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Los von Loos

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Im Jahre 1910 wurde in Wien das bekannte Loos-Haus gebaut, das aus zwei Teilen besteht: einem kahlen Oberbau, dessen einzige Gliederung die Fensteröffnungen sind, und einem Sockelgeschoß mit vielen nichtstragenden Marmorsäulen. Dieses unterscheidet sich also gedanklich nicht von der Gipsrenaissance und anderen Nachlebungsversuchen des neunzehnten Jahrhunderts. Der Oberbau aber wurde für das In- und Ausland der Ausgangspunkt der sogenannten „modernen, sachlichen Architektur“, wird als solcher bis zum heutigen Tage immer,wieder erwähnt und führte im Verein mit den Bauten Le Corbusiers in den höheren zwanziger Jahren zum Stil der „Neuen Sachlichkeit“.

Wann ist nun die äußere Erscheinung eines Baues als sachlich oder unsachlich zu bezeichnen?

Architektonisches Schaffen 1st zum größten Teil ein Raumschaffen im Dienste einer Lebensauffassung. Läßt man an sich die abendländische Entwicklung dieses Raumschaffens vorbeiziehen, so erkennt ein nach Sachlichkeitsmerkmalen ordnender Geist zwei Gruppen. Einerseits Bauten, deren Erscheinungsformen aus einer Konstruktionsidee abgeleitet sind; man kann sie daher als sachlich bezeichnen. Andererseits Bauten, deren Erscheinungsformen mit unkonstruktiven Mitteln übersteigert oder durch Überkrustung der Konstruktion überhaupt verändert wurden. Man hat sie in ihren Extremformen als sensualistisch bezeichnet, jedenfalls sind sie nicht sachlich. Also der Steinbalken auf den Steinstützen oder das Gewölbe und damit die Überwindung der Schwerkraft einerseits, andererseits ein freies, aber unwirkliches Spiel zwischen tektonischen und Symbolformen, das seine Wirkung aus der Gefühlssphäre der Menschenseele holt. Einerseits der griechische Tempel und die romanischen oder gotischen Dome, andererseits die immer zwischen irgendeiner Klassizistik und Barock schwankenden übrigen Stile.

Sachlich ist also die Form eines Bauwerkes dann zu nennen, wenn sie mit der Konstruktion übereinstimmt.

Warum nun, so angesehen, gerade das Loos-Haus, auch wenn man nur den Oberbau betrachtet, als Typus der Sachlichkeit gilt, ist nicht verständlich. Von Sachlichkeit ist hier keine Spur. Vielmehr ist es so, daß jeder Barockbau sachlicher scheint, weil er mit seinen Pilastern, seinen gekrümmten Konsolen und athletischen Gewölbeträgem wenigstens ein Theater der Schwerkraft vorführt, sich aber dabei niemals so weit von jeder Sachlichkeit entfernt als das Loos-Haus, an dessen Oberbau von einer Schwerkraftwirkung nichts mehr zu sehen ist. Vielleicht kann man bei diesen „neusachlichen' Bauten tatsächlich von einer Reißbrettsachlichkeit sprechen, weil der Architekt eine Hauswand als Fläche auffaßt, nur die notwendigen Fensteröffnungen, manchmal mit feinstem Proportionsgefühl, einzeichnet und alles andere wegläßt. Das kann unter Umständen höchste Kunst sein, aber das ist nie wirkliche Architektur wie ein griechischer Tempel oder ein gotischer Dom, das ist auch nicht Architekturtheater wie ein Barockpalast das ist reines Kunstgewerbe, der ganze Bau wird zum Ornament.

