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Drama in der Diaspora

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Die Tragödie der Wiener Tschechen widerspiegelt sich nirgends so deutlich wie in den amtlichen österreichischen Statistiken, wo das wechselvolle. Schicksal dieser Minderheit seinen beredten Niederschlag findet. An Hand dieser Statistiken kann man ohne weiteres beweisen, daß Wien um die Jahrhundertwende tatsächlich eine der größten tschechischen Städte war. Doch eben darin liegt die tragische Entwicklung dieser Minderheit, die heute offiziell nur noch einige tausend Seelen zählt.

Im Jahre 1910 wurden in den 21 Wiener Gemeindebezirken noch 98.461 Oesterreicher mit böhmisch-mährischer und slowakischer Umgangssprache gezählt. Hierzu kommt noch, daß selbst der Deutsche Schulverein Südmark in einer Broschüre, die unter dem bezeichnenden Titel „Die tschechische Irredenta in Deutschösterreich“ im Jahre 1928 in Graz erschienen ist, loyalerweise anerkannte, daß die Zahl der Personen tschechischer Herkunft im Jahre 1910 bedeutend größer war, als in der amtlichen Statistik nachgewiesen wurde. Begreiflicherweise wurde die Richtigkeit der, Volkszählungsergebnisse in Oesterreich von tschechischer Seite mit dem Hinweis bezweifelt, daß jeweils nur. die Umgangssprache und nicht die in Oesterreich anwesenden Personen, sowohl Staatsbürger als auch Fremde, statistisch erfaßt wurden, die in tschechischer oder slowakischer Sprache denken und diese Sprache am geläufigsten sprechen, Trotz vielen Vorbehalten wollen wir aber bei den amtlichen Statistiken bleiben, weil sie nun einmal für die Beurteilung der zahlenmäßigen Stärke einer Minderheit die einzig mögliche und vernünftige Diskussionsgrundlage darstellen. Bei den Wahlen im Jahre 1919 entfielen trotz Massenabwanderung noch immer fast 65.000 gültige Stimmen auf eine tschechische Kandidatenliste. Vier Jahre später registrierte man allein nur in Wien 81.344 Tschechen inklusive 2066 Slowaken. Die nächste Volkszählung, die im politisch bedeutsamen Jahr 1934 durchgeführt wurde, brachte unter anderem eine kleine Sensation. In ganz Oesterreich wurden damals nur noch 51.866 Tschechen ermittelt, davon entfielen auf Wien bloß 39.795. Die Okkupation Oesterreichs durch Hitler, der zweite Weltkrieg und die Unsicherheit der ersten Nachkriegsjahre sind an der tschechischen Minderheit nicht spurlos vorübergegangen.

Der Schrumpfungsprozeß, der durch eine ständige Abwanderung, schnellere Assimilation und nach dem Krieg durch eine planmäßig betriebene Reemigration rasche und durchaus unerwünschte Fortschritte machte, war in den folgenden Jahren nicht mehr aufzuhalten. Bei der ersten Volkszählung, die im Jahre 1951 in einem wieder freien Oesterreich stattfand, trat ein wenn auch in diesem Ausmaß sicher nicht erwartetes Ergebnis besonders in Erscheinung: die Zahl der Wiener Tschechen war auf 3950 abgesunken! In ganz Oesterreich waren es nur noch 4875 Tschechen und 682 Slowaken. Nur wenige waren sich dessen bewußt, daß sich hier eine Tragödie einer Minderheit vollzogen hatte, und es ist heute noch ungewiß, ob die Wiener Tschechen aus eigener Kraft noch jemals imstande sein werden, die einstige unbestreitbare kulturelle Bedeutung wiederzuerlangen.

Berühmte Wiener Tschechen — berühmte Österreicher

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte Wiens die Tatsache, daß zu allen Zeiten, in den schlechten als auch, in den euten.viele Tschechen oder „Böhaimer“, wie man sie damals nannte, in Wien ansässig waren. Die wenigsten dürften heute wissen, daß der mährische Baumeister Sebastian C e r t maßgeblichen Anteil daran hatte, daß die Türken im Jahre 1529 die Belagerung Wiens nach langen verlustreichen Kämpfen erfolglos abbrechen mußten. Im Jahre 1683 war es der tschechische Adelige Kaspar Zdenek von S u 1 e v i c, der Wien vor den Türken erfolgreich verteidigte. Später waren es auch viele Aerzte tschechischer Herkunft, die erst in Wien weltberühmt wurden. Es waren dies unter anderen Karl Rokitansky, Josef Skoda, Eduard Albert und mit einigem Abstand Dozent Dr. Josef D r o z d a.

