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Aids-Gnadenfrist blieb ungenützt

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Boris Velimirovic, Vorstand des Instituts für Sozialmedizin der Universität Graz, störte vor einiger Zeit im Club 2 die Einigkeit, Aids sei mit Aufklärung, Kondomen und freiwilligen Tests beizukommen. Er fordert Meldepflicht, aber unbedingt auch gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Anstellungs-Verweigerung, außer in ganz wenigen sensiblen Bereichen.

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Boris Velimirovic, Vorstand des Instituts für Sozialmedizin der Universität Graz, störte vor einiger Zeit im Club 2 die Einigkeit, Aids sei mit Aufklärung, Kondomen und freiwilligen Tests beizukommen. Er fordert Meldepflicht, aber unbedingt auch gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Anstellungs-Verweigerung, außer in ganz wenigen sensiblen Bereichen.

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Bis jetzt sind über 38.000 Kranke auf der ganzen Welt registriert, doch gab es wahrscheinlich etwa 100.000, wovon die Hälfte schon gestorben ist. Die Sterblichkeit ist eine Funktion der Zeit. Bis zum Ende des Jahrhunderts werden bis zu 100 Millionen Menschen an Aids sterben, wenn nicht eine Behandlung oder ein Impfstoff gefunden wird, sagte der oberste Gesundheitsbeamte der USA, C. Everett Koop. Aids verbreitet sich weiter, und die Krankheit ist immer tödlich, da in nächster Zukunft weder eine Behandlungsmethode noch ein Impfstoff in Sicht sind, erklärt Koop -auch wenn bereits Tests mit mögliehen Vakzinen begonnen haben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO meint, daß es selbst bei erfolgreichen Tests noch fünf Jahre dauern würde, bis es Impfstoffe gibt.

Die Erkrankten von heute wurden zwischen 1981 und 1983 infiziert. Die Zahl der HIV-Träger (Träger des Aids-Virus) ist unbekannt. Was man bis jetzt bei uns über Infizierte, aber noch nicht Erkrankte weiß, ist so viel wie nichts. Die Angaben sind nicht repräsentativ, da sie auf den Daten von Personen beruhen, die sich freiwillig untersuchen ließen. Ein Uberwachungssystem haben wir nicht. Es gibt keine übereinstimmenden Meinungen über den Prozentsatz der Infizierten, der erkranken wird. Die 50-Prozent-Grenze wurde aber bereits überschritten. Eine Studie aus Frankfurt gibt über 75 Prozent an, und Robert C. Gallo, einer der beiden Entdecker des Virus, rechnet bereits mit 100 Prozent. Hiebei sind nicht die Zahlen derer berücksichtigt, die eine HlV-bezogene neurologische Erkrankung (Demenz) erleiden.

Der WHO zufolge wird das Spektrum dieser Gehirn-Erkrankungen erst in den nächsten zehn bis 30 Jahren manifest sein. Auch hat die WHO erklärt, daß die frei-wülig berichteten Fälle kein genaues Bild der weltweiten Verbreitung der Seuche ergeben. Man rechnet damit, daß 1986 fünf bis zehn Millionen Menschen infiziert waren, daß es 1991500.000 bis drei Millionen neue Aids-Erkrankungen und ein bis fünf Millionen Aids-assoziierte Krankheitsfälle geben wird, als Folge der bereits 1986 Infizierten. In Europa rechnet man bis Ende 1988 mit 25.000 bis 30.000 Aids-Kranken, zum Jahresende waren es noch 4.000.

Bis jetzt haben Selbstgefälligkeit und simplizistische Annahmen eine wirkungsvolle Aktion verhindert. Das österreichische Vorgehen ist nicht geeignet, den Vormarsch von Aids zu stoppen. Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs, und die Behörden lassen sich von Zweckoptimismus leiten.

Man möchte meinen, daß Gesundheitsbehörden und Gesellschaft alles erdenklich Mögliche unternehmen, die Verbreitung einer solchen Infektion zu verhindern. Wir haben es nicht getan und die Gnadenfrist, die Verzögerung der Durchseuchungsrate von etwa drei Jahren, verglichen mit den USA, nicht genützt - vermutlich aus Angst vor dem Vorwurf der Diskriminierung. Zur Zeit können wir Aids aber nicht aus der Welt schaffen. Man sollte daher wenigstens alles unternehmen, die Bedrohung zu mindern.

