6720519-1965_10_14.jpg
Digital In Arbeit

CHORMUSIK IN ÖSTERREICH

Werbung
Werbung
Werbung

Man gebt kaum zu weit, wenn man die Stellung eines Zeitalters zur Kunst des A-cappella-Ensemblesingens und der dafür geschriebenen Musik als Maßstab für die Höhe seiner Musikkultur betrachtet.“ Würde man diesen Satz Hindemiths auf die allgemeine derzeitige Situation des Chorsingens in Österreich anwenden, so hätten wir wahrlich nicht viel Grund, uns dieser Höhe unserer Musikkultur zu erfreuen. Das war schon deutlich offenbar geworden beim ersten europäischen Chorfest „Europa cantat“, zu dem im Jahre 1961 fünftausend Chorsänger aus siebzehn Nationen nach Passau gekommen waren, während Österreich dort mit den spärlichsten Beiträgen vertreten war. Genau das gleiche Bild offenbarte das vorjährige „Europa cantat II“ in Nevers/ Frankreich, wo Deutschland mit mehr als einem Dutzend hervorragender Chorgemeinschaften und selbst die kleine Schweiz mit vier Chören noch repräsentativ vertreten war, Österreich hingegen nur mit der über die eigenen Grenzen hinaus kaum bekannten Wiener Singgemeinschaft eine bescheidene Statistenrolle spielte. Es sind auch kaum Anzeichen dafür vorhanden, daß hierin bald ein Wandel zu erwarten ist. In der „Föderation Europeenne des Chorales“, in der sich zukunftsbewußte Chorgemeinschaften in großer Zahl vereinigt haben, zählt Österreich gar nicht. Gewiß nicht nur ein Symptom am Rand, denn es darf uns nicht verborgen bleiben, daß — trotz der zweifellosen Güte eines Wiener Kammerchors, des großartigen Kammerchors des Linzer Bruckner-Konservatoriums, des Grazer Domchors oder des Klagenfurter Madrigalchors zum Beispiel — das Laienchorsingen keinesfalls die im Durchschnitt sicher beachtliche Musikalität der Österreicher widerspiegelt. Wohl gibt es hierzulande Gesangvereine in fast jedem Ort, Liedertafeln, Kirchenchöre und vieles mehr. Aber viel gesungen ist noch lange nicht gut gesungen.

Vielleicht ist es grundsätzlich notwendig, aufzuzeigen, was denn eigentlich gutes Chorsingen sei, um so etwas wie ein Vokabularium für die Terminologie zu schaffen. „Sage mir, was du singst, und ich sage dir, was dein Chor taugt!“ Mit dieser Abwandlung aus dem Literarischen sei auf die elementare Bedeutung der Chorliteratur hingewiesen, auf die es zuallererst ankommen muß. Die Chorliteratur ist das Alpha und Omega in vielerlei Hinsicht. Zuvorderst ist sie Prüfstein für den Chorleiter, Prüfstein dafür, was er kann und kennt, für Geschmack und stilistisches Empfinden, für seine pädagogischen Fähigkeiten und für seine Unabhängigkeit. Denn wer „Sangräte“ braucht, mag dem Verein ein guter Diener sein, als Chorleiter hingegen pädagogisch und künstlerisch über den Dingen stehen, wird er kaum. Ganz sicher ist auch, daß jenem Chor, der ein schlichtes Volkslied, das womöglich als melodisches Element eine der alten Kirchentonarten zugrunde liegen hat, in einem mit schwulstigen chromatischen Harmonien versehenen Satz singt, die Welt Palestrinas oder Hugo Distlers unzugänglich ist. Der Schwierigkeitsgrad der Literatur kann selbstverständlich auch kein entscheidendes Kriterium sein. Ein Volksliedchor etwa, der mit feinem Stilempflnden singt und wählt, muß unbedingt höher eingeschätzt werden als eine schlechte Liedertafel, deren Ehrgeiz im falschen Bewußtsein „hohe Kultur“ treiben zu müssen, selbst vor den Gipfelwerken der Oratorienliteratur nicht zurückschreckt. Daß Schütz-Motetten, Monteverdi-Madrigale oder Hindemith-Chorwerke auf Grund ihrer komplizierten Struktur einer beliebigen Chorgemeinschaft nicht möglich sind, liegt in der Natur der Sache; ja es zeugt sogar von pädagogischer Fähigkeit, wenn die Wahl dafür auf leichte Madrigale oder vielleicht einfache polyphone Liedsätze fällt. Schließlich ist es eine unabdingbare Voraussetzung für einen guten Chor, daß er an der Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, jener Blütezeit des chorischen Singens, ebensowenig achtlos vorbeigeht wie an den Chorschöpfungen unserer Zeit, denn — über die Grenzen Österreichs hinausgeschaut — der schöpferische Ausdruck unserer Zeit liegt zu einem beachtlichen Teil im Chorschaffen!

