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DISSONANT UND ENTPERSONLICHT

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Betrachtungen über moderne Lyrik

Lyrik wird vielfach als die reinste Erscheinunng des Poetischen bezeichnet. Sie ist „ ... nur eine andere Möglichkeit des Musizierens, das heißt der Ich-Auflösung und des dinglosen Schwebens durch die Sphäre des Irrationalen“, meint Oskar Bendo. Darüber hinaus bedeutet sie ständiges Aufheben eines bereits vertraut gewordenen Zustandes und das Suchen nach einem neuen Wertgefühl. Kriterien, die übrigens für jeden schöpferischen Prozeß kennzeichnend sind. „Poesie gibt es nur dank einer fortgesetzten Neuschaffung der Sprache, was einem Zerbrechen des Sprachgefüges, der grammatischen Regeln und der rednerischen Ordnung gleichkommt.“ So Aragon im Vorwort von „Les Yeux d'Elsa“ (1942).

Man hüte sich allerdings vor einer Uberbewertung dieses Tatbestandes und seiner absoluten Gleichsetzung mit Kunst. Weil diese nach wie vor durch ein Wissen um das Wesen der Dinge, das sich gleichbleibt über alle Veränderungen und Verwandlungen hinweg, durch ein Bewußtsein unabänderlicher Werte und einem tiefen In-sich-Ruhen des Beständigen bestimmt wird,

Trotzdem scheint dem Betrachter der rasche Wechsel der Stilrichtungen, das Suchen nach dem immer wieder Neuen und Unbekannten, nach Effekt und Originalität eines der auffallendsten Merkmale des gesamten künstlerischen Geschehens der Gegenwart zu sein. Es läßt sich erklären einerseits durch das unbedingte Freiheitsbewußtsein des modernen Künstlers (welches wiederum als Reaktion auf den Zangengriff der Technik verstanden werden kann), dessen Bestrebungen, alles zu können, alles zu dürfen (denn alles ist erlaubt), ihm Ungeahntes, Überraschendes, Märchenhaftes eröffnet. Anderseits aber aus dem Fehlen einer inneren Idealität (oder liegt sie im Aufbegehren gegen den Automatismus und die Maschine?), welches zu einem Operieren und Experimentieren und einem ständigen Schaffen neuer Assoziations-, Wort-, Klanig- und optischen Möglichkeiten führt. Dazu Gottfried Benn: „Der Stil wird in Schwung gehalten durch formale Tricks... Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt. Nichts wird stofflichpsychologisch verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt.“

Diese Situation zu klären und zu sichten stößt darum auf Schwierigkeiten, weil hierfür Begriffe herhalten müssen, welche der Bewußtseimslage vergangener Jahrhunderte entspringen. Wenn für Schillers Poesie Idealisierung, Veredelung und Harmonie bestimmend waren, so meint im Gegensatz dazu der Spanier Damasco Alfonso im Jahre 1932: „Im Augenblick gibt es kein anderes Hilfsmittel, als unsere Kunst mit negativen Begriffen zu benennen.“

Und welches sind nun diese sogenannten „negativen“ Merkmale, deren „negative“ Bedeutung sich vor allem aus einer Gegenüberatellung zu den „positiven“ des 18. Jahrhunderts ergibt? Jene Charakteristika, die, mit Baudelaire beginnend, heute fast zu Schlagwörtern geworden sind, lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Entdeckung des Mysteriums der Großstadt, Faszination durch das Künstliche, den Verfall, Dissonanz, Verfremdung, Entpersönlichung, ein Übergewicht der Aussageweise gegenüber dem Aussageinhalt, ZusainmenhanglQsigkeit auf der einen, logische Durchbildung auf der anderen Seite.

Und um gleichzeitig etwas näher darauf einzugehen: Die Großstadt, mit ihren Hiesigen Kerichtstäitten, ihrer Illumination und den tausend Reizstoffen, wurde Resonanzboden für eine neue Art dichterischer Aussage. Die sich selbst entfremdete Seele findet sich in einer entfremdeten Umgebung wieder. Dissonanz klingt auf dort, wo es zu inneren Brüchen und Zusammenhanglosigkeiten kommt. Mystisches wechselt mit Intellektuellem, Logisches wirft sich dem Alogischen in den Arm. „Absurdes“' stößt „Normales“ von sich.

