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West- und Mitteleuropa

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Innerhalb Europas stehen sich der Westen, Italien inbegriffen, und die Mitte des Kontinents als in ihrer Haltung und in ihrem Denken gegensätzliche Potenzen gegenüber. Lassen wir die unzulänglichen Erklärungen aus Blut und Rasse beiseite. Nationen bilden keine im Laufe , der Geschichte gleichbleibenden Größen, sind Produkt, nicht Voraussetzung des geschichtlichen Lebens. Außerdem verhinderten die nationalen Unterschiede keineswegs die Bildung eines westeuropäischen Zivilisationsbewußtseins. Zweifellos ist der Westen tiefer durch Antike und römisches Recht, durch Renaissance und Humanismus in seinem geistigen Habitus geformt als etwa die Mitte Europas. Ein objektivierter Ausdruck dieser westlichen Kulturgemeinschaft ist die lateinische Humanistenschrift, die sich im 16. und 17. Jahrhundert dort allgemein durchsetzte, während Deutschland an der aus der gotischen Schrift des Mittelalters kommenden Kurrentschrift festgehalten hat. Für die Erklärung der Gegensätzlichkeit zwischen dem Westen und der Mitte Europas müssen wir aber weiter zurückgehen als in das 16. Jahrhundert, das im Protestantismus den ersten Ausfallsversuch der Mitte aus der europäischen Kulturgemeinschaft gebracht hat.

Seit im 11. und 12. Jahrhundert ein reicheres, nuancierteres geistiges Leben in Europa aufbrach, bestand ein Unterschied allein schon im Rhythmus des wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens. Man spricht daher im Mittelalter von einem west-östlichen Kulturgefälle. Die Mitte bewegte sich immer langsamer. England und Frankreich hatten ihre sozialen Revolutionsversuche bereits im 14. Jahrhundert, Deutschland die seinen im 16., Handel Und Industrie haben im Westen bereits im 11. und 12. Jahrhundert zu einer neuen gesellschaftlichen Differenzierung geführt, die neuen kulturtragenden laikalen Schichten des niederen Adels und des Bürgertums entwickelten sich am Rande Europas früher und rascher als in der Mitte. Im Westen, besonders in Italien, wurde zuerst nicht nur die wirtschaftliche Kleiti-räumigkeit des grundherrschaftlichen Systems mit seiner sozialrechtlidien persönlichen Unfreiheit überwunden, sondern mit Hilfe der Antike auch die germanisch-rechtlich orientierte feudale Zivilisation durchbrochen. Westeuropa, vor allem Italien, durchstieß relativ früh das Prinzip des Wirtschaftens im kleinen Räume, erschloß sich durch Schiffahrt und Fernhandel neue wirtschaftliche Betätigungsfelder im Bereiche anderer, überlegener Kulturen und gewann dadurch die Möglichkeit fruchtbringender Begegnungen und Auseinandersetzungen. Frankreich und Flandern wurden schon im 12. Jahrhundert Treffpunkte des Nord-und Südhandels, Flandern, Nordfrankreich und die Lombardei bildeten sich zu Zentren einer Tuchindustrie internationalen Ausmaßes aus, der einzigen des Mittelalters. Italien wurde die Heimat des internationalen Geld- und Kreditgeschäftes. Am Rande Europas entwickelte sich neben den Zünften und gegen sie der spätmittelalterliche Kapitalismus, welcher der Wirtschaft starke Impulse gab und sie aus der Enge der zünftigen/ Stadtwirtschaft hinausführte. An dem großen industriellen Aufschwung des 12. und 13. Jahrhunderts hat die Mitte Europas zunächst keinen oder nur einen geringeren Anteil. In das internationale große Wirtschaftsleben drangen die Deutschen seit dem 12. Jahrhundert durch die Hanse ein, aber diese verlor bereits im späten Mittelalter das früher innegehabte Monopol des Nordseehandels an die Holländer und später an die Engländer, wobei sich der Handelsreichtum der Hanseaten nicht mit dem der Italiener messen konnte. Seit dem 15. Jahrhundert trat in den Kampf um die Märkte Europas England für seine Tuchindustrie als scharfer Konkurrent auf.

England und Frankreich kannten auch zuerst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Anfänge einer Wirtschaftspolitik im Sinne der Intervention des Staates zum Schutze gegen ausländische Konkurrenz und einer staatlichen Förderung, einer Art Planung im größeren Räume eines großen Wirtschaftsterritoriums, während das Interesse der mittelalterlichen Stadtwirtschaft im allgemeinen nur auf die Stadt und ihr Vorland sich erstreckt hatte. Zum ersten Male wurde in Europa am Hofe Karls V. von Frankreich nach der Mitte des 14. Jahrhunderts über Wirtschaft theoretisiert. Noch im 17. und 18. Jahrhundert waren England und vor allem Frankreich die Länder der klassischen Wirtschaftstheorie, wie der des Merkantilismus und des Physiokratismus. Deutschland holte erst wesentlich später, man kann sagen letztlich erst im 19. Jahrhundert, vielleicht allzu rasch den gewaltigen wirtschaftlichen und industriellen Vorsprung des Westens ein, nachdem es auch in der Wirtschaftspolitik weit hinter seinen westlichen Nachbarn zurückgeblieben war.