Auf dem Studierprogramm des bereits eingangs erwähnten „Europa cantat II“ in Nivers fanden sich zum Beispiel ganz selbstverständlich neben Bachs „Magnificat“ und „Johannespassion“, neben den doppelchörigen Werken der Schütz- und Vivadi-Zeit Orffs „Carmina Burana“, Strawins-kys „Les Noces“ oder Brittens „The Turn of the Screw“. Den europäischen Chorstandard — wir sprechen hier nur von Laienchören! — lassen allein schon diese wenigen Beispiele ahnen. Von dem genialen Guillaume Dufay (geb. um 1400) stand die Messe „Se la face“ auf dem Programm, darüber hinaus Josquin de Pres, Obrecht, Jannequin, Dunstable und andere mehr, was deshalb Erwähnung verdient, weil in vielen Chorkreisen bei uns selbst diese berühmten Vertreter der frühen Mehrstimmigkeit oft nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Wer um die Schönheit ihrer Musik weiß, der ist sich bewußt, was hier an Kostbarkeiten ungenützt bleibt. Der Vorstoß „zurück“ in diese Epoche auf breiter Basis ist für jeden, der sich einmal hineingehört hat in die klingende Welt der Gotik und Frührenaissance, eine beglückende Entdeckung. Dieser Vorstoß aber kostet nicht weniger Einsatz und Courage als das zielbewußte Eintreten für eine gute Gegenwartsmusik, zumal letztere bei weitem nicht jene stilistischen Probleme aufwirft wie die frühe Mehrstimmigkeit, die dafür technisch jedem guten Laienchor zumutbar ist. Während der Orchestermusiker in der Regel bei seiner Literaturwahl frühestens mit dem Barock beginnen kann, stehen dem Chorsänger sämtliche Epochen von der Ein- über die frühe Mehrstimmigkeit biß herauf in die Gegenwart offen, ohne daß er sich dazu alter oder moderner Instrumente bedienen muß. Das gemischte instrumental-vokale Musizieren sollte freilich auch nicht vergessen werden.

Nach der primären Vokabel „Chorliteratur“ seien die anderen zumindest kurz erwähnt. Da ist das um und auf der Proben. Biertisch und Chorproben sind auf die Dauer unvereinbar. Jede ernste Arbeit wird unter der oberflächlichen Biertischgeselligkeit leiden. Und — im wesentlichen werden andere Leute zur Chorprobe kommen, findet diese in der Schule, im Pfarrheim oder sonst wo immer statt. Vielleicht weniger aber solche, die nur des Singens wegen kommen. Welch ungleich positivere Voraussetzungen für den Chorleiter! Auch ein Kapitel wert: der Verein. Man soll ihm in vielen Fällen seine Berechtigung nicht absprechen, aber — ganz davon abgesehen, daß es ohne Statuten und Hauptversammlungen auch geht — wenn die Vereinsmeierei dominiert, kommt die kulturelle Arbeit ins Hintertreffen. Wenn vom ersten, zweiten und dritten Obmann bis zu den Sangräten, Fahnenjunkern, Schriftführern und Kassieren jeder mitdiktiert, wird der wichtigste Mann, der Chorleiter, zumindest eingeschränkt sein. Nicht selten steht der fähigste Mann dann gar nicht an der Spitze, weil er mit seinen künstlerisch-pädagogischen Ansichten im Widerspruch zu den anderen steht und daher bei der „Funktionärswahl“ zu kurz kommt. Auch die Jugend, die ja des Singens wegen und selbstverständlich gleichberechtigt mitmachen möchte, sperrt man mit der übertriebenen Vereinsmeierei in Ehren ergrauter Funktionäre aus. Unsere Chöre leiden ohnedies an einer chronischen Uberalterung. In einem gutgeführten Gesangverein wird zuallererst ein tüchtiger Chorleiter die absolute Autorität innehaben. Noch ein Wort zur Gemeinschaft. Sie ist eine wichtige Voraussetzung für fruchtbares gemeinsames Arbeiten. Rangordnungen nach Alter und Funktion darf es dabei nicht geben, ebensowenig wie soziale Unterschiede. Der natürlichste Organismus einer echten Chorgemeinschaft wird eben aus dem gemeinsamen Singerlebnis heraus die elementare Kraft auch für die menschliche Gemeinschaft beziehen. Im Bewußtsein des einzelnen um die Bedeutung seines Beitrages für dieses Ganzheitserlebnis wird sich dann in letzter Konsequenz der schöne Sinnspruch erfüllen: „Wer die Gemeinschaft hält, den hält die Gemeinschaft.“

