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In den „Arkaden“ Wien X.

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Sieben Uhr abends an einem der letzten Wochentage. Dunkelheit ist bereits eingebrochen. Über ausgebrannten Mauern des Wiener Südbahnhofes funkelt der erste Stern und auf dem Bahnkörper erglänzen grelle rote und blaue Signallichter. In der kleinen Holzbaracke der Bahnhof in ission gegenüber der Ankunft drängen sich Rückwanderer und Heimatlose aus Rumänien und Ungarn, meist Frauen, Kinder und Greise, Menschen, denen Hunger und seelische Not im Gesichte stehen. Jeder Tag bringt neue Scharen der Unglücklichen, nicht selten viele Hunderte. Zerlumpt, verschmutzt, oft mit wunden, eiternden Füßen. Kein lautes Wort tönt. Sogar die Kinder sind schweigsam. Sie huscheln sich an die langen dunklen Röcke der Mütter und schauen gespannt den Erwachsenen zu. Die wenigen Holzpritschen der engen Frauen-und Männerabteile der Baracke sind schon seit vormittags doppelt belegt. Die andern machen sich daneben auf dem Boden einen Platz für die Nacht. Der Helfer, ein zwanzigjähriger Hochschüler, spricht tröstend zu einer verzweifelnden Mutter. Die diensthabende Schwester der Mission gibt gerade die letzte Decke aus. Der Kasten ist leer, und fügsam entfernen sich die Bittenden, viele,haben nichts mehr erhalten. Alles ist ausgegeben. Neuankommende werden ins Meldebuch geschrieben, erhalten Rat und Weisung, wie sie es brauchen. Es ist ein Kommen und Gehen. Draußen, zwischen den Ruinen, sucht sich Platz, wer in draußen am Bahnhof!

Passanten hasten vorbei, elegante Autos hupen. Eben beginnen Theater, . Varietes, Kinos zu spielen, bald öffnen die Nachtlokale ihre Tore, Schieber und Schwarzhändler rüsten sich jetzt, ihre Abendruhe zu genießen. Wer denkt an das namenlose Elend der Heimatlosen, der immer wechselnden Scharen der grausam Enterbten da draußen am Bahnhof.

Vor der stillgewordenen Baracke trägt ein sechsjähriger magerer Bub sein schlaftrunkenes, dreijähriges Schwesterchen, das die Ärmchen um den Hals des Knaben schlingt, über Gerumpel und rostige Eisenstangen in die Notunterkunft der sogenannten „Arkaden“; die Bewohner stehen auch unter der Obhut der Mission. Es ist ein von Flüchtlingen freigeschaufelter Parterreteil der Südbahnruinen. In ihm hausen jetzt achtundsechzig deutsche Familien aus Rumänien bereits seit mehreren Wochen. Sie warteten bisher vergeblich auf eine Transportmöglichkeit. Sie stammen alle aus einem Dorf, wurden, als die Front näher kam, evakuiert, zogen, mit ihren Bauernwagen bis nach Oberösteitreich, von wo sie auf dem Rückwege in die Heimat nun mit dem geringen Rest ihrer Habe in Wien steckengeblieben sind. Mitleidig verhüllt Dunkelheit ihr Elendslager auf kaltem Stein unter Trümmern und armseligen Gepäckstücken. Was wird sein, wenn die Nächte kalt werden, Regenzeiten beginnen, die Fröste ... ?

Man stolpert beim Vortasten über schlafende Menschen. Hat sich das Auge an die Finsternis gewöhnt, so nimmt man die Umrisse kauernder Männer und Frauen wahr. Ein Stimmchen wird hörbar. Ein Kind bettelt leise um Brot..! Endlich blinkt ein Kerzenstumpf auf. Sein flackerndes Licht beleuchtet einen uralten Mann, der,' in eine fadenscheinige Decke gehüllt, auf den Steinen liegt und nicht zu bewegen war, seine Familie zu verlassen. Der Patriarch muß ein Neunziger sein. Die Sorge um die Seinen scheint ihn am Leben zu erhalten. Dicht daneben bettet eine Großmutter ihr Enkelkind, ein blondköpfiges Mädchen; die Eltern sind im Krieg umgekommen. Hier reicht eine Mutter ihrem kleinen Buben ein Stückchen Brot, das sie als Kostbarkeit in Seidenpapier gewickelt hat. Angezogen vom Licht, schaut ein Kind sehnsüchtig in die nun heller brennende Kerze, Jetzt greift sein Händchen, das schon lange keine Spielsachen gefühlt hat'', nach dem Licht und will spielen. Die Mutter verweist es. Folgsam senkt sich die Hand, aber das Flämmchen sprüht ein wenig auf, so wie eine Christbaumkerzej und ein Lächeln verklärt das Antlitz des Kindes. Mich würgt es an der Kehle. —

Die Schwestern erzählen, daß im vorigen Winter viele Transporte mit Hunderten von Halberfrorenen und vielen Toten eintrafen. Tag um Tag und Nacht um Nacht, noch heute Bilder des Elends, der Not und des helfenden Willens ohne Unterlaß. Hier ist das Arbeitsgebiet der Bahnhofmission. Wer weiß davon, außer der Polizei und den der Flüchtlingsfürsorge zugeteilten Beamten der Gemeinde Wien?