In der Architektur geht es um die Frage der Verkleidung. Diese für den ersten Augenblick überraschende Möglichkeit, Konstruktion und Erscheinungsform voneinander zu trennen, sie sogar in Gegensatz zueinander zu bringen, ist alt wie das Leben selbst, denn Pflanzen, Tiere und Menschen täuschen seit jeher durch die wahrhaft dämonische Trennung von Sein und Schein ihre Opfer und Angreifer. Die Triebfedern sind immer ein Minderwertigkeitsbewußtsein, gepaart mit dem Wunsch nach größerer Freiheit. Die Folgen der Verkleidung sind unabsehbar, weshalb sie im Rationalismus nur beschränkt (Theater, Karneval) angewendet wird. Der Sensualismus abet braucht sie zur Entfaltung individualistischer Triebe, durch die er erst möglich wird.

Rationalismus und Sensualismus fechten nun in unserer Zeit wieder einmal ihren uralten Kampf aus.

Die christliche Lebensauffassung ist rational im höchsten Sinne, das heißt vernunftgebunden und nicht triebgebunden, und so sind es auch die romanischen und gotischen Kirchen. Die Konstruktionsidee der Steinwölbung wurde jahrhundertelang rund- und spitzbogig, in Tonnen-, Kreuz-, Stern- und Netzgewölben materialisiert, bis die Variationsmöglichkeiten erschöpft waren und als Reaktion das sensualistische Prinzip einsetzte. Begonnen hatte dieses mit den hängenden Schlußsteinen spätgotischer Gewölbe, fortgesetzt wurde es mit den aneinandergereihten Rundbögen der Renaissance (Loggia dei lanzi). Beide können nur durch unsichtbare oder möglichst unsichtbare Zugeisen bestehen, womit ihre Erscheinung unwirklich, paradox wird, ein Architekturwitz des Humanismus. Diese bei aller Schönheit durch die unerfüllbare Forderung nach freier Individualitätsentfaltung im tiefsten Untergrund verantwortungslose Lebensauffassung bleibt für die folgenden Jahrhunderte das unsichere Fundament, auf welchem die Barock- und Rokokokulturen stehen. Deren Meister, Künstler höchsten Ranges, konnten sich davon ebensowenig befreien wie ein Fischer von Erlach, der die riesigen, den stärksten Ausdruck der Erhabenheit bringenden Monolithsäulen im Prunksaal der kaiserlichen Bibliothek in Wien aus Stucco lustro anfertigen ließ, weil wirkliche Marmörmonolithe in dieser Größe damals technisch unmöglich waren. So erhaben, wie diese Kultur sich selbst wünschte, war sie eben nicht.

Diese Beispiele sind aber keine Einzelfälle, davon kann sich jedermann selbst überzeugen. Irgendwo entsteht ein Rohbau mit den horizontalen Bändern, welche die Stockwerkdecken um das Gebäude ziehen, mit den Balken über den Fensteröffnungen, im Erdgeschoß vielleicht mit gewaltigen Trägern, über großen Auslagenöffnungen und mit schmalen Pfeilern aus hochwertigem Material, welche die Last der ganzen Hauses tragen. So sieht ein Haus wirklich aus. Seine Erscheinung ist, auch in unbeholfener Form, voll der Spannung, die aus dem Kampf der Schwerkraft mit der Tragkraft der Baustoffe entsteht. Sechs Wochen später ist alles dies unter einer Putzschichte oder

Plattenverkleidung verschwunden, das Spiel der Naturkräfte ist verdeckt, der Bau erscheint als Rasteromament. Und wenn das einer Zeit über wird, dann flüchtet sie in historische Gefühle — siehe neue Stephansplatzbauten —. hinter denen bereits wieder die Gipsrenaissance hervorgrinst. Dann werden, womöglich aus architektonischen Gründen, gegebene senkrechte Gliederungen in horizontale umpaniert, oder umgekehrt.

