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Auf dem Laufsteg in Moskau...

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Ausländische Firmen hatten schon in früheren Jahren versucht, Modevorführungen in der Sowjetunion zu organisieren Jetzt aber war es das erstemal, daß der berühmte Pariser Modeschöpfer Dior eine großangelegte Schau in Moskau über den Laufsteg gehen ließ. Die Franzosen hatten sich wenigstens einen „moralischen“ Erfolg von einer solchen Vorführung westlichen Geschmacks versprochen und waren daher sehr enttäuscht, als die Vorführungen nicht gerade enthusiastisch aufgenommen wurden. Die Bilder, die man von diesen Veranstaltungen zu sehen bekam, zeigen auch deutlich, daß die interessierten Gesichter der Zuschauer ebenso deutlich sagen: „Interessant, aber nichts für uns.“ Selbstverständlich gibt es in Rußland Kreise, die westlichen Geschmack kennen, denen die westliche Mode gefällt und die in ihrem Kreise auch dementsprechend angezogen sind. Das ist jedoch nur ein kleiner Kreis von Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, die noch der alten Intelligenz entstammen, und in geringerem Maße die Frauen hochbezahlter Spezialisten.

Jeder, der nach Rußland kommt, ist erstaunt über die strengen Lebensformen. Die weibliche Kleidung ist, man möchte fast sagen, extrem dezent. In den Nachtlokalen Moskaus, in denen es Kabaretts, Musik und Ballette gibt, wird der Zuschauer auch nicht die leiseste Spur einer lasziven, ja auch nur pikanten Andeutung zu hören bekommen. Von gewagten Szenen auf der Bühne und im Film überhaupt nicht zu reden. Bis vor kurzem war sogar der Kuß im Film verboten.

Viele glauben, daß dieser puritanische Geist allein eine Folge obrigkeitlicher Maßnahmen und intensiver kommunistischer Propaganda sei. Das ist ein Irrtum. Es ist wohl richtig, daß um das Jahr 1935 Stalin in seiner brutalen Art plötzlich einen scharfen Feldzug für die Moral startete, zuerst mit dem berühmten Verbot der Abtreibung, dann mit der Revision des Strafrechtes in Sittlichkeitsfragen, mit der Festigung des Familienlebens sowie der Erschwerung der Scheidung und schließlich mit dem Verbot aller einigermaßen lasziven Aeußerungen in Literatur, Theater und Kunst. Es ist wohl richtig, daß es schließlich notwendig war, die hochgehenden Wogen sexueller Hemmungslosigkeit und der Unmoral einzudämmen. Es entsprach jedoch auch den Ansichten und dem Geschmack der von Stalin neu herangezogenen Oberschicht, die auf die eine oder andere Art unmittelbar aus dem Dorfe stammte. Es war stalinsche Methodik, diesem Geschmack und dieser Anschauung ähnlich wie in der Literatur und in der Kunst zum Durchbruch zu verhelfen.

Es ist schon oft darüber geschrieben worden, daß das russische Volk vor der Revolution eigentlich aus zwei Nationen bestand, aus den

Herren und aus dem Volk. Beide sprachen eine verschiedene Sprache, genossen eine verschiedene Kost, kleideten sich verschieden und hatten auch selbstverständlich einen ganz verschiedenen Geschmack und verschiedene Moralbegriffe.

Wenn man vom Volk sprach, so meinte man vor allem die Bauern. Dieser russische Bauer besaß seinen feststehenden Geschmack und seine feststehenden Moralbegriffe. Keuschheit vor der Ehe, auch beim männlichen Teil, war in den Tiefen des russischen Dorfes eine Selbstverständlichkeit. Die verheiratete Frau schnitt sich die langen Zöpfe ab, bedeckte nach der Hochzeit den Kopf mit einem Tuch, und von da ab durfte kein fremder Mann mehr ihr Haupthaar sehen. Es galt als größte Beleidigung und Schande, wenn man einer Frau das Kopftuch wegriß. Dementsprechend war es natürlich auch Sitte, daß die Kleidung so dezent wie möglich war und vom Körper nichts ohne Not fremdem Blick preisgab. Selbstverständlich badeten die Geschlechter getrennt. Badekostüme kannte das alte Rußland überhaupt nicht — sie galten als unhygienisch. Nebenbei gesagt, sah der Durchschnittsrusse bis vor kurzem auch die westliche Badewanne als unappetitlich an. Das Dampfbad oder die Sauna mit den raffiniert ausgedachten Reinigungsmethoden durch Dampf und fließendes Wasser galt als die einzige Methode, sich wirklich zu reinigen.