Der Westen war also seit dem hohen Mittelalter viel stärker am rein Wirtschaftlichen interessiert als die Mitte Europas, und daraus resultierte nicht nur ein größerer Wohlstand, eine beträchtlichere Geschmeidigkeit des gesellschaftlichen Rahmens, sondern auch ein anderes, sagen wir realistisches Denken und eine andere Art der Einschätzung und des Kalküls mit Vermeidung des Extremen auf der Basis der Erfahrung — die raison, der commonsens.

Der sogenannte „deutsche Idealismus“ mit seiner Ausschaltung des empirischen Moments, im Bereiche des Soziologischen der strenge Kastengeist, lassen sich aus der wirtschaftlichen und soziologischen Andersartigkeit der Mitte Europas im Vergleich zum Westen erklären. Letztlich ist auch der Nationalsozialismus noch Sache eines romantischen, wirklichkeitsfremden „Idealismus“ gewesen, die Travestie der Sehnsucht nach der blauen Blume der Romantik, außenpolitisch ein tragisches Versagen der Kunst der Berechnung.

Für das feindliche, „idealistische“ Auseinanderklaffen von Geist und Realität ist allein der Gebrauch des Wortes civi-lisation, beziehungsweise Kultur kennzeichnend. Zivilisation umfaßt nicht nur den Begriff der geistigen, sondern auch der materiellen Kultur, der gesamten menschlichen Lebenshaltung, der Wortinhalt ist sich der Zusammengehörigkeit geistiger und materieller Momente bewußt, während Kultur für uns doch einen rein oder zumindest mehr geistigen Gehalt hat. Die idealistische Aufspaltung von Geist und materieller Bedingtheit hat im deutschsprachigen Raum bis zur Bildung des Wortes „Geistesgeschichte“ und einer unmöglichen Disziplin dieses Namens geführt. Das Wort wäre weder in das Französische noch in das Englische sinngemäß zu übersetzen.

Die sogenannte „Geistesgeschichte“ neigt zu Konstruktionen im luftleeren Raum, als ob man den Geist von seinen soziologischen Trägern und materiellen Bedingtheiten trennen könnte, als ob es ein wurzelloses geistiges Wirken gäbe, die geistige Entwicklung nur im Kampffelde großer, für sich stehender Individuen zu suchen wäre. Die in den italienischen und flandrischen Städten im hohen Mittelalter wachgewordene Idee der bürgerlichen Freiheit ist ohne die wirtschaftliche Vorrangstellung dieser Gegenden undenkbar, der in den Städten aufdämmernde Geist der individuellen Freiheit ohne die Existenz der tatsächlich existierenden Freiheit der Städter unvorstellbar. Man sollte von einer Idee der Freiheit niemals ohne soziologischen Zusammenhang mit den Trägern dieser Idee sprechen. Wenn seit dem 12. Jahrhundert der Gedanke der persönlichen Freiheit immer stärker durchschlägt, so ist das nicht allein ein kämpferisches Erleben einzelner großer Denker, sondern es ist zugleich eine soziologische Erscheinung allgemeiner Art. Die Menschen wurden eben im größeren Maße frei (Bauernbefreiung im Westen, zum Beispiel Flandern kannte schon Mitte des 14. Jahrhunderts keine bäuerliche Unfreiheit mehr), und darum konnte die Idee der Freiheit ausgebildet und zu einer wirkenden Kraft werden. Aber die Idee war nicht da, bevor es soziologisch greifbare Träger dieser Idee gegeben hat.

Die westliche Geschichtsschreibung hat darum den Mut zum scheinbar Banalen und kennt nicht den Hochmut der sogenannten Geistesgesdiichte. Ein Marc Bloch hat über die Entwicklung der bäuerlichen Schichten in Frankreich ebenso interessant geschrieben wie über die wunderwirkenden Könige. Aus letzterem Thema wäre bei uns leicht ein „geistesgeschichtliches“, abstraktes oder psychologisches geworden. Oder ein anderes Beispiel: Der englische Kulturhistoriker

Toynbee wagte die scheinbar banale Behauptung, daß man die Kulturgeschichte der griechischen Staatenwelt unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Lösungen der Nahrungsmittelbeschaffung für die eintretende Überbevölkerung sehen müsse. Für die westeuropäische Geschichtsschreibung steht längst fest, daß gewisse Wandlungen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung im 12. Jahrhundert nur aus der steigenden Bevölkerungskurve zu verstehen sind, wie das Wachsen der Städte, die neue Art des freien Wirtschaftens auf den Zisterziensergütern (Grangien), die Intensivierung des Handels, der Landwirtschaft und der gewerblichen Erzeugung, ja sogar das allmähliche Werden des modernen Staates, der staatlich durchorganisierten Fläche eines ganzen Territoriums. Daß die Bevölkerungsstatistik, die reine Finanz- und Verwaltungsgeschichte in der westlichen Historiographie stärker als bei uns betont wird, hängt allerdings auch mit der günstigeren Quellenlage zusammen, weil die im Vergleich zur Mitte fortgeschrittenere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Organisation des Westens eben einen entspredienden archivalischen Niederschlag gefunden hat. Das gleiche gilt für die Gesdiichte der einzelnen Klassen. Es bleibt ein Wunsch, für die Mitte Europas jene Harmonie zwischen Geist und materiellem Substrat zu finden, die dem Westen durch eine günstigere historische Entwicklung gleichsam in den Schoß gefallen ist. Vorläufig scheinen wenig Ansätze dazu vorhanden. Gerade in Mitteleuropa wird das natürliche Gleichgewicht zwischen Geist und materiellen Bedingungen verständnislos zerstört — die soziologischen Folgen werden nicht ausbleiben.

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