Verfremdung hebt über „ursprüngliches“ Empfinden hinaus. Das Ich schwingt in den Dingen. Dort findet es sich wieder, hebt Überkommenes auf, gestaltet, schafft neue Zusammenhänge. Dort findet es das Geheimnis, das Wunderbare. So wie die Natur in den Kunststoffen enthalten ist, um sich darin auf eine neue Art und Weise zu verwirklichen Charakteristisch dafür ein Gedicht Ernst Davids, Jahrgang 1929 mit dem Titel: Schema der Entfremdung: „...hängt leer im Lot / gegen den Mittelpunkt einer Kraft / hängt und löst sich nicht ab... / versteift sich / versteift sich auf seine Leere / in seine Leere / verdichtet sich / zu einem festen Etwas...“ Die Dinge hingegen werden entdingiicht, aufgelöst in Abstraktionen. Ein Vorgang, welcher Beziehung zur Mathematik aufweist und ein Gegenstück in der Malerei besitzt.

Entpersönlichung meint das Vermeiden von Gefühlstahalten im herkömmlichen Sinn. Inspiration gilt als „bloße Natur“ und wird der Konstruktion untergeordnet. Das Elementare soll gebändigt, durch den kühl ordnenden Verstand gezügelt werden. Die „Sprache des Herzens“ ist sekundär gegenüber der ordnenden „Kraft des Gehirns“. T. S. Eliot fordert nicht nur in das Herz zu sehen, sondern „tiefer... in die Gehirnrinde und das Nervensystem.“

Die Art der Aussage ist wesentlicher als der Inhalt der Aussage. Der Formwlle siegt über den Ausdruckswillen. Das Gedicht ist also nicht mehr von seinen Aussageinhalten her zu verstehen, sondern von der Art, wie es gesagt wurde. Insofeme die Sprache an sich zum gestalteten Gegenstand wird. Sie soll untersucht, geprüft und bis zu ihrem Ursprung hin verfolgt werden. Das Gedicht nimmt geometrische Formen an, es wird zum graphischen Gedicht. Die 1941 geborene Lyrikerin Christino Kö'vesi dichtet:

Geometrie im November

Vierecke dreiecke rechtwinkelig schiefwdnkelig gleichseitig symmetrische asymmetrische alle aus geraden kleinen schwarzen ästen geraden breiten stammen manche bis in den himmel vor meinem Fenster

Zusammenhanglosigkeit ergibt sich sowohl was den Inhalt, als auch was die Form anbelangt. Jedoch zeugen die — scheinbar — sinnlosen Sprachgebilde von einem neuen Gestaltungswillen, in dem sich künstlerische Aussage manifestiert. Im Gegensatz dazu steht die logische Durchbildung, welche sich aus der wesentlichen Funktion des Intellekts ergibt.