Nun darf aber das Gesagte nicht dazu verführen, hinter diesen Sitten und Gebräuchen immer ein wirklich paradiesisches Leben zu vermuten. Die strengen Sitten waren eines, ein anderes war die brutale Wirklichkeit des russischen Dorfes: die Rechtlosigkeit der verheirateten Frauen, ihre Ueberlastung mit Arbeit, die Brutalität der Ehemänner, besonders unter Einwirkung von Alkohol.

Der andere, kleinere Teil des russischen Volkes, Adel, Intelligenz, mittleres Bürgertum, hatten alle ihre besonderen Ansichten von det Moral.

Die 'iti&iäche K ä u'f nTa n ii s c.h ä,fT"ĖatfėJ, äußerlich getrachtete' dieselbenR Änschauungeq i Via, „i itp! sianoe.amax awls as mis .und denselben Geschmack wie die-Bauernschaft, - Doch auch da entsprach die Fassade nicht dem wirklichen Wesen. Ganz abgesehen davon, daß die reichen Kaufleute sich an für westeuropäische Verhältnisse fast unglaublichen Gelagen und Orgien beteiligten, nahmen es auch viele Kaufmannsgattinnen mit der ehelichen Treue nicht sehr genau. Die russische Literatur enthält unzählige Beispiele dafür.

Von der hohen Bürokratie und vom Adel kann man nichts Besonderes berichten. Hier folgte die Damenwelt der Pariser Mode, und Sitten und Unsitten waren dieselben wie die der damaligen westlichen Welt.

Interessant ist jedoch die Entwicklung innerhalb der russischen Intelligenzia. Dort hat auch der heutige sowjetrussische Puritanismus, ja die Art und Weise, wie sich heute die führende Schicht in der Sowjetunion kleidet, ihre Wurzeln. Es gab da seit dem 18. Jahrhundert gewisse feststehende Regeln. So galt es eines ernsten und gebildeten Mannes unwürdig, allzuviel auf sein Aeußeres zu achten. Eine bunte Krawatte für einen Arzt war unpassend. Auffällige Eleganz stand nur dem Ladenkommis zu. Man kleidete sich in diesen Gebildetenkreisen einfach, sauber und bequem. Man war sehr konservativ.

Trotz allem verbreitete sich in diesen Kreisen die Lehre von der freien Liebe und die Ablehnung der kirchlichen oder staatlichen Institution der Ehe. Es war ursprünglich eine utopische, jedoch im Grunde nicht „unmoralische“ Theorie in unserem Sinn — ein Auf- stand quasi gegen die weibliche Rechtlosigkeit im zaristischen Staat, die die Frau in die Ehe verkaufte. Jedes Zusammenleben von Mann und Frau galt nach dieser Theorie als unsittlich, wenn es nicht auf Liebe basierte. Diese utopische Theorie der Intelligenzia hat dann großen Einfluß auf die Revolution genommen.

Der Verfall begann nach der mißlungenen Revolution von 1905. Von hohen Idealen getragen, hatte vor allem die studentische Jugend bei dieser Revolution begeistert mitgekämpft.

Nun stürzte sie sich verwirrt in Vergnügungen und lebte sich aus. Man sprach von den rußenden Lichtstummeln. Die Kerzen waren abgebrannt, die Stummel rußten nur noch. Hier setzte die zaristische Propaganda geschickt ein. Glänzende Uniformen, ein prätentiöses Dandytum, Bälle und Gelage wurden modern. Der Zarismus vertiefte das alles noch, indem er sogar obszöne Filme subventionierte. Zum alten Begriff der freien Liebe, die immerhin noch eine gewisse Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen konnte, trat jetzt ein hemmungsloser moralischer Nihilismus.