Eine der bewährtesten Methoden im Kampf gegen Infektionskrankheiten, Ausforschung der Kontakte der Kranken oder Antikörperpositiven, wurde bei uns nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Diese Personen sollten über die Namen der sexuellen Kontaktpartner befragt werden, die dann gewarnt und untersucht werden müßten. Für den Fall, daß die Untersuchung positiv ausfällt,sollte man diese Personen besonders eingehend über die möglichen Folgen einer Weiterverbreitung von Aids aufklären. Nur ein Mensch, der weiß, daß er positiv ist, kann verantwortungsbewußt handeln, falls man nicht annehmen möchte, daß er a priori asozial handeln wird.

Amerikanische Bundesgesundheitsbeamte haben am 3. Februar erklärt, daß sie eine breitere Blutuntersuchung inklusive Tests für alle Bewerber um Heiratsurkunden, alle Hospitalisierten in den entsprechenden Altersgruppen, Schwangere und alle, die mit Geschlechtskrankheiten in Behandlung sind, empfehlen. Diese Untersuchungen sind derzeit schon für Blutspender, Rekruten und anderes Militärpersonal obligat. Der Vorschlag wurde im Hinblick auf die andauernde Verbreitung von Aids und die Bedrohung für Neugeborene vorgebracht. Walter Dowdle, Direktor im staatlichen Zentrum für Krankheitsbekämpfung in Atlanta (CDC), erklärte: „Die Zeit ist reif, diese Gedanken in einem offenen Forum zu diskutieren, um sicher zu sein, daß wir keine Möglichkeiten übersehen, die Epidemie einzudämmen.”

Dieser Tage findet ein Treffen aller staatlichen und regionalen Gesundheitsbehörden der USA statt, denen diese Konzepte vorgelegt werden. Man ist sich dessen bewußt, daß solche Maßnahmen einen Konsensus erfordern und einen Multistufen-Prozeß bedeuten, und daß Interessengruppen opponieren werden. Aber noch haben wir etwas Zeit, eine weitere Verbreitung wenigstens in der heterosexuellen Bevölkerung zu verhindern (derzeit etwa vier Prozent der Fälle).

Der politische Direktor der nationalen Homosexuellen- und Lesbierinnen-Vereinigung in Washington sagte dazu, der Vorschlag, die obligate Pflichtuntersuchung zu diskutieren, beinhalte „lobenswerte Ziele für das öffentliche Gesundheitswesen”, doch verlangt er gleichzeitig, die sozialen Konsequenzen nicht zu ignorieren. Wenn die Blutuntersuchungen mit einem großen Bera-tungs- und Aufklärungsprogramm, Schutz vor Diskriminierung und mit versicherungsrechtlichen Vorkehrungen kombiniert werden, könne man darüber sprechen.

Kinder würden von Blutuntersuchungen potentieller oder werdender Eltern besonders profitieren, denn es besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, daß sie von positiven Müttern infiziert werden und in den ersten Lebensjahren erkranken. Kenntnis der eigenen Infektion gibt die Chance eingehender und gezielter Beratung zum Schutz eines nicht infizierten Partners und für das Kind. Tests im Krankenhaus ermöglichen es dem Arzt, Gefahren für den für opportunistische Infektionen (mit sonst ungefährlichen Keimen, Anm. d. Red.) besonders anfälligen Patienten rechtzeitig zu erfassen und werden auch den Kontakten des Patienten zugute kommen.

Das Argument, daß es für die Hauptrisikogruppen zu spät sei, ist nicht stichhaltig. Noch sind nicht alle Angehörigen dieser Gruppen infiziert, und die Verbreitung in der heterosexuellen Bevölkerung ist noch gering. Sicher müßten solche Programme unter Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht und der Zweckbindung durchgeführt werden. Aber das Aids-Virus kann keine Rechte geltend machen, und Menschen mit Risikoverhalten haben kein Recht, andere in Gefahr zu bringen.

Bei uns wurde der Wiener Gesundheits-Stadtrat Alois Stacher kritisiert, weil er die Untersuchungen in Wiener Krankenhäusern ohne gesetzliche Basis erlaubte. Das Gesundheitsministerium hat es gewußt und mitfinanziert. Leider muß festgehalten werden, daß diese Studie an 200.000 Personen epidemiologisch wertlos ist. Sie ist ein Beispiel dafür, wie man solche Studien nicht machen darf! Die Daten sind schon wegen der Dynamik der Infektion an dem Tag, an dem sie präsentiert werden, nicht mehr aktuell und besagen nichts. Ein in der Epidemiologie bekannter Fehler ist, von Krankenhauspatienten Schlüsse auf die Durchseuchung der Bevölkerung zu ziehen.

Die Tests in Wien hätten an kleinen Gruppen der epidemiologisch als Risikobevölkerung Betrachteten wiederholt durchgeführt werden sollen: bei Homosexuellen, Drogensüchtigen, An-schaf f ungs- und regulären Prostituierten, Gefängnisinsassen, bei denen mit größeren und steigenden Konzentrationen der Positiven gerechnet wird. Das wäre billiger, schneller und aussagefähiger. Daß die Gesundheitsbehörden neben der Aufklärung auch ein rechtliches Instrument zur Verfügung haben sollten und ein Arzt im Krankenhaus oder in der Praxis alle Untersuchungen machen muß, die zur Klärung einer Krankheit notwendig sind, dürfte jedem einleuchten. Von Körperverletzung zu sprechen, wenn Blut untersucht wird, zeugt zumindest von einem groben Mißverständnis des Gesetzgebers. Aber man wollte sich dem,.Diskriminierungsvorwurf” nicht aussetzen und nahm die Behauptung widerspruchslos hin, die Gesundheitsbehörden seien außerstande, das ärztliche Geheimnis zu wahren.

Daß auch die obersten Gesundheitsbehörden die Gefahr nicht richtig einschätzten, ist beim bekannten Stand der Dinge nicht überraschend. Stadtrat Stacher hat zumindest Ansätze einer epidemiologischen Betrachtungsweise gezeigt, die bei vielen, die heute über Aids sprechen, entscheiden oder schreiben, nicht einmal ansatzweise vorhanden sind.

Die wichtigsten Fragen bleiben unbeantwortet: Was ist Verpflichtung und Aufgabe der Gesellschaft und des einzelnen gegenüber den Virusträgern und der Virusträger gegenüber der Gesellschaft? Ein bestimmter Teil der Risikogruppen zeigt suchtähnlichen Kontrollverlust im Sexualverhalten, der zur Bedrohung der Partner führen kann. Wo ist das Recht auf „informierte Zustimmung”, wenn jemand nichtsahnend in eine Risikosituation (wohlbemerkt, einer tödlichen Krankheit) gebracht wird? Genügt bloße Aufklärung, wo erfahrungsgemäß rationales Verhalten nicht zu erwarten ist, zum Beispiel bei Drogensüchtigen? Ist der Justizminister oder Gesundheitsminister verantwortlich zu machen, wenn Drogensucht und Sexualität zwischen „Positiven” und „Negativen” in Anstalten, die angeblich weder im Vollzug noch in der Therapie zu unterbinden sind, zur Infektion führen?

Wie auf ein Allheilmittel setzen die Behörden auf Kondome, Aufforderungen zu „safe sex”, Aufklärungsbroschüren und so fort. Sicher ist dies alles unbedingt notwendig und kann dazu beitragen, die Aids-Steigerungsraten zu verlangsamen, und man wird dies sicherlich als Verdienst werten, auch wenn wir unter den letzten Ländern Europas sind, die damit herauskamen. Aber es sind keine Allheilmittel — genausowenig wie die Verteilung von Freispritzen an Fixer.

Wir wollen annehmen, daß die auf die Homosexuellen spezialisierte „Aids-Hilfe” gute Arbeit bei jenem Prozentsatz, der sie aufsucht, leistet. Die „Aids-Hilfe” ist jedoch trotz aller Publizität nicht qualifiziert, mit den anderen Risikogruppen umzugehen. Drogensüchtigen, gefährdeten Prostituierten, Blutern und so fort. Man hört von dieser Seite emotionale bis schrille Töne der Ablehnung aller Ansätze, welche die konkrete interessierte Gruppe für sich selbst als nachteiüg empfindet. Meiner Ansicht sollten diese Selbsthilfegruppen eng mit jenen Stellen verknüpft werden, die die medizinische Betreuung der Patienten übernehmen und Erfahrung mit den psychosozialen Problemen bei anderen unheilbaren Kranken haben. Sie sollten sich vor allem in der Betreuung und praktischen Hilfe an Kranken und Sterbenden bewähren, und keinesfalls den praktischen Arzt ersetzen wollen.

Es wäre höchste Zeit, auch bei uns so wie in den USA und in vielen anderen Ländern über alle Möglichkeiten zu diskutieren, ohne sich kategorisch auf eine einzige Strategie zu begrenzen.

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