Staunen über neues China

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Asien-Redakteur Sven Hansen kehrt nach sieben Jahren an seinen früheren Korrespondentensitz zurück - und reibt sich angesichts der Riesen-Veränderungen im Riesen-Reich die Augen.

Der Nachmittagsflug von Peking ins drei Flugstunden entfernte Urumqi verspätet sich. Erst legt ein über die Hauptstadt fegender Gewittersturm den Flughafen lahm. Als das Unwetter endet, sorgt ein Notfall im Jet für neue Verzögerungen - alle Passagiere müssen aussteigen. Wann und wie es weitergeht, erfahren wir nicht. Abgespeist werden wir mit Wasser und pampigem Reis. Kundeninformationen? Fehlanzeige. Bei Air China fühlt sich niemand für gestrandete Passagiere zuständig. Es grüßt das alte China. Bei dem waren Kunden eine rechtlose Masse. Der Flughafen hingegen ist hypermodern. Das größte Terminal der Welt wurde vom Stararchitekten Norman Foster entworfen. Altes China im neuen Terminal.

Irgendwann geht es weiter. Ich habe ein Fahrrad im Gepäck, der Zielflughafen ist 30 Kilometer außerhalb und ich kenne mich in der Stadt nicht aus. Ein junger Chinese in Markensportkleidung, mit dem ich in Peking die Wartezeit verbracht habe, bietet an, mich in die Stadt mitzunehmen. Er studiert in England, und seine Eltern holen ihn ab. Die Eltern fahren einen neuen BMW-Geländewagen. Für den Transport des Rads müssen wir nicht einmal die Rückbank umklappen. Dafür klettert das Schoßhündchen der Familie auf mir herum. Neureiches China, freundliche Menschen.

Fahrradfahren war einmal

Zwei Wochen zuvor hat mir in Qingdao - einst deutsche Kolonie, heute Chinas drittgrößte Hafenstadt und Austragungsort der olympischen Segelregatten - jemand erzählt, die Lokalregierung habe im Stadtzentrum das Radfahren verboten. Fahrräder hielten nur den Verkehr auf. Und will ich bei einer Chinesin landen, so sein Rat, muss ich im Auto vorfahren. "Als Fußgänger oder Radler hast Du keine Chance." Neues China, materialistisches China.

In Peking, einst Hauptstadt radelnder Massen, sind heute mehr Autos als Fahrräder zu sehen. Wegen der Staus geht es trotzdem nicht schneller. Nicht nur in Peking, Hangzhou oder Qingdao, auch in Xinjiang oder Gansu fällt auf, dass es kaum alte Fahrzeuge gibt. Stattdessen ist alles neu, und das gilt auch für die Straßen - selbst in abgelegenen Regionen.

1997 bekam ich einmal in einem Pekinger Taxi Kopfschmerzen, weil eine marode Benzinleitung ins Fahrzeuginnere dünstete. Und in Nanjing begann ein Taxi ab Tempo 60 so zu rumpeln, dass ich mich fürchtete. Heute kommt in vielen Taxis auf Knopfdruck eine Quittung aus dem Taxameter. In Taxis und Bussen gibt es Flachbildschirme mit Werbung und News. In Pekings U-Bahn weichen die Fahrkartenverkäufer elektronischen Smartcards. Modernstes China.

