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Freiwillige Jugendhelfer gegen die Volksseuche

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In der von der internationalen Vereinigung für Kinderhilfe (Union Internationale de Secours aux Enfants) in Genf im Jahre 1923 verfaßten „Genfer Deklaration“, die ein Jahr später vom Völkerbund als Charta des Kindes anerkannt und in der Folge von allen Kulturstaaten angenommen wurde, anerkennen Männer und Frauen aller Völker, daß die Menschheit dem Kinde 'hr Bestes schulde und dem Kinde die normale körperliche und geistige Entwicklung ermöglicht werden müsse. Auch Österreich hat diese Charta formell angenommen. Wiewohl in diesen Menschenrechten des Kindes, die in kurze, prägnante Sätze zusammengefaßt sind, nichts enthalten ist, was nicht ohnedies im Bewußtsein und sozialem Gewissen jedes Menschen verankert sein müßte, teilte auch diese Charta das Schicksal vieler ähnlicher internationaler Vereinbarungen und blieb vielfach auf dem Papier.

Was in der Kriegs- und Nachkriegszeit an unserer Jugend insbesondere hinsichtlich ihrer gesunden sittlichen Entwicklung gesündigt wurde, wissen wir alle. Statt die Jugend vor schädlichen Einflüssen zu bewahren, wurde ihr vielmehr durch das schlechte Beispiel Erwachsener ganz offen Ärgernis gegeben. Jugendgerichte und Jugendämter können feststellen, daß der überwiegende Teil aller Verfehlungen Jugendlicher darauf zurückzuführen ist. Sowohl der Wiener Jugendgerichtshof, als auch das Grazer Jugendgericht, führt das unverhältnismäßig hohe Ansteigen der Eigentumsdelikte jugendlicher Personen nach dem Zusammenbruch nicht zuletzt auf das Absinken der allgemeinen Moral zurück, wie es sich damals in dem „Organisieren“ alles dessen, was man haben wollte, seitens der Erwachsenen manifestierte. Im großen und im kleinen, von Einzelpersonen und .von der Öffentlichkeit wurde auf die sittliche Gefährdung der Jugend nicht nur keine Rücksicht genommen, sondern immer wieder vieles getan und unterlassen, was auf sie den verderblichsten Einfluß nehmen mußte. Es ist ja so ungeheuer einfach, beim Lesen eines Gerichtssaalberichtes über die Straftat eines Jugendlichen über die .verderbte heutige Jugend“ den Stab zu brechen, ohne darüber nachzudenken, wie es dazu kommen konnte. Und doch sollten wir alle wissen, daß die Jugendkriminalität nichts Primäres, sondern nur eine Folgeerscheinung, eine Erscheinungsform der Jugendverwahrlosung, also eines Erziehungsmangels ist, für den der Jugendliche selbst am wenigsten Schuld trägt. Der große Jugendfreund und Jugendforscher Professor Dr. Heinrich Reicher hat diese Binsenwahrheit einst in die programmatischen Worte gekleidet: „Das Strafrecht des Staates fängt erst dort an, wo seine Erziehungspflicht aufgehört hat.“

Unter den Einwirkungen der so gefährlich tief abgesunkenen allgemeinen Moral und der damit oft im Zusammenhang stehenden Abnahme der Erziehungsfähigkeit der Familie, der durch den Krieg verursachten weitgehenden Familienzerstörung, unter den verderblichen Auswirkungen der Wohnungsnot, die Kinder und Jugendliche mit Erwachsenen in einem Raum zusammenpfercht und sie zu Zeugen aller Intimitäten dieser madit, weiter auch infolge der großen Arbeitslosigkeit unserer Jugend wachsen viele Großstadtkinder oft in Verhältnissen auf, die eine schwere Gefährdung ihrer gesunden sittlichen Entwicklung bedeuten. Zu alldem kommt noch die Tatsache, daß aus egoistischen, auf Gewinnsucht beruhenden Motiven, die sich oft mit „wirtschaftlichen Interessen“ rechtfertigen wollen, schrankenlos und ungehemmt weitere schwere Gefahren für unsere Jugend heraufbeschworen werden. Dazu gehören vor allem Schundliteratur und Schundfilm. Es gibt leider keine sichere Statistik darüber, wie oft sie direkt oder indirekt die Ursache eines Jugendverbrechens waren. Während hinsichtlich des Films durch die Überprüfung auf seine Eignung für Jugendliche und das verständnisvolle Entgegenkommen der Kinobesitzer, wie ich dies wenigstens für Graz erfreulicherweise feststellen kann, viel gebessert werden konnte, ergießt sich noch immer eine wahre Sintflut der übelsten Machwerke einer pornographischen Detektiv- und Abenteurer-„Literatur“ ungestraft auf unsere ohnedies so schwer gefährdete Jugend. Nach zahlreichen Warnungen, Forderungen und Anklagen in der Öffentlichkeit ist nunmehr auch auf diesem Gebiete in nächster Zeit durch die Anwendung des Jugendschutzgesetzes Wandlung zu erwarten.

