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ÜBER MEIN SCHAFFEN

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Für Friedrich von Hausegger (1837 bis 1899), der eine Studie mit dem Titel „Aus dem Jenseits des Künstlers“ vorbereitete, machte Richard Strauss um 1892 die folgenden, bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen. Das Manuskript ist in der großen, von der österreichischen Nationalbibliothek veranstalteten Richard-Strauss-Ausstel-lung zu sehen. Die altertümliche Orthographie ist die des Originals.

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Völlige Einsamkeit ist für mein Produzieren am günstigsten. Was man „Einfälle“ nennt, musikalische Gedanken, die, man weiß nicht woher, plötzlich mir auftauchen, so habe ich sie meistens Nachmittags — zwei Stunden nach Tisch beginnend —, zu Beginn eines Spazierganges, oder nach einem längeren Spaziergang in schöner Natur, nachdem ich vielleicht eine halbe Stunde ausgeruht bin.

Träume spielen für mein „Erfinden“ gar keine Rolle, wenigstens nicht Träume, deren ich mir bewußt werde. Daß aber ein „inneres“ Arbeiten der Phantasie, dessen ich mir nicht bewußt werde, den Hauptantheil an meinem Schaffen trägt, das ist mir unzweifelhaft; und daß ein Motiv 'oder eine

längere Melodie, die so ganz plötzlich auftaucht, die ich sofort als zum Beispiel heiter grotesken Inhaltes, religiös schwärmerischen Inhalts oder irgendeinem Ausdrucksbedürf-niss entsprechenden Inhaltes erkennen und dann als so erkannte bewußt in diesem Sinne konsequent weiterzuspin-nen versuche —, schon bereits das Endresultat eines langen inneren Prozesses ist, wird mir dadurch bewußt, daß ich — zum Beispiel: mir fallen vier Takte einer schönen Melodie ein, sagen wir religiös schwärmerischen Inhaltes — diese vier Takte sind absoluter sogenannter Einfall, ich weiß nicht, woher so plötzlich und wieso, ich setze mich ans Klavier und versuche, diese vier Takte auf Grund ihres thematischen Inhaltes und ihres sonstigen Entwicklungsbedürfnisses fort-zuspinnen — diese vier Takte entwickeln sich in Kürze zu einer 18taktigen, meinem Ausdrucksbedürfnis gut und glücklich erfunden scheinenden Melodie, die ich auf vier 32taktige Perioden schätze, um vollständig entwickelt und abgeschlossen zu sein. Haben sich die ersten 18 Takte nach kurzen Stockungen und mit kleinen Veränderungen verhältnismäßig rasch gefunden, so geht's plötzlich mit dem 18. Takt nicht mehr so weiter, wie es mir gefällt, ich versuche, drei, vier, fünf Arten der Durchführung — es ist Nichts. — ich fühle, die natürliche Production, wenn ich's so nennen darf, ist aus. Sobald ich das erkannt, hüte ich mich fortzufahren; schreibe das bis jetzt vollendete auf und merke es mir genau und schließe es sodann in meinem Hirnkasten ein. Wenn nun plötzlich wie vorher der erste Einfall, die mir richtig erscheinende Fortsetzung desselben sich findet, so muß doch entschieden ein inneres Arbeiten der Phantasie stattgefunden haben, nur daß die Phantasie ihr Arbeitsthema vielleicht von meinem Intellect mehr vorgeschrieben erhielt, also gleichsam trainiert war.

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Mein Vater war Waldhornist im Hoforchester und musizierte viel; ich hörte also von Geburt an Musik, blies mein Vater Waldhorn lachte ich, spielte er Geige, weinte ich.

Also von Geburt an nahm meine Phantasie Töne auf, nach dem sechsten Jahr warf sie mit ihren „Reminiszenzen“ ihr erstes selbständiges Product heraus. Wie nun mit dem zunehmenden Anschauungsvermögen und mit der zunehmenden intellectuellen Bildung die Phantasie immer reichere Nahrung erhält, so kann sie immer mehr „Einfälle“ hervorbringen; wie es allerdings kommt, daß sich diese verschiedenartigsten Eindrücke der Phantasie gerade in Tönen äußern, das weiß ich nicht.