Interessant ist auch das Schicksal des tschechischen Forschers Dr. Emil H o 1 u b, der in seiner engeren Heimat für seine geplanten Reisen kein Verständnis fand. Erst die tatkräftigste Unterstützung diverser Wiener Stellen, vor allem der Geographischen Gesellschaft, ermöglichten es ihm, seine Afrikareisen durchzuführen, denen auch ein voller Erfolg beschieden war. Er hat über diese Reisen auch mehrere Bücher geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Seine Witwe lebt heute noch hochbetagt in Wien.

Unter den Wiener Tschechen finden wir auch eine große Anzahl weltberühmter Künstler, Maler, Bildhauer und Architekten, die sich mit ihren Werken auch in Wien ein bleibendes Denkmal gesetzt haben. Einer von ihnen war der Baumeister Hlävka, der in Wien studierte und dessen Karriere auch hier seine Krönung fand. Die Votivkirche und die Wiener Börse sind zum Teil nach seinen Plänen gebaut worden. Zuletzt baute er im Jahre 1861 nach den Plänen von van der Null und Siccardsburg die Wiener Hofoper am Ring. Mehr noch als die tschechischen Schriftsteller, die in Wien gelebt und gearbeitet haben, haben die tschechischen Komponisten zur Weltgeltung Wiens als Musikmetropole einiges beigetragen. Es sei hier nur an Franz Drdla, Oskar Nedbal und Josef B. Förster erinnert. Auch Smetanas „Verkaufte Braut“ trat erst von Wien aus ihren Siegeszug um die Welt an.

Das Ende des ersten Weltkrieges brachte auch für die tschechische Minderheit grundlegende Aenderungen mit sich. Mehr als 100.000 ehemalige Wiener Tschechen kehrten damals in ihre Heimat zurück. Vorerst schien es, als ob im Chaos der ersten Nachkriegsjahre auch die tschechische Minderheit völlig untergehen würde. Ueberraschenderweise machte aber die Konsolidierung der Minderheit rasche Fortschritte. Es traten neue Männer hervor und einer von ihnen war auch Dr. Jilji Jahn, der Schöpfer des tschechischen Nachkriegsschulwesens in Wien. In diese Zeit fällt auch die Hochblüte der tschechischen Publizistik in Wien. So erschienen hier nicht nur unzählige Zeitschriften, sondern auch zwei bedeutende Tageszeitungen, das bürgerliche Wiener Tagblatt (Videtisky denik) und die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung (Del-nick£ listy), die wohl unter einem geänderten Titel bis zum Jahre 1941 erscheinen konnte, bis auch sie verboten wurde. Das bürgerliche Blatt war schon der schweren Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre zum Opfer gefallen. Unter den Kulturzeitschriften nahm die Revue „Dunaj“ (Die Donau) einen führenden Platz ein. Diese Zeitschrift, die für jeden ernsten Viennensia-forscher eine wahre Fundgrube darstellt, erschien fast 20 Jahre und wurde von dem bekannten Dichter Frantisek M e 1 i c h a r alias Oldfich Vojen redigiert. Neben dem tschechischen Schulwesen und der tschechischen Presse zählten auch die vielen Vereine zu den Stützen der Minderheit, von denen manche heute auf einen neunzigjährigen Bestand zurückblicken können. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, wollte man das Wirken dieser Vereine, die sich ohne Ausnahme Oesterreich gegenüber loyal verhielten, eingehend beleuchten. Allerdings wurde : diese verheißungsvolle Entwicklung durch den Einmarsch Hitlers jäh unterbrochen. Vereine wurden verböten, Zeitungen eingestellt und zu allerletzt auch das tschechische Schulwesen Zug um Zug liquidiert. Doch die Wiener Tschechen waren auch damals nicht geneigt, diese Entwicklung widerspruchslos hinzunehmen. Sie bildeten eigene Widerstandsgruppen und kämpften mit vielen Oesterreichern gemeinsam gegen die Tyrannei. Einige Dutzend Wiener Tschechen sind in diesem erbarmungslosen Ringen nicht zuletzt auch für ihre Wahlheimat Oesterreich gefallen.

