrauten Menschenkindes in ständiger Fürsorge verantwortlich fühlt. Die treue Konstanz ist als Entfaltungsbedingung für seelische Gesundheit im Erwachsenenalter unerläßlich.

Untermauert wird dieser Tatbestand durch die immense Zunahme der sogenannten negativen Sozialindikatoren in den Industrienationen. So haben wir einen außerordentlich starken Anstieg der Süchte zu verzeichnen, zählen in unserer kleinen Republik an die zwei Millionen Alkoholkranke und ebenfalls die Millionengrenze überschreitende weitere Süchte: Rauschgift-, Medikamenten-, Freß-ünd Magersucht. So hat die Zahl der Rechtsbrüche von 1967 auf 1987 von rund zwei Millionen Straftaten auf rund 4,3 Millionen zugenommen.

Gewiß läßt sich hier keine Mono-kausalität behaupten. Und dennoch ist es jedem praktisch arbeitenden Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten geläufig, wie häufig habsüchtige und aggressive Triebdurchbrüche etwas mit dem Seelenhunger der inneren Heimatlosigkeit kollektiv und durch immer wechselnde Bezugspersonen erzogene Kinder zu tun hat.

Sogenannte orale Antriebsschäden lassen sich laut Erfahrung am ehesten verhindern, wenn ein neugeborenes Kind voll und nach Bedarf gestillt, mindestens 16 Monate lang in der ununterbrochenen Pflege seiner leiblichen Mutter, die es mit liebevoller Obhut umgibt, verbringen kann. Sowohl der Vater wie sogar auch die Großmutter sind in der Mutterrolle für den Säugling kein absolut vollgültiger Ersatz.

Das Betonen gleichberechtigter Elternrollen im Frühstadium des Kindes ist eine be-

denkliche Ideologie, weil sie die der Mutter mitgegebenen biologischen Bereitschaften und Qualitäten außer acht läßt. Damit ist freilich gewiß nicht erwiesen worden, daß die Aufgaben des Vaters im Leben eines Kindes unbedeutend und zweitrangig seien. Vorbildhafte Vaterschaft ist von allerhöchstem Wert.

Aber unsere Erfahrungen mit dem Vertauschen der Aufgaben, dem „Rollentausch“, haben an den negativen Bilanzen eindeutig sichtbar gemacht, daß die Vorstellung von den jederzeit auswechselbaren Rollenträgern im Erziehungsprozeß auf einem unwahren, erdachten Menschenbild beruhen.

So erstickte ein vom Vater beaufsichtigter Säugling des Nachts an Erbrochenem, weil der Vater von den Würgelauten des Kindes nicht geweckt wurde, während die

Mutter als Krankenschwester ihren Nachtdienst versah.

Die Versorgung der Kleinkinder berufstätiger Mütter durch die Väter ist ohnehin, wie eine Befragung des demoskopischen Instituts Allensbach gezeigt hat, eher ein Wunschtraum der Rollenideologen geblieben - trotz einer umfänglichen Propagierung dieses Modells in der Bundesrepublik Deutschland. Eine allgemein empfehlenswerte Problemlösung ist das eben auch keineswegs.

Die Aufgaben der Mutterschaft und der Vaterschaft wachsen natürlicherweise aus dafür angelegten Begabungen. Sie haben ähnliche Intentionen in bezug auf das Erziehungsziel, aber die kluge Beachtung des unterschiedlich Vorgegebenen hat die Chance zum optimalen Entfaltungserfolg im Erziehungsprozeß eines Kindes.

Erziehung braucht verantwortungsbewußte, hellhörig nachdenkliche Menschen als Eltern, keine Rollenträger!

Es ist dringend nötig, in später Stunde aus der negativen Bilanz des Großexperiments Schlußfolgerungen zu ziehen. Sie sollten heißen: Der Mensch ist in seinen Kinder Jahren darauf angewiesen, sich an liebevolle, ihn persönlich dauerhaft betreuende Personen zu binden, wenn sich in ihm Gefühle von Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen in das Leben entwickeln sollen.

Von derartiger Gėstimmtheit hängt weitgehend nicht nur das Glück, sondern auch Liebes- und durchhaltende Leistungsfähigkeit sowie seelische Widerstandskraft im Erwachsenenalter ab. Schiebt man die Verantwortung ab, überläßt man die Kinder im Alltag irgendwelchen Rollenträgern, so entstehen konsequente Gefahren: Kinder, für die niemand verantwortlich zeichnete, werden als Erwachsene in beträchtlicher Zahl verantwortungslos.

Die jungen Menschen der Jetztzeit brauchen also nach wie vor Mutter und Vater, die sich unmittelbar um sie kümmern. Sie brauchen Lehrer und kirchliche Betreuer, die ihnen nahe persönliche Vorbilder sind.

Auszug aus einem Vortrag, den die Autorin am 12. Internationalen FamilienkongreS in Wien gehalten hat.

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