Mit brauchbaren gesetzlichen Bestimmungen allein aber ist es nicht getan, wenn nicht gleichzeitig vorgesorgt wird, daß diese Bestimmungen auch möglichst lückenlos durchgeführt werden. Auf Grund der Erfahrungen, die wir nach dem ersten Weltkrieg machen konnten und in gleicher Weise auch heute machen, muß festgestellt werden, daß die Polizei allein dazu nicht imstande ist. Es hat daher schon die steirische Jugendschutzverordnung vom Jahre 1922 und ebenso die steirische Jugendschutzverordnung vom Jahre 1947 Bestimmungen aufgenommen, wonach zur Unterstützung der Polizei und der Jugendwohlfahrtsbehörden freiwillige Jugendhelfer herangezogen werden können. Das Grazer Jugendamt hat aber schon im Jahre 1920 auf Grund seiner Erfahrungen eine freiwillige Jugendaufsicht geschaffen, die ihm die wertvollsten Dienste geleistet hat. Nach dem Zusammenbruche war es eine seiner ersten Aufgaben, diese Jugendaufsicht wieder neu aufzubauen. Sie besteht nunmehr wieder seit 1946 und umfaßt heute fast 100 Männer und Frauen aller Berufsschichten und politischen Parteien, die nicht nur neben den Organen der Polizei in allen Grazer Lichtspieltheatern den Kontrolldienst versehen, sondern auch das Verhalten der Jugendlichen in Gaststätten, Tanzlokalen, Parkanlagen und auf den Straßen zu überwachen haben. Vor ihrer Einstellung werden sie hinsichtlich ihrer Eignung und Unbescholtenheit durch die Polizei genauestens überprüft. Sie erhalten eigene Legitimationen durch das Jugendamt, die sie als behördliche Personen nach 68 StG. erkennen lassen. Ein Teil von ihnen betätigt sich auch in Unterstützung der Fürsorgerinnen in den einzelnen Fürsorgebezirken, an der Durchführung der dem Jugendamte obliegenden Erziehungs- und Schutzaufsichten. Von Zeit zu Zeit stattfindende gemeinsame Besprechungen unter der Leitung des Jugendamtsdirektors sollen eine möglichst einheitliche Arbeit gewährleisten.

Die Erfahrungen, die wir bisher mit dieser freiwilligen Jugendaufsicht gemacht haben, sind durchaus befriedigend. Wir hoffen, daß diese unsere freiwilligen Jugendhelfer uns auch bei der Bekämpfung der Schundliteratur weitgehend unterstützen werden. Es ist selbstverständlich, daß das Jugendamt durch Zeitungsaufrufe und Radiovorträge das soziale Gewissen und den Helferwillen, die ja in einem nicht unbeträchtlichen Teile unserer Bevölkerung gottlob noch immer latent vorhanden sin, immer wieder wachrufen muß, um neue Kräfte zu gewinnen. Wenn auch die in Graz bestehende freiwillige Jugendauf-sidit noch einen Versuch darstellt, so ist dies doch ein Versuch, der bereits auf praktische Erfolge hinweisen kann. Bei der Beschränktheit der Zahl der sowohl der Polizei als auch den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Organe wird man die Mitarbeit freiwilliger Jugendhelfer auf die Dauer besonders in der Überwachung der Jugendschutzbestimmungen nicht entbehren können. Darüber hinaus scheint mir diese freiwillige Mitarbeit aber als eine Vorstufe des wohl nie ganz zu erreichenden Ideals, daß sich jeder Erwachsene für die Jugend mitverantwortlich fühlt und 'auch als Beweis dafür, daß der Dienst an der Menschheit und besonders an der Jugend eine Plattform bilden kann, auf der sich ohne Unterschied von Partei, sozialer Stellung und Weltanschauung alle Menschen treffen können, die guten Willens sind.

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