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Plus und Minus für den Westen

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Ungefähr zwei Monate bin ich durch Westeuropa gereist. Mein Weg führte mich von Warschau über Berlin, Kopenhagen, Hamburg, Frankfurt am Main, Karlsruhe, Straßburg, Paris, Lyon, Nizza, Genua, Rom, Neapel, Rom, Venedig, Turin, Paris, Basel, Wien, Brünn und Kattowitz zurück nach Krakau. Die gesamte Strecke, mit Ausnahme des Abschnitts Paris-Nizza, wo ich einen Wagen benutzte, legte ich auf eine Weise zurück, die heutzutage für reisende Polen kaum üblich ist: nicht mit einem Flugzeug oder Autobus des Staatlichen Reisebüros „Orbis“, sondern ganz allein, in der zweiten Klasse einer normalen Eisenbahn.

Dem „Wanderer von unserer Seite der Welt“, der eine Reise nach drüben unternimmt, wird vor allem eines sofort auffallen: der weitgehende Zusammenschluß, das Aufeinanderabge-stimmtsein oder — wie man es dort nennt — die „Integration“ der Länder Westeuropas. Für den Ausländer macht sie sich in der Leichtigkeit bemerkbar, mit der er Geld einwechseln kann (natürlich nur die Valuta des „Dollarblocks“), in den auf ein Minimum reduzierten Paß- und Zollformalitäten, die häufig gänzlich weggefallen sind, in einem stabilen Valutakurs und festen Preisverhältnissen, in der Ähnlichkeit der touristischen Einrichtungen und schließlich im Zusammenwirken von Dienstleistungen aller Art. Diese Integration fällt sogar im äußeren Bild der Städte auf: die gleichen Firmen, die gleichen mehrsprachigen Aufschriften an den Bars, gleiche Neonreklamen, die universelle Vielheit der Automarken, die genormten Verkehrszeichen — alles das verleiht heute den Städten des Westens so etwas wie eine einheitliche äußere Uniform. Auf einigen Boulevards tin Kopenhagen könnte man fast meinen, man sei in Paris; die Neonreklamen, die dem Publikum die Namen großer internationaler Firmen ins Gedächtnis rufen, blinken ebenso vor dem Pariser Bahnhof St. Lazare wie vor dem Bahnhof Roma-Termini; ein ununterbrochener, bei uns unvorstellbarer Strom von Fahrzeugen hastet durch die Straßen Hamburgs ebenso wie durch die Straßen von Lvon, Turin oder Wien. Deshalb stellt Westeuropa für den von solcher Turbulenz verwirrten Ankömmling schon heute einen „gemeinsamen Markt“ dar, eine Welt, die bereits in hohem Maße organisatorisch, ökonomisch und wohl auch geistig vereinheitlicht ist — und zwar trotz der auch dem Durchreisenden bekannten wirtschaftlichen Aufteilung in die „Sechser-“ und „Siebenergruppe“.

Die Länder Westeuropas verfügen heute über 'eine ungeheure materielle Energie; sie sind ein einziger großer, sehr beweglicher, bienenfleißiger und glänzend durchorganisierter Verbraucher- und Herstellermarkt. Das erste Merkmal der materiellen Energie, das dem verblüfften Touristen in die Aueen springt, ist eben der weite Bereich eines reibungslos funktionierenden Netzes von Dienstleistungen. Unmittelbar folgt die Faszination über die Produktivität dieser Länder. Die Produktion Frankreichs, Deutschlands, Norditaliens oder Skandinaviens stellt heute eine Weltmacht dar; man braucht gar keine Fabriken zu besichtigen; es genügt zu sehen, was die betreffenden Länder im Handel anbieten. Sie tun das, aller fieberhaften Reklamekonkurrenz zum Trotz, sogar recht sorglos: jenseits des Ozeans befindet sich scheinbar unerschöpfliches Kapital, das früher oder später den Absatz der — wie man bei uns sagt — „Warenmasse“ sichert.