Am meisten componirte ich zwischen meinem 8. und 18. Jahre, daß es jetzt immer langsamer geht, liegt in der wachsenden Selbstkritik, die mit wachsender Allgemeinbildung immer gesteigerter, immer genauer darüber wacht, daß ich nur producire, was ich muß, nicht was ich könnte.

Wie weit nun das, was man gemeinhin Technik nennt, von dem was man „Inspiration“ nennt, zu trennen ist, ist schwer zu sagen —, denn was oft Inspiration erscheint, ist auch nur ein Product einer Phantasie, die (natürlich auf Grund einer Reihe von physiologischen Voraussetzungen) mit den Artikeln arbeitet, die ihr langjährige Bildung, reich erfahrene Anschauung als Material zugebracht haben.

Man nennt Technik bei künstlerischer Production doch wohl „die Fähigkeit, Alles, was man an Empfindung und künstlerischer Phantasie in sich birgt, auch so ans Tageslicht zu bringen“ — also höchste Technik —, das reichste, am höchsten ausgebildete Sprachvermögen.

Ein solch „höchst ausgebildetes Sprachvermögen“ ist aber doch auch nur das Resultat eines außerordentlichen Ausdrucksbedürfnisses (eine gute fünfstimmige Fuge zu schreiben, ist doch kein Zeichen großer „Technik“, das gehört erst

unter die Rubrik der Handwerkergeschicklichkeit). (Wenn die Fuge nicht etwas „ausdrückt“, was über die „gute Führung der fünf Stimmen an sich“ hinaus ist.) Man wirft mir (da ich nun doch von mir reden soll) in Zunftkritiken des öfteren vor, daß ich eine kolossal entwickelte Orchestertechnik, reiche Polyphonie, kunstvolle neue Formgestaltungen in meinen Arbeiten biete, daß es aber mit der musikalischen „Erfindung“ (so ein beliebtes Wort bei den Hanslickianern) faul sei. Wenn ich also so neue Farben im Orchester „entdeckt“ haben soll, was wahrscheinlich gar nicht der Fall ist, aber nehmen wir es einmal an, so muß doch bei einem „Künstler unseres Schlags“ das Bedürfnis vorausgegangen sein, mit dieser „neuen Farbe“ etwas auszudrücken, was sich mit den alten Farben nicht sagen ließ —, wenn dies nicht der Fall ist, findet man nämlich diese sogenannten „neuen Farben“ gar nicht. Da heißt es: wer nicht sucht, der findet.

Zum Beispiel a) das Kyrie der H-moll-Messe von Bach (fünfstimmig) rechnet man gewöhnlich unter die „Kunst“-„Technik“;

b) eine achttaktige Walzermelodie von Schubert unter die „reine Erfindung“, Inspiration, Einfall.

Was das Volk leichter versteht, belohnt es mit dem Titel: „genial erfunden.“ Was es nicht capiert, ist: „kunstvolle Arbeit.“

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VüTenn man mir immer vorwirft, ich schreibe zu schwer, W zu complicirt — zum Teufel: noch einfacher kann ich's nicht ausdrücken und ich strebe nach möglichster Einfachheit, ein Streben nach Originalität gibt es bei einem wirklichen Künstler nicht. Was meine musikalische Ausdrucksweise oft überfeinert, rytmisch zu subtil reichhaltig erscheinen läßt, ist wahrscheinlich ein durch meine reiche Kenntnis der gesamten Literatur und große Erfahrung in Allem, was das Orchester betrifft, außerordentlich geläuterter „Geschmack“, der mir leicht als trivial, gewöhnlich, schon oft dagewesen und daher überfüssig, noch mal wiedergekaut zu werden, erscheinen läßt, was Anderen, nicht blos Laien noch als „höchst Modern“ (verfluchtes Wort) und dem 20. Jahrhundert angehörig vorkommt. Daß man sich ab und zu ein „Späßchen“ macht, um den Philister, der's zufällig vielleicht in die Hand nimmt oder anhören muß, ein bißchen zu ärgern, ist die Ausnahme. Gewöhnich ist es einem mit den Quinten, die man sich erlaubt, und den Dissonanzen, die man aufeinanderknallt, verdammter Ernst. — Davon genug. Um nun wieder auf die Art des Schaffens zurückzukommen, so möchte ich das unbewußte und bewußte Schaffen nach meinen Erfahrungen so trennen:

Zum Beispiel (Beispiele erläutern auch hier am besten).