So war die Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg gediehen, führte während des Krieges zu einem weiteren Zerfall der oberen Gesellschaftsschichten und löste schließlich in der Oktoberrevolution die letzten moralischen Fesseln und Hemmungen. Wir wollen uns ersparen, die vielen Einzelheiten aufzuzählen, welche dieser Auflösungsprozeß mit sich brachte.

Diesem sittlichen Chaos stand die oberste Spitze der bolschewistischen Partei vorerst hilflos gegenüber. Sie versuchte zuerst einmal, ihre alten Ideale zu verwirklichen. Es war nur logisch, daß sie die frühere Rechtlosigkeit der russischen Frau bekämpfte, und ihr einen extremen Schutz der Frau gegenüberstellte. Doch weltfremd, wie diese Gesetzgebung war, führte sie zu grotesken Erscheinungen. So führte das Gesetz, das jeden Geschlechtsverkehr eines Vorgesetzten mit einer Untergebenen unter Strafe stellte, dazu, daß der Vorgesetzte weitgehend weiblichen Erpressungen ausgesetzt war.

Die Bolschewiki proklamierten das Recht des einzelnen Menschen, vor allen Dingen der Frau „auf ihren eigenen Körper", und wollten darum, die- Ehe als Institution völlig abschaffen. Wenn sie trotzdem die standesamtliche Zivilehe dekretierten, so geschah es vor allem als Konkurrenz gegen die Kirche. Doch der Eheabschluß war an ein Minimum von Formalitäten gebunden, und noch einfacher war die Scheidung. Zur Eheschließung mußten wenigstens die beiden dagegen,. wenn, ein1 Teil zum Standesamt . ging, deį iaiįįgįę .?ajtĮi ,!jKHr.de dann -durch .eine amtliche Postkarte von der vollzogenen Scheidung verständigt. Während der Revolution verkündete unter anderem ein abenteuerlicher Bolschewist an der Wolga für sein Gouvernement die Sozialisierung der Frauen. Jede Frau mußte jedem Mann, der sie begehrte, zur Verfügung stehen. Die entsetzte Parteileitung mußte Sonderbevollmächtigte an die Wolga senden, um Ordnung zu machen.

Es kommt nicht von ungefähr, daß Stalin etwa 193 5 in einem rigorosen Feldzug gegen die Unmoral, in einer strengen Gesetzgebung den heutigen sowjetischen Puritanismus dekretierte. Es wird immer vergessen, daß in der Zeit zwischen 1928 und 1932 die ganze mittlere und obere Schicht der bolschewistischen Führung aus dem Dorfe stammte. Auch die heutige sowjetische Intelligenz führt ihren Ursprung nicht auf den Adel, sondern auf die Bauern zurück. Aus diesem Milieu der in die Stadt abgewanderten Bauern stammte ja auch Stalin selbst. Darum seine rigorosen Gesetze von 1935.

Die heutigen Sowjetfrauen machen sich kein Kopfzerbrechen wegen der schlanken Linie, und mit Abmagerungsmitteln ist in der Sowjetunion noch kein Geschäft zu machen. Es wird berichtet, daß die schlanken französischen Mannequins der jüngsten Modevorführung vom breiten Publikum geradezu bedauert wurden. Ihre Schlankheit wurde als krankhaft betrachtet. Für den Russen ist heute die wohlgenährte, rundliche Frau, von der er meint, daß sie fähig sei, starke und gesunde Kinder zu gebären, auch schön-. Dieser Typ ist es auch, der ausschließlich die Gattinnen der heute führenden Sowjetmänner stellt. Nikita Chruschtschow und alle, die es ihm gleichtun, kleidet sich so, wie sein Vater, der Bauer aus dem Dorfe Kalinowka, meinte, daß sich ein ernster, gebildeter Mann zu kleiden hat. Wenn man die breiten Hosen und den bequemen Rock Chruschtschows sieht, so erinnert man sich an den Arzt, den gebildeten Landedelmann, Industriellen oder Kaufmann aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.

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