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Aus funfzehn Jahren

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DEUTSCHE LYRIK. Gedichte seit 1945, Herausgegeben von Horst B i n g e I. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1961, 312 Seiten. Preis 16.80 DM.

1945: Ein entscheidender Einschnitt in der politischen und kulturellen Situation Deutschlands. Ein Jahrzehnt der geistigen Einengung und Unterdrückung war zu Ende. Zwar hat es auch in diesen Jahren deutsche Dichtung gegeben: in der Emigration (Bert Brecht), aber auch — heute oft zu Unrecht vergessen — in Deutschland selbst (Josef Weinheber), trotzdem war plötzlich ein Riß oder ein Hohlraum entstanden. Äußerlich zeigte sich dies in der ersten verständnislosen Begegnung mit einer um 15 Jahre weitergeschrittenen Kultur, deren Sprache absurd, deren Farben und Klänge aufreibend und ungestaltet erschienen; innerlich aber offenbarte sich diese Kluft in der Halt- und Ziellosigkeit einer Generation, deren Werte zerstört waren, die sich vor die Aufgabe gestellt sah, eine Welt grauenvollster Erlebnisse zu bewältigen.

Der Dichter nach 1945 stand vor der Notwendigkeit, aber gleichzeitig auch vor der großen Chance, neu zu beginnen, das heißt, sich einen Ausgangspunkt selbst wählen zu müssen. So wurde in der ersten (Zeit viel experimentiert, man knüpfte beim Expressionisfrrus der zwanziger Jahre an t und baute dort weiter, man versuchte - Brücken zu schlagen zur englischen (Ezra ' Pound, T. S. Eliot) und französischen Ly-1 rik (Paul Valery oder gar zurück bis ' Stephane Mallarme). 15 Jahre galt es auf zufallen.

Nun sind abermals mehr als 15 Jahre , vergangen, und es ist Zeit, über diese Zeit , nachzusinnen, sie zu prüfen, Verbindung . aufzunehmen. Die Anthologie „Deutsche , Lyrik, Gedichte seit 1945“ stellt 102 Auto-j ren aus dem deutschsprachigen Raum (da-5 von 15 Österreicher) vor, die nach 1945 . erstmals mit Gedichtbänden hervortraten. . Der Herausgeber. Horst Bingel — Redakteur l und Herausgeber der „Streit-Zeit-Schrift“ —, war bemüht, der Vielfalt der Aussagen und der Verschiedenheit der Ausgangs-' Situationen Rechnung zu tragen. Die 244 ausgewählten Gedichte sind, um bessere ' Orientierung und leichteren Zugang zu | gewähren, in zehn Gruppen aufgeteilt, von ' denen die drei ersten: „Einiges ist noch zu regeln“, „Wo uns die Jahre verdarben“, • „Eure Siege waren vorübergehende nur“, den Leser kompromißlos zum Mitringen und Miterleben jener schrecklichen Geschehnisse jüngster Vorvergangenheit zwin-I gen, während in anderen Themenkreisen wie „Tanz aus metallnen Figuren“ AUtäg-: liches, Ernstes, Groteskes Sprache wird; und schließlich findet auch hier die Dichtung zurück zu ihren ewigen Aufgaben: „Unterrichtet in der Liebe“ und „Herr, ich glaube“.

Mit dieser Auswahl und Zusammenstellung, die mit sehr viel Feingefühl und Sachkenntnissen geschah, hat Bingel die Dichtung der letzten 15 Jahre einem breiten Publikum zugänglich und verständlich gemacht. Es ist erfreulich, daß diese Anthologie auf soviel Widerhall gestoßen ist. Bereits jetzt, zehn Monate nach dem ersten Erscheinen, ist die zweite Auflage in Vorbereitung. Auch die Auslandspresse hat mit großer Anteilnahme, oder besser, Verwunderung, die Aussagekraft einer so großen Anzahl guter, junger deutscher Autoren hervorgehoben. So schreibt die „Times“ (16. März 1962): „Man ist zunächst erschlagen von der Anzahl guter, individueller Gedichte von Autoren, die kaum bekannt sind. Der Gesamteindruck ist: Die Gedichte umspannen eine breite Skala der Dichte des Wortes und des Tempos.“ Wir können froh sein über diesen Kommentar, denn er zeigt wohl am eindringlichsten, daß diese 15 Jahre nicht tatenlos und wortlos verstrichen sind, daß die deutsche Nachkriegsgeneration etwas zu sagen hat und es auch sagen kann.

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