Die Konjunktur in Westeuropa, eine großartige, seltene Konjunktur, dauert an. Sie gleicht in hohem Maße alle sozialen Konflikte und Gegensätze aus. Solche gibt es ohne Zweifel: stark verwischt in Ländern mit stärkerem staatlichem Dirigismus, wie in Dänemark, Schweden und sogar in England; drastischer in einein Land mit einer veralteten politisch-gesellschaftlichen Struktur wie Italien (schmerzlicher Gegensatz zwischen dem verarmten Süden und dem verhältnismäßig wohlhabenden Norden). Solange die Konjunktur anhält, kann man die Augen vor allen Konflikten und Pro-blmen verschließen. Aber wenn diese Konjunktur aus irgendeinem Grunde aufhören sollte zu 'funktionieren? Das ist die klassische Frage, die ein Ankömmling aus ,.unserem Teil der Welt“ früher oder später an die Menschen in Westeuropa richtet. Gewöhnlich erhält er darauf keine Antwort. Mehr noch: manchmal scheint man ihn gar nicht zu verstehen, und der gute Wille des Fragenden wird sogar angezweifelt. Hier stellt man keine solchen Fragen, es sei denn, man ließe es sich gefallen, als „Kommunist“ bezeichnet zu werden (diese Titulierung würde dann zweifellos auch dem „reaktionärsten“ meiner polnischen Leser zuteil). Denn die Menschen Westeuropas — mit Ausnahme der Bewohner der Iberischen Halbinsel und vielleicht noch Süditaliens — sind Menschen einer „neuen, herrlichen Welt“, funktionelle Menschen, die jene Fragen nicht mehr verstehen, welche über die konkrete, materiell-aktuelle Situation hinausgehen — und dem verdächtigen Bereich der „Weltanschauung“ angehören. Sie haben verlernt, derartige Fragen zu begreifen — und das kaum fünfzehn Jahre nach dem grausamsten aller Kriege, der doch in erster Linie ideologisch bedingt war. Hier liegt der Kern meiner Unruhe, die ich in der Überschrift dieses Berichts andeutete*.

Die Leser meiner Aufsätze und Feuilletons wissen sehr gut, daß ich nicht gewohnt bin, die materielle Kultur von der geistigen zu trennen (eine solche Unterscheidung ist in der heutigen Welt außerordentlich gefährlich); sie wissen, daß ich ein Anhänger der technischen Zivilisation bin. daß ich schließlich die gesamte polnische Literatur hergeben würde, wenn Polen nur recht bald den Lebensstandard einiger Länder Westeuropas erreichen könnte.Es handelt sich hier also nicht um Blasiertheiten eines „Schöngeistes“, der die Weltanschauung höher stellt als das tägliche Brot. Mir scheint jedoch das im Westen immer stärker bemerkbare Schwinden eines ideologischen Instinkts, jenes „Keine-Zeit-mehr-Haben“ für Weltanschauung und Politik, erschreckend. In historischen Perspektiven betrachtet, könnte es Erfolg und Dauer ihres imponierenden materiellen Wohlstandes in Frage stellen — ähnlich wie der Nährwert der Nahrung fragwürdig wird, sobald man ihr die Vitamine entzieht. Ein Symbol dieser Vogel-Strauß-Haltung sehe ich unter anderem in dem naiven Glauben an die Beständigkeit der touristischen“ Konjunktur, an die unveränderliche Attraktivität des Forum Romanum oder des Eiffelturms, an das ewige Fortleben der historischen Legende, von der man in alle Zukunft zu profitieren hofft. I

Als ich mir die Frage stellte, wie man den Lebensstil und die Denkweise bezeichnen könnte, die heute im westlichen Europa tonangebend sind, drängte sich mir hartnäckig folgende Definition auf: es herrscht dort ein großartiges, präzise organisiertes, stark im Materiellen verwurzeltes und manchmal sogar von einem gewissen Charme begleitetes — Philistertum. Unter Philistertum verstehe ich hier eine Haltung, die lediglich den konkreten, materiellen Nutzeffekt anerkennt; einen Geisteszustand, der sich nur in den Grenzen faßharer, eindeutiger und alltäglicher Begriffe bewegt, für den nur Dinge, die man sehen und anfassen, konsumieren oder herstellen kann, ernstlich in Betracht kommen. Der super-positivistische Arbeits- und Verdienstkult birgt nichts „Weltanschauliches“ in sich: es handelt sich vielmehr um einen ungemein naiven „kleinen Realismus“, eng und mit Scheuklappen versehen, der alle Formen eines Nachdenkens ausschließt, das aus der Enge ausbricht und sich aus der konkreten Situation des Heute herauslöst; jenes Nachdenkens, das nicht unmittelbar mit Fragen der Arbeit, des Verdienens, der Produktion, des Lebensstandards, der Organisation und Nutzung des Lebens zusammenhängt.