Das Ende des zweiten Weltkrieges, traf die Wiener Tschechen keinesfalls unvorbereitet. Schon im April 1945 konstituierte sich in Wien ein Nationalausschuß, der von Anfang an mit den tschechischen Zentralstellen in Prag in ständiger Verbindung stand und der die Aufgabe übernahm, die Wiener Tschechen in ihrer Gesamtheit in die CSR-zu repatriieren. Mehr als 10.000 Wiener Tschechen erlagen in den ersten Nachkriegsjahren diesem wohlvorbereiteten und systematischen Propagandafeldzug und entschlossen sich zur Rückkehr in die Tschechoslowakei, ein Schritt, den viele von ihnen später noch bitter bereuen sollten. Allerdings wurden auch damals warnende Stimmen laut, die die Liquidation der tschechischen Minderheit im Zuge einer überstürzten Repatriierung für einen gefährlichen Unsinn hielten. Auch die Wiener Regierung war über diese Entwicklung bestürzt. Der kommunistische Prager Februarputsch im Jahre 1948 brachte auch in dieser Frage eine endgültige Entscheidung. Plötzlich erkannte man, daß die Repatriierung ein großer Fehler war. Die inzwischen eingetretenen Verluste konnten aber nicht mehr wiedergutgemacht werden. Während die jüngere Generation fast zu 80 Prozent dem Rufe Prags gefolgt wari erwiesen sich die älteren Volksgruppenschichten als standhafter, da sie sich nicht so schnell entschließen konnten, ihre Wahlheimat Wien zu verlassen, mit der sie, auch wenn sie es zeitweise nicht wahrhaben wollten, tief verwurzelt waren. Das Jahr 1948 brachte aber noch eine weitere wichtige Klärung. Die Kommunisten wurden aus allen demokratischen Organisationen entfernt und gründeten den angeblich unpolitischen Verband österreichischer Tschechen und Slowaken, der heute allgemein richtig als das angesehen wird, was er in Wirklichkeit ist: ein willfähriges machtpoljti-sches Werkzeug der Prager Kommunisten. Man darf allerdings nicht vergessen, daß dieses Instrument, das fremde Interessen verfolgt, kaum gefährlich werden kann, da diese kommunistische Organisation, die mit tschechischen Geldern versorgt wird, kaum 7 bis 8 Prozent aller Wiener Tschechen in ihren Reihen vereinigt. Wohlweislich haben die Kommunisten es bisher unterlassen, genaue Mitgliederzahlen ihres Verbandes zu veröffentlichen. Unbestritten soll aberder dominierende Einfluß der Kommunisten au?die hiesigen Komensky-Schulen aufgezeigt werden. Doch haben auch hier die Kommunisten nur eine geringe Möglichkeit, ungehindert ihrer zersetzenden Wühlarbeit nachzugehen, da für diese Schulen, die auch von Kindern nichtkommunistischer Eltern besucht werden, die österreichischen Lahrpläne verbindlich sind.

Der weitaus überwiegende Teil der tschechischen Minderheit ist heute in dem antikommunistischen Minderheitsrat vertreten, dem fast alle bedeutenden Organisationen angehören. So die katholischen Vereinigungen, die Tschechoslowakische Sozialistische Partei in Oesterreich, auch der traditionsreiche St.-Methodius-Verein, der Verband „Barak“, die Turnvereinigung „Sokol“, der Verband tschechischer . Kaufleute und Gewerbetreibender, die Wohlfahrtsorgani sation „Ceske srdee“ und viele andere mehr. Die schweren Verluste der letzten Jahre haben zwei einstige wichtige^ Säulen der tschechischen Minderheit fast gänzlich ruiniert: das Schulwesen ist so gut wie ganz in kommunistischer Hand und die Presse so gut wie überhaupt nicht vorhanden. Das einzige demokratische Wochenblatt „Videfiske Svobodne listy“ kann heute, von den finanziellen Schwierigkeiten abgesehen, nur die Funktion eines verbindenden Vereinsblattes erfüllen.

Allen Schwierigkeiten zum Trotz sind aber die Wiener Tschechen auch heute noch auf kulturellem Gebiet nach wie vor rührig. Diese kulturellen Bestrebungen werden noch durch ein Netz von kleinen tschechischen Bibliotheken unterstützt, die fast in jedem Wiener Bezirk zu finden sind..Leider ist die große Komensky-Bibliothek mit ihren fast 40.000 Bänden und einem wertvollen und unersetzlichen Minderheitsarchiv in den Wirren der Nachkriegsjahre in alle Winde zerstreut worden. Aber auch das Theater hat noch für die Wiener Tschechen große Bedeutung. Die Kultursektionen der Ver> eine „Barak“ und „Mäj“ gründeten im Jahre 1948 eine Laienspielergruppe, die inzwischen tu einem beachtenswerten Ensemble herangereift ist. Einmal monatlich finden nun regelmäßig im Volkstheater Vorstellungen statt *

Die tschechische Minderheit in Wien als Ganzes gesehen ist heute vergreist. Doch finden sich unter den Wiener Tschechen auch noch junge Kräfte, wenn auch nur Verhältnismäßig wenige, und es wird deshalb in Zukunft vieles von ihnen abhängen. In ihren Händen liegt .praktisch die Zukunft und Hoffnung, daß die. Wiener Tschechen wieder das werden, was sie immer waren und was sie längst schon als verpflichtende Aufgabe und dankenswerte Mission erkannt hatten: Als loyale Bürger eines freien, wahrhaft demokratischen Oesterreichs im Dienste der Völkerverständigung in einem vereinten Europa unentwegt, fern von Chauvinismus und nationaler Ueberheblichkeit, tätig zu sein,

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