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Geistige Aspekte der neuen Musik

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UNTER DEM TITEL „lieber einige Tendenzen der modernen Musik" hat H. H. Stucken- schmidt vor kurzem eine Liste jener Sprachbereicherungen zusammengestellt, welche den Stil der zeitgenössischen Musik bestimmen:

Freie und gebundene Atonalität;

Rückbesinnung aut Kirchentöne:

Anknüpfung an „stehengebliebene“ Volksliedformen;

Neue rhythmische Verfahren;

Einbeziehung der Klangfarbe als formendes Element;

Gestaltung der Dynamik;

Instrumentaltechnik jenseits der Menschenkraft;

Geräuschorganisation.

PRÜFT MAN NACH DIESEM KATALOG die während des 8. Internationalen Musikfestes in Wien aufgeführten Kompositionen, so wird man finden, daß nur einige wenige zum „Neuesten" gehören — das bekanntlich nicht immer auch zugleich das Ėeste zu sein braucht. Dagegen sind wir mehreren Werken begegnet, die, durch ihre geistige Haltung hervorragend, unsere Aufmerksamkeit verdienen und von denen man sagen könnte, daß sie „suaviter in modo, sed fortiter in re“ gewirkt haben. — Doch zuerst müssen wir jenen Musiker erwähnen, von dem alle wesentlichen Erneuerungen ausgegangen sind und der als der eigentliche Vater der zeitgenössische Musik angesehen werden muß: Claude Debussy. Es war daher sinnvoll, daß während des Musikfestes drei seiner Hauptwerke („Iberia". „Nocturnes“ und „La Mer“) aufgeführt wurden. Bartök, Strawinsky und viele andere haben sich in Wort und Werk zu ihm bekannt.

DEBIISSYS Musik ist ganz diesseitig, sie ist völlig unphilosophisch und unmetaphysisch. Bartök und Strawinsky sind sowohl der elementaren als auch der spirituellen Sphäre näher. Sie verlassen die untere nie ganz, sie kräftigen sich aus ihr, dem Antäus gleich, dringen aber mit ihren Spätwerken immer höher in die obere vor. Hier sind alle Kräfte ausbalanciert, das Elementare ist vergeistigt, die Voraussetzungen für eine neue Klassizität und für eine neue Sakralmusik sind gegeben.

FREILICH ENTSTEHT die letztere noch nicht daraus allein. Sakralmusik setzt eine innere Einstellung, ein Bekenntnis voraus, wie wir es aus Strawinskys „Psalmensymphonie“, seiner „Mes- . se“ und dem „Canticum sacrum“ heraushören. Dem stilistischen Vorbild dieser Werke folgt, bewußt oder unbewußt, der in Paris lebende Russe Nicolas Nabokov, der, wie man weiß, ein Freund und Verehrer Strawinskys ist. Er verwendet als Texte seiner Kantate „Symboli chre- stiani“ älteste Inschriften, die kürzlich bei Ausgrabungen unter dem Petersdom gefunden wurden, Zitate aus dem hl. Ambrosius und ein Gedicht des Lactantius, einem der ersten christlich-römischen Dichter. Darin erscheinen der Anker als Symbol der Hoffnung, die Taube als das des Friedens und der Phönix als Symbol der Auferstehung. Der Autor bezeichnet sein Werk bescheidenerweise als „nichtkirchlich" und widmet es jener Bewegung, die ihm die gewaltigste in der Geschichte erscheint: dem präkonstan- tinischen Christentum.

AUCH JOHANN NEPOMUK DAVID hat sein „Requiem chorale" nicht für den Gottesdienst geschrieben, „wohl aber für den gottesdienstlichen Raum“. Eine etwas unklare Unterscheidung, die durch den weiteren Selbstkommentar des Komponisten nicht deutlicher wird: „Daß trotz liturgisch-musikalischer Vorlage die Einordnung der Musik in das gottesdienstliche Geschehen nicht vorgesehen ist, liegt in der Absicht, an Hand des Textes eine Kathedralkunst erstehen zu lassen, die in Ordnung eines Mysterienspieles gedacht ist." Dieser Satz bedürfte seinerseits des Kommentars. Halten wir uns daher lieber an die bedeutende und ernste Musik, die David geschrieben hat und der wir im Konzertsaal gerne wiederbegegnen möchten.