Der Modernisierungsschub erstreckt sich auch auf die Bauten. Viele gekachelte Gebäude, die erst in den 1980er Jahren errichtet wurden, werden wieder abgerissen und durch modernere, größere und schönere ersetzt, zumindest nach dem chinesischen Geschmack. Selbst im hintersten Xinjiang fallen viele Kleinstädte durch neue Hauptstraßen samt extravaganten Straßenlaternen und protzige Verwaltungsgebäude auf. Und noch nie habe ich so viele Leute mit schicken i-Phones gesehen wie in Peking. Lange suchen muss man dagegen nach Männern im Mao-Anzug. Dieses alte China ist so gut wie ausgestorben. Chinesen sind heute nicht nur chic gekleidet, sondern gebildet, weltgewandt und selbstbewusst. Auch im Umgang mit westlichen Journalisten gibt es wenig Hemmungen. "Natürlich bin ich stolz, Chinesin zu sein. Das ist meine Pflicht. Wir sind so reich, die Regierung gibt uns alles, was wir brauchen, und wir beeinflussen die Welt. Wenn wir unsere Exporte stoppen würden, würde das auch euer Leben in Europa beeinflussen", sagt eine Anglistik-Studentin bei einem Treffen mit ihren Kommilitonen vom "Zhejiang Future Entrepreneur Club" in Hangzhou. Sie steht für Chinas junge und ehrgeizige Generation, die sich heute selbstbewusst der Welt präsentiert, wenngleich vielleicht nicht so, wie wir das gern hätten.

Karriereorientierte Jugend

Chinas Studenten nehmen sich kein Blatt vor den Mund. Ohnehin kommunizieren Chinesen viel offener und direkter als zum Beispiel Japaner. Eine befreundete Professorin einer Tokioter Eliteuniversität sagte mir, ihre chinesischen Studenten sprächen nicht nur besser englisch als ihre japanischen, sondern seien auch politischer und kritischer.

Dank relativer Freiheit im Internet ist Chinas Jugend die best informierte seit Jahrzehnten. Eine neue studentische Demokratiebewegung ist jedoch nicht in Sicht, die Jugend heute ist nationalistisch und karriereorientiert. Das zeigt sich auch am "Future Entrepreneur Club". Er dient nicht als Tarnung für heikle Diskussionen über politische Reformen, sondern der Karriere. Neues China, ehrgeizige Menschen.

"Wir werden siegen!"

Eine ständig wiederholte Schlüsselsequenz im chinesischen Fernsehen zeigt eine Rettungsszene nach dem Erdbeben im Mai. Helfer tragen eine Person auf einer Bahre einen Hügel hoch. Die Ikonografie erinnert an das berühmte Foto aus dem Zweiten Weltkrieg, als US-Soldaten bei der Einnahme der Pazifikinsel Iwo Jima auf einem Hügel ein Sternenbanner hissen. "Wenn wir als Nation zusammenstehen, werden wir siegen", so die implizite Botschaft. Ein China, heldenhaftes China.

Dieses Zusammenstehen muss allerdings geübt werden, findet zumindest die Partei. In der von ihr propagierten "harmonischen Gesellschaft" darf nichts dem Zufall überlassen werden. Pekings olympische Spiele, die schon seit Monaten mit ihren Emblemen und Maskottchen landesweit den öffentlichen Raum komplett dominieren und - noch verstärkt durch die kommerzielle Werbung - fast schon als Gehirnwäsche daherkommen, sind höchste Bürgerpflicht. Wer die Spiele mit spontaner Freude assoziiert, verkennt Chinas Kommunisten. Selbst in einem Ort wie der Seidenstraßenstadt Dunhuang mit 190.000 Einwohnern in der Provinz Gansu, wo nun wirklich keine Proteste zu befürchten sind, lassen die Behörden an einem Samstag Zehntausende bei großer Hitze antreten, um den Fackellauf zu üben.

Die halbe Stadt ist abgesperrt, überall stehen Schüler, Studenten, Beamte in Olympia-Shirts gelangweilt an der Strecke herum und werden von der Polizei immer wieder auf Trab gebracht. "So etwas gibt es wohl nur in China," stellt ein Mann im Publikum kopfschüttelnd fest. Doch als ein Läufer mit einer Plastikattrappe der Fackel vorbei läuft, bleiben die Menschen erstaunlich ruhig. Weder Jubel, noch Pfiffe. Sie wissen genau, was gespielt wird. Neues China, armes China.

Der Autor ist Asienredakteur der "taz" in Berlin; 2007 hat er für die deutsche Ausgabe von "Le monde diplomatique" das Themenheft "China: verordnete Harmonie, entfesselter Kapitalismus" herausgegeben.

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