Möge sich nur jedermann bewußt werden, daß im Umkreis zwischen Stephans- kirčhe und den neuen Gänsehäufelbauten fast nicht ein Haus so aüssieht, wie es konstruiert wurde, und daß die Abkehr von der Wirklichkeit um so ärger wird, je näher uns die Bauten zeitlich rücken. Fensterüberlagen des achtzehnten Jahrhunderts sind oft wirklich so gemauert, wie sie aussehen, wenn man von Putzzutaten absieht, hinter denen des späten neunzehnten Jahrhunderts liegen aber Walzeisenträger und im zwanzigsten Jahrhundert solche aus Stahlbeton. Auf diese Weise kann es geschehen, daß Säulen, die ein Vordach „tragen", bei Fundamentsenkungen unten hilflos in der Luft baumeln, weil sie oben zu gut mit dem Kragdach verbunden waren (Wiener Stadttheater). Und das sind dann die letzten Architekturwitze des Humanismus. Sie sind jedoch unbeabsichtigt und beinahe grauenvoll.

Natürlich waren auch die griechischen Tempel oft mit Stuck überzogen, bemalt und mit Ornamenten verziert. Aber die Reste ihrer wunderbaren Körper stehen auf der Akropolis, in Selinunt und Paestum nackt, in ursprünglicher Schönheit, so wie die Ruinen gotischer Kirchen in überlegenster Geistigkeit. Das Loos- Haus am Michaelerplatz dagegen würde, von einem Bombensturm nackt geblasen, ganz anders aussehen als jetzt. Deswegen ist es nicht ein Anfang, sondern ein ästhetisierendes Ende. Dieser Stil der Kahlheit macht nur Platz für neue Formen, er schafft sie selbst noch nicht. Das ist die Aufgabe folgender Generationen.

Griechische Klassik und Gotik waren die schöpferischen Kulturen der Vergangenheit. Jede hat in der nur ihr eigenen Philosophie und aus. einer einzigen Konstruktionsidee in vielen Variationen neue unverhüllte Bauformen geschaffen. Warum soll das uns nicht gelingen? Wir haben im Stahlbeton eine neue Konstruk-

tionsidee, ein Baumaterial von einer Geistigkeit und Formbarkeit, wie es noch keiner Zeit zur Verfügung stand. Trotz den Bemühungen vieler Architekten sind aber daraus bis jetzt nur gute Details entstanden. Das UNO-Gebäude in Lake Succes ist als Ganzes immer noch ein Ornament und der Pappendeckelstil hochmoderner Villen noch keine wirkliche Architektur. Unser Funktionalismus endet immer wieder in irgendeiner Verkleidung, wofür das klassische Beispiel Otto Wagner ist, der wohl Stahlträger vielfach ohne Verkleidung beließ, aber dann mit seiner vernieteten Postsparkassa ein Funktionstheater vorführte.

An die Stelle des Systems, dem Rohbau durch Verkleidung erst die Endform zu geben, muß also das andere des primären Fertigbaues treten. Das ist praktisch sehr schwer, weil es gegen die technisch und geschäftlich bewährte Arbeitsorganisation einer ganzen Bauindustrie durchgesetzt werden muß und daher anfängliche Fehlleistungen zuläßt. Andererseits ermöglicht es jedoch wirtschaftliche und künstlerische Erfolge unabsehbaren Ausmaßes. Das und die Einsicht in die Gründe und Folgen jeder Art Verkleidung, am stärksten vielleicht die Abstumpfung gegen die Reize eines bereits 500 Jahre dauernden Architekturkarnevals sind die Argumentquellen, aus denen die Kraft für eine wirklich sachliche Baukultur geschöpft werden kann.

Die Kritik an Werken erlauchter Vorfahren und geplagter Zeitgenossen (einschließlich dem Verfasser) gelang hoffentlich klar g-mug als eine Kritik des geistigen Raumes, in den sie hineingeboren wurden wie alle Menschen, und aus dem ės für den einzelnen kein Entrinnen gibt. Nur die Gesellschaft kann ihn ändern, und ein Teil der Führungsaufgabe fällt dabei den Architekten zu.

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