So weit eine kurze Darlegung der wichtigsten Merkmale moderner Lyrik. Ihre Anfänge werden allgemein in das Frankreich des 19. Jahrhunderts verlegt, von wo sie ihre Einflüsse nach Spanien, England und Deutschland geltend machte. Was Österreich betrifft, so läßt sich den gegenwärtigen literarischen Erscheinungen nicht mit dem beliebten Ausspruch von österreichischer Rückständigkeit und von Konservatismus beikommen. Werden auch die österreichischen Lyriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitgehend von einer Tradition bestimmt, die ihre Wurzeln im 17. und 18. Jahrhundert hat, so läßt gegenwärtiges Bestreben avantgardistische Neigungen nicht vermissen. Sie sind allerdings von einer sehr spezifischen Eigenart und -heben sich damit deutlich ab von ähnlichen Tendenzen in der Bundesrepublik. Lyrische Begabung ist — neben dem schauspielerischen und musikalischen Talent — seit jeher eine Stärke des Österreichers gewesen. Ein Großteil der Lyriker im deutschen Sprachraum stammt aus Österreich. Angefangen von Hofmannsthal, Rilke und Trakl bis zu Paul Celan, Christine Busta, Ingeborg Bachmann und Erich Fried. Was hingegen H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Friederike Mayröcker, Conrad Bayer und Ernst Jandl an experimentierfreudiger Literatur liefern, ist nicht anders als avantgardistisch zu nennen. In etlichen Zusammenschlüssen, Kreisen und Zirkeln werden diese Bestrebungen befürwortet, gefördert und unterstützt. Die „Grazer Gruppe“, welche von Alfred Kolleritsch geleitet wird und der unter anderem Wolfgang Bauer, Gunther Falk, Barbara Frischmuth und Klaus Hoffer angehören, trug dazu bei, daß Graz heute als Zentrum avantgardistischer Literatur betrachtet wird. Die „Wiener Gruppe“, zu deren bekanntesten Vertretern Artmann, Achleitner, Rühm, Jandl und Friederike Mayröcker gezählt werden, beruft sich auf das Experiment. Etliche Literaturzeitschriften wie die „Manuskripte“, eine dreimal jährlich erscheinende Literaturzeitschrift der Grazer Gruppe, die „Protokolle“, vom Verlag für „Jugend und Volk“, die „Eröffnungen“, welche von dem Dreigespann Kulterer, Patacki und Schneider redigiert werden und „Werkstatt-Aspekte“ propagieren experimentelle Dichtung. Etwas schüchterner versuchen Ähnliches die im April 1966 gegründete und zehnmal jährlich erscheinende Zeitschrift „Literatur und Kritik“, die alteingesessene, vom „Theater der Jugend“ herausgegebene Literaturzeitsohrift „Neue Wege“ und das im vergangenen Jahr unter einer neuen Redaktion erscheinende „Wort in der Zeit“. Wirklich bekannt allerdings wurden Österreichs Progressisten in der Bundesrepublik. Sie werden von deutschen Verlagen gedruckt, und halten Lesungen in deutschen Städten. Viele von ihnen halten sich überhaupt ständig dort auf. Was sind nun die durchgehenden Tendenzen dieser avantgardistischen Literatur? Wodurch wirkt sie bestürzend, schockierend und erregend zugleich? Es sind im Wesentlichen jene eben angeführten Merkmale, jedoch weiterentwickelt, ausgebaut und dargestellt in ihrer letzten Konsequenz.

Den theoretischen Ausführungen soll nun ein Beispiel aus der Praxis folgen. Die „Eröffnungen“, sicher eine der progressivsten Uteraturzeitschriften Österreichs, scheinen hierfür geeignet. Hubert Fabian Kulterer, Herausgeber, Lyriker, Schriftsteller, Student und „Commandeur Equis de i'ordre de la grand Gidoulle“ der „Pataphysischen Gesellschaft“ in Paris meldet sich zu Wort. Was die „Eröffnungen“ wollen? Erstens eine junge, dichterisch ambitionierte Generation ziu Wort kommen lassen. Die Welt ist zu alt, um das Übermaß eines ihr auferlegten Erbes zu tragen. Ein frischer Wind fege hinweg, was überlebte Tradition darstellt und bedeutet. Und aus den Resten einer als überholt empfundenen Vergangenheit wachse eine neue blaue Blume. Zweitens in der Ratlosigkeit allgemeinen Experimentierens einen neuen Maßstab zu setzen, das Gute vom Schlechten, Spreu von Weizen zu trennen. Und sich drittens eine internationale Autorenschaft ebenso wie ein internationales Publikum zu sichern.

Wie die Reaktion der Öffentlichkeit ist?

Bahnbrecher haben immer mit Schwierigkeiten zu rechnen.

Das Verständnis der Masse hinkt in der Regel etwas nach. Oft sind Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte notwendig, bis neue Gedanken als „neu“ empfunden werden. Nicht alles, was Avantgarde ist, ist gut. Sicherlich, vieles bleibt im Ansatz stecken, bleibt Bemühen. Aber auch Bemühen soll zumindest anerkannt und nicht abgelehnt werden.

Welche Schwierigkeiten sioh bei der Herausgabe eines derartigen Heftes ergeben?

Unendlich viele! Angebote von jungen, noch unbekannten Poeten und solchen, die bereits einen Namen haben, gibt es mehr als (genug! Größere Hindernisse bereitet es, einen entsprechenden Abnehmerkreis zu finden. Das Aufliegen in Buchhandlungen, die Beteiligung von Mittelschulen und sonstigen interessierten Institutionen ist hier nicht genug. Ständige persönliche Initiative ist erforderlich. Und das Anbieten in Kaffeehäusern und dergleichen keine Seltenheit. Das größte Problem aber ergibt sieh bei der Beschaffung der nötigen Subventionen.