DEN TEXT ZU SEINEM ORATORIUM „Wagadus Untergang durch die Eitelkeit“ fand Wladimir Vogel im Heldenbuch der Rifkabylen, das von Leo Frobenius herausgegeben wurde. Wagadu — das ist die viermal verlorene und immer wieder aufgebaute Märchenstadt. Eitelkeit, Treubruch, Habgier und Zwietracht — exemplarische Laster — verursachten Fall und Zerstörung. Vom Königssohn Gassire handelt die erste Episode. Er verliert durch einen aus Eitelkeit begonnenen Krieg nicht nur sein Land, sondern auch acht Söhne. „Mich fesselte“, so kommentiert der Komponist sein Werk, „die Großartigkeit des Sujets, des primitiven, aber menschlich und psychologisch tief ergreifenden Textes: die Wandlungen eines siegreichen, den Kämpfen zugewandten Kriegers aus dem Stamm der Fasa zu einem Barden, durch Leid und Opfer, die ihm die innere Welt des Schöpferischen erschließen und ihm die künstlerische Aussage ermöglichen.“

ZUM MUSIKTHEATER UNSERER ZEIT hat Carl Orff Wesentliches beigetragen. In der „Klugen" und im „Mond" werden Gestalten des deutschen Märchens auf die Bühne gestellt. In den „Trionfi“ ist Orff auf dem Weg zurück zu den Ursprüngen der abendländischen Kultur. „Carmina burana“ beschwören die mittelalter- liöhe Vaganfenpoesie mit Ihrer meikwürdigeh Verquickung von Weltlichem und Geistlichem (das letztere ist darin als „Parodie“ angelegt): „Catulli Carmina“ und„Trionfo di Afrodite“ sind der antiken Welt (der römischen und der griechischen) zugeordnet. „Antigonae“ vertonte Orff in der (unveränderten) Hölderlinschen Uebertra- gung. Aber in diesem Werk berührt er eine neue Sphäre. Den gleichen Stoff hat vor ihm Cocteau für Arthur Honegger gestaltet. Auch an die Umformungen durch Walter Hasenclever und Anouilh sei erinnert. — Immer wieder ist die Heldin des sophokleischen Trauerspiels als „vorchristliche" Gestalt interpretiert worden: sie duldet das Gesetz der Götter auch in seiner menschlichen Verzerrung, in ihr lebt die Schicksalsfrömmigkeit der Griechen (H. Ruppel). Nicht zu hassen, sondern zu lieben ist sie da, und vor ihrem letzten Weg spricht sie die von Hoffnung verklärten Worte:

„Doch komm ich an,

so nähr ich das mit Hoffnung gar sehr,

daß lieb ich kommen werde für den Vater.

Auch dir Heb, meine Mutter! Lieb auch dir, du brüderliches Haupt.“

Und sie schließt mit einer fast christlichen Geste der Versöhnung:

„Wenn aber diese fehlen,

so mögen sie nicht größer Unglück leiden als sie bewirkten offenbar an mir."

„DIE KRISE DER OPER, ist vor allem eine Krise des Librettos“, sagte beim Internationalen Musikkongreß in Rom der Komponist Rolf Liebermann. „Während die Opernkomponisten vergangener Jahrhunderte sich oft mit den Interessen und Anliegen ihrer Zeit auseinandeę- setzten, ja sogar mit der aktuellen Politik (Figaro, Sizilianische Vesper, Fidelio u. a.), weicht die moderne Oper gerade diesen Problemen aus und retiriert sich vorsichtig auf den gesicherten Boden klassischer und romantischer Dramen und Stoffe.“ Brecht sagt es noch deutlicher: sie habe sich längst ins „Kulinarische“ zurückgezogen. Die Produktion paßt sich dem vorhandenen Apparat an, und nicht umgekehrt. So bekommt die Oper Warencharakter. Die Oper alten Stils, wie sie im Werk Wagners und Richard Straussens gipfelt, ist dramatisch, sie verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion, ermöglicht Gefühle, vermittelt Erlebnisse, arbeitet mit Suggestion und wirkt vor allem affektiv. Das neue, epische Musiktheater ist erzählend, macht den Zuschauer zum objektiven Betrachter, will von ihm sittliche Entscheidungen, vermittelt ein Weltbild, arbeitet mit Argumenten und appelliert mehr an die Ratio. — Brecht und Weill schufen einige Schulbeispiele dieser Gattung. Den Text zu. „Die Bürgschaft" schrieb für Kurt Weill Caspar Neher, ganz in den Fußstapfen seines Vorgängers wandelnd.' Ob episches Musiktheater oder moderne Oper: ihre Schöpfer sind sich darüber einig, daß die Gattung lebt, daß sie aber nicht der „Erneuerung“ der alten Klischees bedarf, sondern wirklicher Neuerungen. Gottfried von Einem hat dies sogar an Hand eines älteren Textes (aber was für eines Buches freilich!) erwiesen. Für seinen „Danton" fordert er einen adäquaten Aufführungsstil: Verzicht auf die Illusionsbühne, die überpersönliche Schau. Auch der erfolgreiche englische Opernkomponist Benjamin Britten redet ausdrücklich der Stilisierung das Wort: „Die Oper ist eine Kunst, sie soll künstlich sein!“ Die Erfolge gerade dieser beiden jüngeren Autoren (Einem und Britten) erweisen, daß die Tendenzen innerhalb der modernen Opernproduktion in Uebereinstimmung mit den positiven geistigen Tendenzen unserer Zeit sind. Und darauf kommt es an.

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