Das führt, dem nur scheinbar „universellen“ Maßstab zum Trotz, zu einem partikularistischen Egozentrismus, zu einem gerade für den Gast aus Polen unbegreiflichen Egoismus. Bei uns sind wir gewohnt, unbekümmert und uneigennützig umfasssende Probleme unseres armen Planeten zu untersuchen — gleichgültig, ob vom Standpunkt der Politik, der Soziologie, der Philosophie oder der Weltanschauung. Diese „Grundsätzlichkeit“ charakterisiert bei uns in gewissem Sinne die Denkweise aller sozialen Schichten. Im Westen beschäftigen sich damit wenige, ausgewählte Gruppen, die keineswegs richtungweisend sind. Das Ganze aber Wird von einem allgemeinen philisterhaften Pragmatismus überlagert und erstickt an der technisierten, durchorganisierten, auf Produktion und Konsum ausgerichteten Mentalität, die alles beherrscht und keinen Raum läßt für andere Erwägungen.

Vielleicht ist dieses Philistertum ein untrennbarer Bestandteil der ersten Phase einer Demokratisierung und Aneignung der zivilisatorischen Güter? Ein notwendiger Preis, den man für ihre Segnungen zahlen muß? Aber ob so oder anders: das Philistertum drückt allen, auch den zweitrangigen Erscheinungen des Lebens, sein Siegel auf — selbst dem Amüsement.- Wir wissen, wie schnell es bei uns in einer Bar oder einem Restaurant zu einem Krach kommt. Während meiner Reise besuchte ich viele „verdächtige“ Spelunken, Hafenkneipen und zweideutige Kabaretts. Überall stellte ich das gleiche fest: Ruhe, phlegmatische Freundlichkeit und Ordnung. Ich nahm an, das sei das Ergebnis der „sanfteren“ Getränke, die hier verabreicht werden; denn noch immer hält Polen, allen propagandistischen Aktionen zum Trotz, den traurigen Rekord, das Land mit dem billigen, aber höchst-prozentigen Alkohol zu sein. Man gab mir jedoch eine andere Erklärung: die Leute sind vom neuen Arbeitsstil ermüdet und durch das Lebenstempo, den ständigen Umgang mit der Maschine, mit dem Auto, durch die unaufhörliche Bewegung zu sehr erschöpft. Ihre Gedanken beschäftigen sich mit materieller Sicherheit: sie sind vorsichtig, vorsorglich-betriebsam und suchen ihre Kräfte zu schonen.

Merkwürdig sind auch die alltäglichen Methoden der westlichen Presse: kriminelle Vorkommnisse, Morde, Vergewaltigungen und Diebstahle werden auf Kosten des politischen Geschehens groß aufgemacht und in den Vordergrund gerückt. Der Besucher von „unserer Seite der Welt“ betrachtet staunend die durch ihren typographischen Schwung imponierende erste Seite einer weitverbreiteten Pariser Tageszeitung, wo neben kleinen Titeln, die politische Ereignisse signalisieren, mit Riesenlettern alle Einzelheiten des letzten Selbstmords (aus Liebe) oder eines Giftmords (um einer Erbschaft willen) kolportiert werden. Aber die Journalisten haben, von ihrer Warte gesehen, recht: sie wissen genau, daß sie mit politischen Meldun-gen die Phantasie der Masse nicht erregen können. Die Massenphantasie bewegt sich heute in völlig anderen Regionen: ein Mord oder ein individuelles Ereignis, das brüsk und offenkundig den eintönigen Verlauf eines philisterhaften Lebens unterbricht, kann sie entzünden. ^

Sicher werden nun manche meiner Leser meinen, ich zeichnete hier ein einseitiges, schiefes, übertriebenes, vielleicht sogar völlig falsches Bild. Ich halte es jedoch in seinen großen Zügen für wahr — wenn man es „von unten“ betrachtet und vom „Massenprofil“ ausgeht. Die Länder Westeuropas — das heißt heute vor allem Masse, Massenorganisation der Produktion und des Verbrauchs.