Ich sitze Nachmittags in meinem Stuhl am Fenster und lese ein Capitel („Schopenhauer“ oder.^Nietzsche“) oder in einem Geschichtswerke — mitten im Lesen (das ist mir schon oft vorgekommen) treibt's mich ans Klavier, ich fange1 an zu spielen, in kurzem taucht eine ganze bestimmte Melodie

auf, also eine ganz bestimmte „Gestalt“ formt sich unter meinen Fingern.

Also Voraussetzung bei mir war wieder: eine melancholische Grundstimmung, oder Sehnsucht, Liebesbedürfnis und so weiter (also innere Voraussetzungen) oder (äußere Voraussetzungen) der Anblick eines Gewitters, eines friedlichen Abends im Hochgebirge, oder einsame Meeresküste und so weiter (oder was sonst als „den Künstler erregend“ gilt) — nein: nur mein sogenannter Intellect war beschäftigt, sich Nietzschesche Paradoxe kleinzuschlagen oder sich etwas Bewunderung für die „Willensverneinung“ abzuringen,

Das Erbe des Expressionismus

WÄHREND DIE WIENER FESTWOCHEN 1964 unter dem Motto „Anbruch unseres Jahrhunderts — Kunst und Kultur nach der Jahrhundertwende“ stehen, sind die Veranstaltungen des gleichzeitig stattfindenden XXVII. „Maggio Musicale Fiorentino“ dem europäischen Expressionismus gewidmet. Also im wesentlichen dem gleichen Zeitraum, nur wurde das Thema enger und konkreter gefaßt und wird systematischer illustriert. Mit dieser letzten großen gesamteuropäischen Bewegung hat sich die Forschung während der letzten Jahre wiederholt und gründlich beschäftigt. Das Interesse weiterer Kreise unter den Zeitgenossen mag die im Rowohlt-Verlag 1959 in Taschenbuchform neu herausgegebene klassische Lyrik-Anthologie des Expressionismus von Kurt Pinthus mit dem bezeichnenden Titel „Menschheitsdämmerung“ geweckt haben, jenes bedeutende und aufsehenerregende Sammelwerk, das im Herbst 1919 (mit dem Erscheinungsvermerk 1920) erstmalig herauskam, von dem bis zum Frühjahr 1922 20.000 Exemplare verkauft waren und das der Herausgeber auch in der neuesten Auflage unverändert ließ ...

MAN KANN IM EUROPÄISCHEN EXPRESSIONISMUS drei Phasen unterscheiden: die Zeit von etwa 1908 bis 1918, das Jahrzehnt darnach und, nach einer Unterbrechung, die von 1933 bis 1945 währte, eine dritte, noch unsere Gegenwart umfassende Phase, in der, vor allem auf dem Gebiet der Musik, die Gedanken und formalen Neuerungen des „alten Expressionismus“ weiterentwickelt werden. Dies aufzuzeigen war eines der Hauptanliegen des Florentiner Expressionismus-Festivals sowie speziell des wissenchaftlichen Studienkongresses. Beginnen wir mit dem letzteren.