In Österreich ißt der weitaus größte Teil der Chorgesang Ausübenden in Gesangsvereinen und Liedertafeln organisiert. Die Zahl jener Vereine, die dabei das Niveau der gegenwärtigen europäischen Laienchorbewegung erreicht, ist jedoch leider klein. Daran ist vielfach einmal die schon im vorigen Absatz genannte Vereinsmeierei schuld, nicht selten hört man noch in dicken Chorsätzen „die alten Eichen rauschen“ oder wird durch unechte „Heimattümelei“ der Gedanke echter Volkstumsarbeit peinlich verzerrt. Daß die Notenarchive einer gründlichen Revision bedürfen, soll nicht unerwähnt bleiben. Die zur Gründerzeit auf Grund ihrer künstlerischen Realität besonders hoch im Ansehen standen, die Liedertafeln, haben leider auch zu einem guten Anteil einen bedauerlichen Niedergang erfahren. Es ist die Liedertafelei daraus geworden, oft spießbürgerliche Cliquen auf Wirtshausebene. — All diese Umstände können nur dann zum Besseren gewendet werden, wenn einmal mit gründlicher Schulungstätigkeit, vor allem für Chorleiter, auf breiter Basis durch namhafte Chorfachleute begonnen würde. Kärnten hat da einen verheißungsvollen Anfang gemacht. Dort werden jährlich hunderte von Chorleitern in Singleiterwochen am Turnersee gründlich geschult: der Erfolg rechtfertigt jeden Einsatz. Man vergesse nicht, wieviel tausend Idealisten in den österreichischen Vereinen tätig sind. Intensive Schulungsförderung wäre eine wichtige volkskulturelle Aufgabe.

Der Kirchenchor fristet hierzulande ein wahres Kümmerdasein. Einst musikkultureller Faktor bis hinaus ins kleinste österreichische Dorf, ist er heute gar oft kaum für mehr in der Lage, als in der Betsingmesse dem Gemeindegesang schlecht und recht auf die Füße zu helfen. Es fehlen die Leute, die sich Sonntag für Sonntag dem Kirchenchor zur Verfügung halten wollen, es fehlt häufig am Verständnis des Pfarrherrn, dem sein Kirchenchor wertvolles Anliegen sein sollte, und gar oft fehlt der versierte Regenschori. Und was man in den Notenschränken unserer Kirchenchöre heute noch an verstaubten Messen und schmalzigen Liedern finden kann, gibt zu denken. Zu glauben, Sonntag für Sonntag eine Messe aufführen zu müssen, ist ebenso falsch wie das Bestreben, es müsse möglichst immer eine vierstimmige lateinische Orgelmissa sein. Gerade Österreich hat eine Reihe bedeutender Gegenwartskomponisten, die ausgezeichnete saubere und einfache deutsche Messen, Motetten und Lieder schreiben. Ich möchte hier nur Josef und Hermann Kronsteiner, J. F. Doppelbauer, Ernst Tittel, Anton Heiller für andere mehr nennen. Die überragende Bedeutung des Cantus Romanus, des Gregorianischen Chorals — auch als Grundlage allen mehrstimmigen Singens! — ist in unseren Kirchenchören noch lange nicht zum Durchbruch gekommen. Und warum nicht ab und zu eine A-capella-Messe? Palestrina müßte sakrales Allgemeingut sein. Wenigstens zu den höchsten kirchlichen Festen sollte man sich seiner erinnern, statt daß man mit der Aufführung einer viel zu schwierigen Mozart-Orchester-Messe mit unzulänglichen Mitteln dem Werk und seinem Meister einen schlechten Dienst erweist. — Werkwochen für Kirchenmusik und die an den österreichischen Musikakademien eingerichteten Kirchenmusikseminare lassen zumindest auf lange Sicht die dringend notwendige Reform erhoffen. In stärkerem Ausmaß müßten jedoch auch die Diözesen dem kirchenmusikalischen Geschehen ihre Aufmerksamkeit und Förderung zuteil werden lassen.