Am Beispiel der Kunst kann man diese Dinge genau verfolgen. Wer etwa nach Betrachtung der zwanzig oder dreißig sorgfältig ausgewählten besten westlichen Filme, die bei uns gezeigt werden, der Meinung sein sollte, daß drüben der italienische Neorealismus oder die französische „Neue Welle“ bei Produzenten und Publikum tonangebend seien, der irrt gewaltig. Es wäre wirklich ein frommer Trugschluß; denn noch immer stehen in neunzig von hundert Kinos in Paris, Wien oder Kopenhagen bestenfalls die halbsensationellen „kalten Melodramen“ mit Jayne Mans-field, Philippe Clav und anderen an der Spitze der Publikumsgunst: hergestellt nach einem raffiniert perfektionierten Standardschema.

Einem begeisterten Anhänger der neuesten musikalischen Richtungen, die sich im Westen herausgebildet haiben, würde ich empfehlen, die Konzertprogramme westlicher Großstädte zu studieren: Beethoven, Schumann, Wagner, Brahms und wieder Beethoven ... Eines solchen Programms würde sich bei uns jedes Symphonieorchester in der Provinz schämen. Die größte Konzertagentur in Venedig gibt in ihrer halbjährigen Veranstaltungs-vorschau überhaupt keine Konzertprogramme an, sondern nennt nur die Namen der Ausführenden — das Werk zählt nicht. Es fällt sogar schwer, echten Jazz zu entdecken — er ist zu sehr auf eine Elite beschränkt. Schließlich rate ich jedem, der — mit vollem Recht — daran erinnert, daß Paris das Zentrum der modernen Plastik ist, einmal die Foyers der Luxushotels auf den Champs-Elysees aufzusuchen: hier entfaltet sich die Pracht des schlechten Geschmacks. In Schaukästen aus Kristall wird er das wirkliche Ergebnis dieser Zivilisation finden: wundervolle Kleider, entzückende Herrenjacketts, hübsche Pullover, verführerische Unterwäsche, unvergleichliche Strümpfe und einzigartige Schuhe. Darin sind sie uns überlegen: in ihrer materiellen und technischen Kultur und in der Breite ihrer Zivilisation. Aber ihre bei uns so berühmten Intellektuellen und Künstler sind keine Hohenpriester, die triumphierend vom Gipfel der sozialen Pyramide regieren. Es sind vereinsamte Individualisten manchmal von der Atmosphäre der Sensation umwittert, aber immer vergeblich bemüht, inmitten der allgemeinen Verständnislosigkeit der Massen Alarm zu schlagen. Sie können von niemandem Hilfe erwarten: auch die elementare Schaffenskraft des einfachen* Volkes wird ihnen nicht helfen, so wie sie es früher tat.

Ich weiß, daß mir meine ständigen Leser Inkonsequenz vorwerfen könnten. Denn ich trete häufig als Verfechter der technisierten Massenkultur auf; und nun, kaum daß ich ihrer Wirklichkeit begegnet bin, singe ich Klagelieder. Allerdings: vor einer solchen Wirklichkeit habe ich Angst. Ich wünsch Polen aus vollem Herzen eine ähnliche Organisation des Lebens, einen ähnlichen Produkttons- und Leistungsstandard, wie ich ihn im Westen gesehen habe. Ich wünsche meinem Land sogar eine eigene, echte Welle demokratischen Philistertums. Ich wünsche ihm eine Massenkultur und möchte, daß die so häufig in lächerlicher Pose erstarrten anachronistisch-intellektuellen Künstler von ihrem Sockel herabsteigen. Ich wünschte jedoch, daß dieser Prozeß einen gesunden Verlauf nähme, ohne Zeichen der Dekadenz. Das hingegen, was ich im Westen sah, scheint mir ungesund. Beunruhigend ist vor allem der Verlust des Bewußtseins von der Dramatik oder Tragik des Lebens knapp fünfzehn Jahre nach dem dramatischsten aller Kriege. Es ist ungesund, wenn man den politischen Instinkt völlig verliert und sich ängstlich vor einem Leben mit umfassenderen weltanschaulich-politischen Horizonten drückt. Verwunderlich ist der engstirnige Egozentrismus von Politikern (ich selbst habe mit ihnen gesprochen), für die die Grenzen Europas identisch sind mit den Grenzen des „Gemeinsamen Marktes“. Sie zählen uns nicht mehr zu Europa: unbekümmert haben sie uns auf der „Verlustseite“ gebucht, und nur wenige Intellektuelle - vielleicht auch noch manche klugen Geistlichen — empfinden die „vertauschten Rollen“. Und fühlen, daß auf unserer Seite vielleicht einiges von dem überdauern wird, was bei ihnen, in der neuen „touristischen Zivilisation“, dem Untergang geweiht ist.

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