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DA DER EXPRESSIONISMUS eine vornehmlich deutsche, zunächst jedenfalls von Deutschland und Österreich ausgehende geistige Bewegung ist, war auch der Anteil deutscher Vortragender und Referenten durchaus vorherrschend. Hier zeigte sich die wirklich europäische Gesinnung der Initiatoren und Veranstalter, die dieser „germanischen“ Geistes- und Kunstbewegung für zwei Monate Gastrecht gaben, sich gründlich mit dem Gegenstand befaßten und keine Mühe und Kosten scheuten, alles herbeizuschaffen, was von Wert und Bedeutung ist. — Der Kongreß dauerte vom 18. bis 23. Mai. In je zwei Sitzungen täglich wurden die folgenden Referate diskutiert: Musik (Rognoni, Stuckenschmidt, Rufer und Wörner), Oper (Willi Reich), Theater (Pförtner, Chiarini, Ihering), Literatur (Mittner, Martini, Heselhaus und Hans Mayer), Bildende Kunst (Brizio, Grohmann, Masciotta), Architektur (Ungers und Zevi), Tanz (Zivier und Millos), Film (Lotte Eisner und Francesco Savio). Im Palazzo Strozzi sah man die umfassendste und reichhaltigste Ausstellung expressionistischer Bilder, Graphiken und Architekturphotos, die je veranstaltet worden ist. Die Maler der „Brücke“, des „Blauen Reiters“, des „Bauhauses“ und viele Einzelgänger waren ebenso reichhaltig wie repräsentativ vertreten (von Nolde allein sah man in den mit vollendetem Geschmack adaptierten Räumen des Palazzo Strozzi 30 der besten Werke!). Diese Monsterausstellung wurde durch eine Schau expressionistischer Bühnenbilder und Inszenierungsphotos ergänzt. In der Nationalbibliothek gab es eine umfangreiche Dokumentarausstellung mit Leihgaben des Schiller-Nationalmuseums, Marbach. Gleichzeitig fand eine Woche des expressionistischen Films statt.

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VOM 2. MAI BIS ZUM 23. JUNI stehen die Konzerte und Opernaufführungen im Zeichen des Expressionismus (im Teatro Comunale von Florenz, wo die meisten Veranstaltungen stattfinden, gibt es im Foyer eine Ausstellung von insgesamt 83 Bildern und Zeichnungen Arnold Schönbergs, darunter, bezeichnenderweise, mehr als die Hälfte Selbstporträts — dos Ganze eine Leihgabe von Frau Gertrud Schönberg, die der Eröffnung dieser Ausstellung und einer Reihe von Konzerten persönlich beiwohnte). — Der Initiator und „Programmdirektor“ dieses Expressionisten-Maggios ist der bekannte Komponist, Musikkritiker und Kulturphilosoph Roman Vlad. Für das Musiktheater das uns hier besonders interessiert, weil das wienerische Programm im Hinblick auf das Motto unserer Festwochen überaus dürftig ist und sich auf die unumgänglichsten Richard-Strauss-Ehrungen beschränkt, hat man in Florenz die folgenden Werke inszenieren und spielen lassen: „Doktor Faust“ von Busoni, „Woz-zeck“ von Alban Berg (Besprechung in Nr. 22 der „Furche“), „Die Nase“ nach Gogol, ein Frühwerk von Schostakowitsch, „Salome“ von Strauss in der Originalsprache der Dichtung von Oscar Wilde, also französisch, inszeniert von Pis-cator, „Die glückliche Hand“ und „Erwartung“ von Schönberg, genau nach den Regieanweisungen und Szenenentwürfen Schönbergs, „Pantea“ von Malipiero als Erstaufführung, das berühmte Tanzdrama „Der grüne Tisch“ von Kurt Joos unter der Leitung von Kurt Joos durch das Folkwangballett, Essen; „Matka“ (Die Mutter) von Alois Häba in einem Gesamtgastspiel des Tschechischen Nationaltheaters, Prag; Bar-töks Ballett „Der wunderbare Mandarin“ und Dallapiccolas „Nachtflug“ nach St. Exupery, beide in der Inszenierung von Aurel von Millos. Nimmt man zu diesen Opern- und Ballettaufführungen noch die beiden Theaterstücke „Bürger Schip-pel“ von Sternheim (in deutscher Sprache von den Düsseldorfer Kammerspielen gegeben) und „Die Seeschlacht“ von Reinhard Goering (Gastspiel des Teatro Stabile von Bologna) hinzu, so muß auch der anspruchsvollste Kenner der Materie sagen, daß das Programm nicht besser und signifikanter hätte gestaltet werden können.

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DIE STADT FLORENZ kann sich auf diesen Maggio etwas zugute halten, auch wenn der Besuch einzelner Veranstaltungen zu wünschen übrig ließ. Bei uns geht man, speziell auf dem Gebiet des Musiktheaters, den bequemeren Weg unter dem Motto „Schöne Stimmen — schöne Weisen“. Das — trotz der extra erhöhten Preise — billige und geistlose, aufdringlich Kulinarische des Wiener ATusiktheater-berriebs kommt einem beim Vergleich mit dem, was da Fremde für Fremde tun, doppelt zum Bewußtsein.

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