Die Schulchöre sind, soferne sie es nicht bei der einen kärglichen Wochenstunde im Unterricht bewenden lassen, ein — wie es Landesbewerbe und Bundesjugendsingen beweisen — erfreuliches Signum dafür, daß der Boden letztlich doch noch fruchtbar ist. Wenn so vieles mit dem Schulaustritt zu Ende ist, so müssen wir uns selbst die berechtigten Vorwürfe machen. Der Jugendchöre sind nämlich auffallend wenige. — Singgemeinschaft, A-cappella-Chor, Madrigal- oder gar Motettenchor, Kammerchor usw. sind nur eine kleine Elite in Österreich. Das führt an den Anfang dieses Aufsatzes zurück. Die Chorbewegung ist noch kein Begriff bei uns, wo sie sich in der Diaspora befindet, ähnlich jenen Instrumentalkreisen, die den Schritt auch in die vorbachsche Zeit zurücktun.

Will das österreichische Chorelement einmal herangeführt werden an den europäischen Standard, so muß einiges aktiviert werden, das — Ausnahmen bestätigen die Regel — ganz einfach fehlt: die Singschule, das obligate Chorsingen in der Jugendmusikschule, in der Schule (es ist heute noch nicht einmal an allen Musikakademien obligat, von den Musikschulen ganz zu schweigen!), die Kantorei, der Singkreis, Jugendchor, die Vielfalt von Madrigal- bis Oratorienchor und nicht zu vergessen, das „Offene Singen“. Eine unabdingbare Forderung in diesem Zusammenhang ist die nach einer gründlichen Chorleiterschulung. In der Chorliteratur müßte endlich einmal der unermeßliche Schatz der vor-bachschen Ära Allgemeingut werden. „Musik der Vergangenheit, die unserem Bewußtsein nahesteht“, bezeichnet Hinde-mith sie und meint damit die Musik von Perotin, also ab dem 13. Jahrhundert, bis Bach; die Niederländer, Orlando die Lasso, Palestrina, Schütz, Monteverdi, Haßler, Isaak, Praetorius oder die viel zu wenig bekannten österreichischen Meister Hofhaymer, Paul Peuerl, Johann Josef Fux und viele mehr repräsentieren Epochen unerreichter Chormusik. Eine dankbare Aufgabe zum Beispiel für Männerchöre: sich der wertvollen Werke Michael Haydns anzunehmen! — Geradezu unerläßlich aber ist es dazu, auch dem chorischen Gegenwartsschaffen größte Aufmerksamkeit zu schenken. In Frankreich, England und Deutschland zum Beispiel hat sich retrospektive mit dem Aufschwung des Ohorsingens das kompositorische Schaffen in großartiger Weise der Chormusik zugewendet: Messiaen, Britten, Distler, Hindemith, Orff, Bergese, um nur einige zu nennen, sprechen für den beachtlichen Einfluß auf das Musikschaffen. Dieses Schaffen im Sinne der Alten und doch aus neuem Bewußtsein hat ein wichtiges Moment ausgelöst, nämlich die Aktivierung der Musikwissenschaft und in der Folge neue Impulse für die Musikverlage, so daß uns heute Einzel- und Gesamtausgaben eines Dufay, Josquin, Hofhaymer, Purcell usw. vorliegen. Verlagen wie Breitkopf, Möseler, Schott, Bärenreiter haben wir nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Dagegen wird das zeitgenössische Schaffen von österreichischen Verlagen planmäßig gefördert. Besonders sei auf die „Blätter für gemischten Chor“ bei Doblinger hingewiesen, die bisher rund 350 Nummern umfassen, und Namen wie Burkhart, Bauernfeind, Doppelbauer, Haselböck, Heiller, Sdhollum, Siegl, Tittel u. a. aufweisen. — Eine Reihe größerer moderner Chorwerke ist in der Universal-Edition, Wien, erschienen.

Es wäre denkbar und zu wünschen, daß aus der Internationalen Chormusikwoche, wie sie 1963 erstmalig in Graz veranstaltet wurde, oder aus dem im Vorjahr erfolgreich aus der Taufe gehobenen Internationalen Chorwettbewerb in Spittal an der Drau, neue Kräfte keimen. Chor-musik ist wie keine andere Disziplin in der Musik dem Laien zugänglich. Welcher Wert liegt allein in diesem möglichen Weg zur Musik! Ist es nicht bezeichnend, daß in der Blütezeit des Laienmusizierens (15./16. Jahrhundert) die Trennung zwischen „Kenner“ und „Liebhaber“ bei weitem nicht so scharf war wie etwa im 18./19. Jahrhundert und gar in unserer Zeit? Der heilige Augustinus aber, der ja in der Hauptsache von der Vokalmusik als Grundlage seines theore- • tischen Werkes „De musica“ ausgehen mußte, zeigt uns den eigentlichen Gewinn mit dem Gleichnis „Die Freude, das Gewicht der Seele“. Und diese augustinische Erkenntnis mag allzeit Gültigkeit haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung