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Mit Gesetz gegen Aids

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Drei von sechs in Ungarn registrierten Aids-Kranken sind bereits tot. Die Zahl der Virusträger ist 1987 von 107 auf 139 gestiegen. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.

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Drei von sechs in Ungarn registrierten Aids-Kranken sind bereits tot. Die Zahl der Virusträger ist 1987 von 107 auf 139 gestiegen. Die Dunkelziffer ist weitaus höher.

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Obwohl Ungarn in den letzten Jahren landesweit medizinische Vorkehrungen getroffen hat, haben bisher nur wenige von der Möglichkeit einer freiwilligen Untersuchung Gebrauch gemacht.

Dies soll sich bald ändern. Eine kurz *vor Veröffentlichung stehende Verordnung des Gesundheitsministeriums sieht eine entsprechende rechtliche Regelung vor. Es geht da um die—juristisch keineswegs einwandfreie — Problematik des Schutzes von Gesellschaft und Einzelperson.

Einer Zwangsuntersuchung werden künftig alle unterworfen, die an Aids-verdächtigen Krankheiten leiden; sie wird ausgeweitet auf intravenös konsumierende Drogenabhängige, Geschlechtskranke, auf die Partner von Aids-Kranken und solche, die unter Hämophilie leiden; ferner auch auf Personen, die wegen eines Sexualdeliktes verurteilt wurden. Organ- und Blutspender, Spermaspender und Ausländer, die sich länger als 30 Tage in Ungarn aufhalten — ausgenommen Mitglieder des Diplomatischen Corps -, müssen sich ebenfalls einer Untersuchung unterziehen.

Ausgehend von der in Mitteleuropa besonders in Krisensituationen häufig auftretenden Denunziationswut der Bevölkerung — welcher Begriff im deutschen Sprachraum eher als „gesundes Volksempfinden“ bekannt ist -, war bei der Ausarbeitung der Verordnung die Frage strittig, ob der Staat das Recht habe, aufgrund der aus der Bevölkerung kommenden Anzeigen bestimmte Personen auf eine Untersuchung zu verpflichten. Es sei doch vorstellbar, daß Gefährdete ihrer Pflicht nicht nachgehen würden, so lautet ein Argument, dem allerdings mit Erfolg entgegengehalten wurde, daß die Bevölkerung weder befähigt noch berechtigt sei, Symptome ärztlich zu diagnostizieren.

Schließlich einigte man sich auf die Formel, die eine Voruntersuchung für jeden vorschreibt, bei dem sie „durch gesamtgesundheitliche Interessen“ berechtigt zu sein scheint. In der Praxis heißt das, daß Personen, die unter dem Verdacht strafbarer sexueller Handlungen — wie Prostitution oder Verkehr mit Minderjährigen — festgenommen werden, auf das Aids-Virus untersucht werden können.

Einen umstrittenen Punkt bildet jedoch die rechtliche Situation jener, bei denen eine dreifache Untersuchung die Virusposi-tivität nachgewiesen hat. Im Falle des fortgeschrittenen Stadiums werden solche Personen „in medizinische Versorgung genommen“. Auf jeden Fall erhalten sie aber eine Aufklärung genannte Belehrung darüber, womit sie im Falle der Nichteinhaltung der Rechtsvorschriften zu rechnen haben.

Das ungarische Strafgesetzbuch enthält nämlich Sanktionen für die Mißachtung der ärztlichen Anordnungen beziehungsweise für die bewußte Gefährdung des gesamtgesundheitlichen Wohles. Geahndet wird ein Lebensgefahr oder Tod herbeiführender Verstoß gegen das Gesetz mit einer Freiheitsstrafe zwischen zwei und acht Jahren.

Mit anderen Worten, es wird den Aids-Verdächtigen der Geschlechtsverkehr gesetzlich untersagt — eine Tatsache, deren wirksame Kontrolle genauso fraglich ist, wie die Verwirklichung der Bestrafung selber, es sei, man hat vor, spezielle Aids-Gefängnisse zu bauen.

Fraglich bleibt nach wie vor, ob es ausreicht, die gesetzliche Regelung nur auf das Phänomen der direkten Übertragung zu beschränken. Die Untersuchung des Wassers in den öffentlichen Dampfbädern der Hauptstadt ist zum Beispiel trotz Drängens mehrerer Experten bis dato nicht erfolgt. Und wenn es schon darum geht.eine gesamtgesellschaftliche Hysterie zu vermeiden, wäre es zweifelsohne ratsam, diesbezüglichen wilden Gerüchten mit Daten und Fakten entgegenzuwirken, bevor man Verordnungen ausarbeitet.

. Gesetzgeber und Kritiker sind sich allerdings in einem Punkte weitgehend einig, nämlich darin, daß die Lebensführung der Einzelperson und der Gesellschaft die wirksamste Garantie für Schutz und Vorbeugung bietet.

In bezug auf die sexuelle Revolution und ihre Folgen ist Ungarn wohl kaum hinter den modernen Industriegesellschaften zurückgeblieben. Der Grund dafür liegt hüben und drüben gleichwohl in der voranschreitenden Desintegration des Menschen, die sich in der zunehmenden Instabilität der menschlichen Beziehungen und der Entfremdung der Person von sich und der Gesellschaft äußert.

In einer Studie des hiesigen Institutes für Populationsforschung wurde vor kurzem die Problematik des Geschlechtsverkehrs unter Minderjährigen untersucht. Als besonders besorgniserregend fanden dabei die Autoren das sprunghafte Ansteigen der Abtreibungen bei Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren. Unter 1135 17jährigen und jüngeren Befragten hatten bereits 45 ihre zweite Schwangerschaftsunterbrechung hinter sich!

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