Daß sich die „Eröffnungen“ trotzdem seit dem Jahre 1962 in beinahe ununterbrochener Folge (ein Jahr mußte aus finanziellen Gründen das Erscheinen eingestellt werden) halten konnten, beweist immerhin eine Portion Ausdauer und Idealismus ihres Herausgeberteams. Jede Ausgabe hat sich ein bestimmtes Thema gestellt, das zu ergründen dem Leser vorbehalten bleibt (es ist nämlich weder auf dem Titelblatt, noch in irgendeinem Vor- oder Nachwort zu finden) und somit bereits zu Beginn entsprechende Anforderungen an Phantasie, Kombinationsgabe und guten Willen des Betrachters stellt. Was in „neuzeitlichen“ Köpfen spukt, findet hier seinen Niederschlag. Lautgedicht, graphisches Gedicht, Lippengedicht, Pop-art — bisher vor allem in der bildenden Kunst als solche bekannt ;— soll hier in ihrer Rückwirkung auf Literatur dargestellt werden. Ein Heft zum Beispiel enthält Beiträge von H. C. Artmann, Conrad Bayer, Albert Camus, Albert Paris Gütersloh und Richard Schaukai. Montagedichtung (=: beliebiges Montieren von Wörtern aus einem bestimmten Text je nach Laune, Stimmung und Tageszeit; das Ergebnis soll in der Gesamtschau suggestiv wirken und etwas von dieser augenblicklichen Stimmung wiedergeben) beruft sich auf ähnliche Versuche aus dem 16. und 19. Jahrhundert, um diesen solche von H. C. Artmann und Conrad Bayer folgen zu lassen. Ein dem „Collegium Pataphysikum“ gewidmetes Heft nimmt auf jene von Alfred Jarry im Jahre 1949 gegründete Gesellschaft Bezug, der unter anderem Eugene Ionesco, Jacques Prevert, Joan Miro, Rene Clair und Boris Vian angehören, welche sich als „Wissenschaft der imaginären Lösungen“ bezeichnet. Sogenannte „Mikrodramen“ sollen Wesentliches in einer möglichst kurz gehaltenen Aussage wiedergeben.

Das alles wird begleitet und unterstützt durch parallel laufende Bestrebungen in der bildenden Kunst. Die Wiener Schule ist hier mit ihren phantastischen Zeugnissen vertreten, Pop-artiges findet sich neben Photomontagen, selbst Comic-strips haben sich eingeschlichen. Daneben aber gibt es auch Zeichnungen aus vergangenen Jahrhunderten, deren Gegenüberstellung mit Artmannschen Lautgedichten (Kennzeichen: Betonung ist ausschlaggebend) die entsprechende grotesk absurde Wirkung erzeugt. Und die surrealen Alpträume Rudolf Hausners fühlen sich wohl neben einem graphischen Gedicht Gerhard Ruhms (Kennzeichen des letzteren: die graphische Gestaltung ist; wesentlich).

'' Was mit. Baudelaire .begann, ist Kriterium einer-gaksfeiL' Literaturgattung geworden. Bleibt nur noch festzustellen, inwieweit diese Tendenzen hier einen, dem bislang so und nicht anders funktionierenden menschlichen Denkapparat abstrus erscheinenden Höhepunkt erreicht haben. Inwieweit das, was sich allerorten zeigt und manifestiert, ernst zu nehmen ist oder als Spielerei abgetan werden kann, was daran überdauert und was sich als kurzlebig erweist.

Im Augenblick hat man sich mit diesen Erscheinungen auseinanderzusetzen und ein Werturteü bestenfalls zu versuchen. Eines wird man diesen jugendlichen Streitern und Verfechtern neuer Ideen wohl nicht absprechen können: Mut und innere Überzeugung, um einen Weg alleine zu gehen. Ob dieses etwas aufregende Erlebnis „moderne Lyrik“ Zukunft hat —das wird die Zukunft zeigen.

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