Auf den fünf Wiener Hauptbahnhöfen und auf den Stationen von Wiener Neustadt, St. Pölten, Wels, Linz, Attnang-Puchheim, Graz, Mürz-zuschlag, Salzburg und Inns-

Die scheußlichste Entheiligung des Ichs seit Beginn vielleicht der Weltgeschichte ist die moderne Form der Leibeigenschaft: Der Mensch nicht mehr Eigentümer seiner selbst, sondern das Eigentum des inappellablen Staats, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Ernährer und Hungervogt, Beichtvater, Erzieher, Verderber, Gewissensspitzel, Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworener und Henker in einer Person ist. Solange noch ein einziger Staat auf Erden diese unnatürliche, diabolische, seelentötende, charakterzerbrechende Macht ausübt, solange wird, ungeachtet der bestgeplanten Friedensschlüsse, der Weltkrieg in Permanenz herrschen. Darüber hilft uns keine opportunistische Heuchelei hinweg.

3 FranzWerfelin den „Theologumena brück übt die Schwesternschaft der „Caritas socialis“ ihr Liebeswerk aus. Obwohl ihre ursprüngliche Aufgabe der Schutz alleinreisender Frauen und Mädchen war, haben die blaugekleideten Sdiwestern sich in den Dienst für die Flüchtlinge, Heimatlosen, Verschleppten und Heimkehrer gestellt. Denn es muß doch irgenwo auf der Welt Menschen geben — sagen sie —, die sich um Hilfe bemühen für alle, jeder Nation, Konfession und jedes Standes, die in solcher Bedrängnis Hilfe brauchen.

Es läßt sich nicht statistisch ausdrücken, was hier diese stillen Schwestern in heroischer Selbstverständlichkeit für verlassene, hinausgestoßene, der Verzweiflung überantwortete Menschen leisten. Um aber doch eine Vorstellung zu vermitteln, seien hier Zahlen aus dem letzten Arbeitsbericht ihres Werkes (vom 1. Juli 1945 bis Ende 1946) entnommen. Unterkünfte wurden gewährt: 3124 in Wiener Neustadt, 494 in St. Pölten, 76.036 in Attnang-Puchheim, 24.965 in Linz, 12.538 in Graz, 10.544 in Salzburg, 10.074 in Innsbruck. Verpflegsportionen wurden ausgegeben: 1618 in Wiener Neustadt, 885 in St. Pölten, 56.474 in Graz, 85.388 in Salzburg, 8878 in Innsbruck. Dazu kommen noch tausende Auskünfte, Telephonate, Hilfe bei Großtransporten, Ausgabe von Suppe, Kaffee und Brot, Spenden von Babywäsdie und noch viele andere Liebesgaben. Freilich ist alles noch viel zuwenig — man hat nicht mehr. Die Wiener Bahnhofmissionen erteilten in dem Berichtsjahr 102.057 Unterkünfte, 368.739 Verpflegsportionen, vermittelten 2100 Stellen und 5083 Spitalsunterbringungen, spendeten 30.359 Kleider. 35.905 alleinreisende Mädchen und Frauen wurden beschützt und beraten. Die Zahlen erhöhen sich bis heute um ungefähr fünfzig Prozent.

Was zur Bekämpfung dieser Nor geschieht, ist bewundernswert. Nicht weil es imstande wäre, auch nur den größeren Teil dieser Notstände wirklich zu beheben, sondern weil es mit so namenloser Bescheidenheit und Selbstlosigkeit geschieht. Wer wird unter den Mensdien einmal diesen Schwestern und ihren freiwilligen Helferinnen und der kleinen Schar von Hochschülern, die sich alle aus geschwisterlicher Liebe für arme Mitmenschen diesem schweren Dienst gewidmet haben, danken können? Es ist eine Welt tiefster Not, in der sich die Arbeit der Bahnhofmission vollzieht, eine Welt, in der sich die Grausamkeit eines an Abgründen dahintaumelnden Zeitalters offenbart. Aber auch in dieser Finsternis leuchtet eine tröstende Ge:talt: der Engel der chrisdichen Nächstenliebe.

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